• Warum die Wahl von Ernst-Koch Watson-Brawn durch den Gault&Millau ein Fehler ist
    https://www.berliner-zeitung.de/mensch-metropole/berlin-food-restaurant-michelin-warum-die-wahl-von-ernst-koch-watso

    20.6.2022 von Jesko zu Dohna - Dylan Watson-Brawn ist der beste Koch Deutschlands – so sieht es jedenfalls der Gault&Millau. Der renommierte Gastronomieführer wählte den jungen kanadischen Koch (Jahrgang 1993), der im derzeit wohl angesagtesten Restaurant Ernst in Berlin-Wedding kocht, zum „Koch des Jahres“. Googelt man den jungen Koch und klickt auf Bilder, dann trifft der Suchende auf einen schmächtigen, nachdenklichen und empfindsamen jungen Mann, der fast ein wenig grimmig und träumerisch in die Kamera schaut. Warum so ernst? Und sieht so ein Genussmensch aus? Fragt sich der Betrachter. Wir würden ihn so gerne lächeln sehen, schließlich gibt es doch allerhand Anlass zur Freude.

    Scrollt man durch den Instagram-Account von Watson-Brawn (aktuell noch 9144 Follower), findet man viele Produktfotos und reichlich dräge Porträts. Ein Lächeln? Fehlanzeige. Erst beim 24. Oktober 2016 werden wir fündig. Auf dem verpixelten Bild ist auch Nobelhart&Schmutzig-Wirt Billy Wagner zu sehen, der bis vor Kurzem noch als Berlins coolster gastronomischer Lokalmatador galt. Und tatsächlich, auf dem Selfie mit der Überschrift „super serious guys“ ringt sich der damals 23-jährige (und noch total unbescholtene) Watson-Brawn zu einem stolzen Lächeln durch. Damals war Billy der Star.

    Von eben diesem Billy Wagner scheint Watson-Brawn viel gelernt zu haben. Hyperregional und supersaisonal, brutale Handwerkskunst, so lassen sich salopp beide Küchen umschreiben. Auch die Wahl des jeweiligen Domizils weist erstaunliche Parallelen auf. Billy Wagners Restaurant residiert neben der Polizeidirektion 5, Abschnitt 53, am unteren, schmuddeligen Ende der Friedrichstraße, in guter Gesellschaft von Spielhallen, dem Eck Imbiss und der Agentur für Arbeit. Das Restaurant Ernst residiert nicht am Kurfürstendamm, sondern im quirligen, einkommensschwachen und durch einen hohen Shishabar-Anteil geprägten Wedding.

    Dabei können sich nur wenige der unmittelbaren Nachbarn beider Lokalitäten die Preise der mehrgängigen Menüs und der Getränke (Wein ist heute im Selbstverständnis der jungen Köche nicht mehr zwangsläufig die beste Begleitung) leisten. Der Gast weiß auch gar nicht so genau, was er bekommt. Findet man denn vorab eine Speisekarte, ist diese nur ein „Beispiel, tägliche Änderungen sind möglich“. Logisch, hypersaisonal. Für das Ernst fanden wir gar keine Beispiel-Speisekarte. Und trotzdem pilgern die Gründer und Unternehmensberater der neuen Mitte Berlins, Verbandspräsidenten aus Charlottenburg und Mitarbeiter von Agenturen, die Berlin für ein Gesamtkunstwerk halten, in diese Restaurants wie strenggläubige Katholiken nach Lourdes.

    Wir kommen ab vom Thema. Die Frage ist doch nur: Ist Dylan Watson-Brawn wirklich Deutschlands bester Koch? Und seine Küche so einzigartig? Der Gault&Millau jedenfalls scheint sich in seiner Begründung für die Auszeichnung an die Sprache der reduziert intellektuellen Nachdenklichkeit des Restaurants Ernst anzupassen. Im Wortlaut schreibt der Gault&Millau, bitte tief Luft holen: „Im Zentrum stehen Mikrosaisonalität, japanische Techniken und Geschmacksbilder, kompromisslose Sorgfalt bei der Produktqualität, eine reduzierte Ästhetik und konstante Dynamik. Dylan Watson-Brawns Küche ist von aquarellartiger Zartheit und zugleich großer Substanz, von wegweisender Eigenständigkeit und technischer Souveränität. Sie besitzt, was in der Spitzenküche nach wie vor eine Rarität ist: eine klare, unverwechselbare Vision.“

    Wow, die Verfasser müssen sich beim Aufschreiben dieser Zeilen wohl gefühlt haben wie Thomas Mann im Sommerurlaub 1924 an der Kurischen Nehrung. Und doch lassen die Zeilen den Leser ratlos zurück. Wie die Schriften Theodor W. Adornos oder ein sperriger Museumstext. Man hat viel gelesen und doch kaum etwas verstanden. Übersetzt man den Text, ist das alles nichts Neues. Hervorragende regionale Produkte und exzellentes und fundiertes Handwerk. Gute Produkte sind nun einmal saisonal, ob sie regional sind, das entscheidet der Koch. Über das Handwerk entscheidet das Ergebnis. Dahinter stehen viele Jahre Erfahrung und oft auch Talent.

    Dass eine so stark reduzierte Produktküche, wie sie im Ernst geboten wird, derart gefeiert wird, muss einen nicht zornig machen, aber darf einen schon nerven. Warum? Weil dieses Konzept der Berliner Möchtegern-Avantgarde doch nichts Neues ist. Schließlich propagierten bereits Köche wie Brillat-Savarin, Fernand Point und der späte Paul Bocuse eine reduzierte und produktorientierte Küche. Brillat-Savarin schreibt 1825: „Ist der Hase in den Ebenen um Paris geschossen, so gibt er einen viel geringeren Gang, als wenn er auf den warmen Hängen des Romeytales oder in der oberen Dauphiné geboren war.“

    Das ganze Konzept wird heute im Ernst lediglich repliziert und nochmals weiter reduziert. Alter Wein in neuen Schläuchen? Wir haben nichts gegen die Geschmacksintensität und -bilder der Gerichte selbst. Und doch fehlt etwas in den reduzierten Berliner Küchentempeln: der Spaß, der Humor, der Genuss und das Wohlfühlen. Wo bleibt das wohlige Völlegefühl? Das Gefühl des kontrollierten Über-die-Stränge-Schlagens?

    Was ist der Mehrwert dieses asketischen Genusses? Man will doch einmal richtig reinhauen. Erfahrene Gourmets meiden viele kleine Gänge, heutzutage ist wieder Soulfood und nachvollziehbares Essen angesagt. Mit hervorragenden Produkten und exzellentem Handwerk, das versteht sich von selbst. An einem guten Teller Tortellini alla Panna braucht man nicht mehr viel zu ändern. Hier zählen Handwerk und Produktgüte, nicht ungestüme Innovation. Welchen Prozessen die Lebensmittel ausgesetzt waren, die auf den Teller kommen, danach kräht im Jahr 2022 kein Hahn mehr. Und kräht er noch danach, liebe Gault&Millau-Redaktion, so findet er doch immer weniger Hörer.

    #Berlin #Wedding #Gerichtstraße #Gastronomie #Tourismus #Essen

  • Koch des Jahres kommt aus Berlin
    https://m.tagesspiegel.de/genuss/neuer-gault-und-millau-erschienen-koch-des-jahres-kommt-aus-berlin/28439528.html

    20.6.2022 von Bernd Matthies - Das Ernst ist das kleinste Restaurant der Stadt, der Chef Dylan Watson Koch des Jahres. Nicht die einzige Überraschung des neuen Gastroguides.

    Dylan Watson-Brawn, Mitgründer und Küchenchef des Weddinger Restaurants „Ernst“, ist vom Restaurantguide Gault&Millau zum deutschen „Koch des Jahres“ gekürt worden. Die am Montag nach längerer Pause erschienene neue 2022er Ausgabe des Führers rühmt, seine Küche sei „von aquarellartiger Zartheit und zugleich großer Substanz, von wegweisender Eigenständigkeit und technischer Souveränität“.
    Watson-Brawn, ein 28-jähriger gebürtiger Kanadier, ist von der japanischen Stilistik geprägt, setzt deren Prinzipien aber mit überwiegend europäischen Produkten oft spontan aus dem täglichen Angebot um. Grundlage der Ernst-Küche sind kleine, minimalistisch angerichtete Gerichte, mindestens 30 pro Menü.

    Feldforschung: Das Team vom Ernst leistet Basisarbeit in Sachen Geschmack. Stets im Zentrum: die Produkte und ihre optimale Zubereitung. Foto: Marian Lenhard
    Feldforschung: Das Team vom Ernst leistet Basisarbeit in Sachen Geschmack. Stets im Zentrum: die Produkte und ihre optimale Zubereitung. © Marian Lenhard

    Typisch sind Gerichte wie gegrillter Schwarzkohl mit Butter und Austernwasser, dehydriertes Kürbispüree mit Forellenrogen oder lackierter Seeteufel mit schwarzem Knoblauch und Sansho-Pfeffer. Das Restaurant in der Gerichtstraße hat nur acht Plätze, das Menü kostet 225 Euro.
    Wer sonst noch absahnt

    Der Titel bedeutet allerdings nicht, dass der Guide Watson-Brawn zum besten Berliner Koch ernannt hätte. Diesen Titel hält Tim Raue, der sich mit seinem Kreuzberger Stammhaus als einziger Berliner in die Fünf-Mützen-Kategorie kochen konnte; drüber gibt es nur die Fünf-plus-Gruppe mit drei deutschen Restaurants – früher 19,5 Punkte. Das alte System mit bis zu 20 Punkten wurde aber abgeschafft; es gibt nun nur noch Kochmützen, eine bis maximal fünf, allerdings außerdem halbe Plus- Stufen, was faktisch übersichtlicher wirkt, inhaltlich aber kaum etwas ändert.
    Es folgen das „Rutz Restaurant“ mit viereinhalb und Facil und Horvath mit vier Mützen, dann kommt die Drei-Mützen-plus-Kategorie, in die das „Ernst“ eingestuft wurde, zusammen mit „Coda“ und „Tulus Lotrek“. Mit drei Mützen folgen dann „Bandol sur Mer“, „Frühsammers“, „Hugo“, Nobelhart&Schmutzig“ sowie „Skykitchen“. Kurios: Das „Lorenz Adlon Esszimmer“ wird nach dem Wechsel des Küchenchefs überhaupt nicht mehr genannt.
    Das „digitale Zukunftsrestaurant“ ist schon Vergangenheit

    Insgesamt enthält der Gault&Millau wieder eine beeindruckende Fülle von 78 Restaurants plus drei, deren Bewertung ausgesetzt wurde. Wie viel davon tatsächlich aktuell getestet wurden, bleibt offen; im „Data Kitchen“, das mit einer Mütze gewürdigt wird, kann niemand gewesen sein, denn das „digitale Zukunftsrestaurant“ ist schon lange Vergangenheit.

    Kann auch kochen: Multigastronom The Duc Ngo, der alleine in der Kantstraße fünf Restaurants betreibt. Foto: Promo
    Kann auch kochen: Multigastronom The Duc Ngo, der alleine in der Kantstraße fünf Restaurants betreibt. © Promo

    Die stilistische Breite ist enorm, so steht das Kantstraßen-Flaggschiff von The Duc Ngo, „893 Ryotei“ – damit sicher krass unterbewertet – neben dem Kreuzberger „Chungking Noodles“ und dem „Standard Serious Pizza“ in Prenzlauer Berg. In der Spitze sind die Wertungen aber im Vergleich zu Michelin oder Gusto wie immer und mit kleinen Nuancen deckungsgleich.

    #Berlin #Wedding #Gerichtstraße #Gastronomie #Tourismus #Essen