Wolfgang Zimmer: Nobel-Friseur in Berlin-Mitte gibt auf und erklärt schonungslos warum
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Bei diesem Mann konntest du wochenlang zwölf Stunden am Tag malochen. Arbeitszeitgesetz? Für Looser. Jetzt macht er dicht. Ausbeutung von Menschen lohnt sich nicht mehr. Immobilien- und Finanzkapital sind die Bringer.
Mittelständlers Beschreibung von ungeliebten Bewerbern gibt Auskunft zur Frage, wie man heute als Handwerker, als Arbeiter über die Runden kommt. Ein Mix aus mies bezahltem Job für die Krankenversicherung kombiniert mit Stütze und Schwarzarbeit sind nötig, um von einfachen Tätigkeiten leben zu können.
Das Ergebnis von fünfzig Jahren Liberalismus, zunächst noch rheinisch dann mit Neo-Präfix ist niederschmetternd. Eine zerstörte Gesellschaft. Top oder Flop, kämpf dich nach oben oder geh unter bei dem Versuch. So sieht es aus für alle, die nicht mit dem berühmten goldenen Löffel im Mund geboren wurden.
Das muss sich ändern, das müssen wir ändern, noch bevor das Menetekel VW die restlichen guten Jobs bei Industrie und Verwaltung trifft. Gelingt das nicht, wird das Kapital in Krieg und Faschismus flüchten. Es hat schon angefangen.
14.12.2024 von Michael Maier - Die Kunden rennen ihm die Tür ein. Trotzdem schließt Wolfgang Zimmer seinen Friseur-Salon. Immer neue Hürden und Fehler der Politik machen das Arbeiten sinnlos.
Wir treffen Wolfgang Zimmer in seinem hellen Friseursalon in einem Dachgeschoss in den Rosenhöfen. Die Räume haben noch das Flair der großen Aufbruchszeit in Berlin-Mitte. Alle wollten hier sein, es war eine Mischung aus Unfertigem und individuellen Visionen. Das ist heute alles vorbei, die Ernüchterung ist groß. Denn die verheerende politische und wirtschaftliche Entwicklung hat gerade die engagierten und erfolgreichen mittelständischen Unternehmen schwer getroffen. In einem Land, in dem der Bundeswirtschaftsminister nicht weiß, was eine Insolvenz ist, geben immer mehr Unternehmen auf.
Wolfgang Zimmer ist einer der international anerkanntesten Friseure. Er hat prominente Namen in seiner Kundenkartei: Politiker, Schauspieler, Filmstars und Topmodels wie Sharon Stone, Eva Padberg, Claudia Schiffer und Linda Evangelista. Vor einigen Jahren gewann er den von L’Oreal gestifteten „Friseur-Oscar“. Neben seiner Arbeit für die Promis ist Zimmer immer mit beiden Füßen auf dem Boden geblieben: Über tausend ganz normale Kunden und Kundinnen bedient er, jede und jeden mit demselben Respekt, als kämen sie alle aus Hollywood. Doch nun ist Schluss. In ungewöhnlich klaren Worten analysiert Zimmer, warum er seinen Laden dichtmacht. „Eine Ära geht zu Ende“, sagt eine Kundin am Tresen. Im Hintergrund läuft Wellness-Musik. Es gibt Espresso und einen Kuchen, der nach Wehmut schmeckt.
Herr Zimmer, wie lange sind Sie in Ihrem Gewerbe tätig?
Ich bin seit 48 Jahren immer im Beruf, davon über 36 Jahre selbstständig. Viele Kunden sagen, jetzt geht eine Ära zu Ende. Aber das ist nicht ganz richtig. Ich gebe einen Teil meines Berufes ab. Ich werde kein Geschäft mehr haben, wo ich Kunden bediene. Es geht für mich im artistischen Bereich weiter, wo ich schon vorher gearbeitet habe. Ich arbeite für Fotoproduktionen, mache Haarkonzepte für die Fashion Week oder Filmproduktionen. Ich darf seit über 22 Jahren die Berlinale begleiten und bin für das Styling vieler ausländischer Gäste verantwortlich. Ich betreue einige Designer in Mailand und gebe Seminare für Friseure und habe an der Universität der Künste Kurse für Mode- und Trendentwicklung gegeben. Es wird mir also nicht langweilig.
Sie haben hier in den Berliner Rosenhöfen bei den Hackeschen Höfen sehr erfolgreich gearbeitet. Mit welchen Erwartungen waren Sie nach Mitte gekommen, und wie stellt es sich heute dar?
Ich bin vor 22 Jahren von der West-City nach Mitte gegangen, weil ich am Puls der Zeit sein wollte. Für mich war Mitte wie SoHo in New York. Ich habe es nie bereut, es war eine tolle Zeit! Viele Einzelkämpfer haben die Ärmel hochgekrempelt, es war nicht alles perfekt, aber jeder hat angepackt. Heute werden die Einzelkämpfer rausgedrängt. Wir sehen nur noch Ketten, wie überall.
Warum geben Sie das Geschäft auf?
Zuerst: Die Miete wird sich drastisch erhöhen. Mein Mietvertrag läuft Ende des Jahres aus. Man kann die geforderte Miete nicht mehr mit Haareschneiden erwirtschaften. Der Staat macht es uns Mittelständlern und Kleinhandwerkern nicht sehr einfach. Es werden uns immer weitere Kosten aufgedrückt, die wir nicht ohne weiteres an unsere Kunden weitergeben können. Wenn ich „nur“ Haare schneiden dürfte und mich darauf konzentrieren könnte, wäre die Welt in Ordnung. Aber wir werden heute über bürokratische Hürden gejagt und müssen uns an Datenschutzverordnungen, geänderten Gesetzgebungen, Feuerschutz, Gesundheitsschutzmaßnahmen, Berufsgenossenschaft, Innung, Handwerkskammer abarbeiten. Die ganzen Betriebskosten wie zum Beispiel Energiekosten oder Beiträge zu Krankenkassen sind gewaltig gestiegen.
Durch den demografischen Wandel und die Lustlosigkeit vieler Menschen, sich nicht durch Arbeit und persönliches Engagement in die Gesellschaft einzubringen, steigt der Druck auf die noch arbeitende Bevölkerung immer weiter. Ich habe mich nie gefragt, was kann der Staat für mich tun, sondern hatte immer die Einstellung: Was kann ich für dieses Land tun? Diese Grundeinstellung scheint immer mehr verloren zu gehen. Der Mittelstand ist in der Defensive und kann das irgendwann nicht mehr tragen.
Einzelkämpfer wie ich in Berlin-Mitte werden es immer schwerer haben. Ich bin jetzt in Berlin-Mitte, vorher war ich 15 Jahre im Westen, in einer Altbauetage. Ich bin sehr dankbar für die Zeit, ich habe immer meinen persönlichen und beruflichen Traum leben dürfen. Ich habe immer gemacht, was ich wollte. Ich jammere nie, packe Sachen an, sage mir oft: Jetzt erst recht! Heute habe ich mit meiner Lebenserfahrung den Entschluss gefasst, so nicht mehr weiterarbeiten zu wollen. Das hat keinen Sinn. Ich möchte allen meinen Kunden danke sagen, für die jahrelange Treue und für das mir und meinem Team entgegengebrachte Vertrauen.
Ein großer Dank gilt meinen Mitarbeitern, die mir immer zur Seite gestanden haben. Der Weg hin zu der Entscheidung aufzuhören ist mir sehr schwergefallen. Aber jetzt fühle ich mich frei und wohl damit.
Sie geben das Geschäft auf, weil die Kosten so gestiegen sind, dass Sie es trotz der massiven Nachfrage bei den Kunden nicht mehr wirtschaftlich führen können?
Ja. Bisher waren die Rahmenbedingungen für mich in Ordnung. Jetzt steigt die Miete aber unverhältnismäßig hoch an. Im Gewerbebereich kann jeder Vermieter das nehmen, was er haben möchte. Kleine, mittelständische Geschäfte werden so aus den Zentren der Stadt verdrängt. Ich habe das Gefühl, dass es vielen Vermietern egal ist, ob Ladenflächen leer stehen oder nicht. Wenn die Läden dann leer stehen, wird es als Verlust abgeschrieben, es zahlt also der Steuerzahler. Dazu kommen alle anderen Kosten, die drastisch gestiegen sind: Lebensmittel, Energie, Handwerker.
Wenn die Politik die Leute nicht mitnimmt und ihnen erklärt, wie es weitergeht, dann verlieren die Menschen das Vertrauen in den Staat. Es wird nicht erklärt, wofür Geld ausgegeben wird oder wofür auch nicht. Wir haben einen riesengroßen Vertrauensbruch. Arbeit muss sich wieder lohnen.
Welche Erfahrungen haben Sie im Personalbereich?
Ich habe in den vergangenen Jahren sehr viele Bewerbungsgespräche geführt mit Leuten, die bei mir anfangen wollten. Es gibt Bewerber, die Power haben und arbeiten wollen. Aber es gibt auch Menschen, die sagen mir im Bewerbungsgespräch: „Herr Zimmer, eines muss ich Ihnen sagen: Im Monat bin ich zwei Tage im Durchschnitt krank.“ Ich frage dann, haben Sie eine chronische Krankheit, dann sagte mir der Bewerber: „Nein, das steht mir doch zu, ich zahle ja Krankenkassenbeiträge.“ Oder ein anderer sagte: „Ich möchte nur ein Jahr arbeiten, weil danach möchte ich mich gerne wieder ein halbes Jahr arbeitslos melden.“ Das wird einfach so gesagt!
Wie oft haben Sie das erlebt?
Das habe ich öfter erlebt. Bewerber sagen auch, dass ihnen die Öffnungszeiten nicht gefallen. Ein Friseur sagte zu mir: „Ich habe nur Lust, zwischen 11 und 17 Uhr zu arbeiten.“ Oder: „Ich will nur zwei, drei Tage arbeiten, den Rest mache ich schwarz und habe dann mehr Geld, als würde ich normal arbeiten.“ Die Hürde, das auch ganz offen zu sagen, ist heute sehr niedrig. Und es gibt auch viele, die den Staat ausnutzen. Es wird ihnen so leicht gemacht, dass sie sagen: „Es steht mir doch zu.“ Immer weniger Leute wollen Verantwortung für sich selbst tragen. Immer mehr Menschen wollen für weniger Arbeit mehr Geld bekommen. Das funktioniert nicht. Es gibt aber zum Glück noch viele, die nehmen die Herausforderungen an.
Haben Sie diese Veränderung über Jahre beobachtet?
Ja. Ich habe in den ersten 20 Jahren meiner Friseurlaufbahn mit vielen Mitarbeitern zusammenarbeiten dürfen, von denen keiner das Unternehmen verlassen hat. Die Gesellschaft hat sich sehr stark verändert. Es ist gut, dass die Menschen mehr Freizeit haben wollen – wenn es finanzierbar ist. Auch Freizeit kostet Geld. Es ist toll, wenn ein Staat solidarisch ist. Wir alle arbeiten gerne für Menschen mit, die geistig und körperlich beeinträchtigt sind oder in Not geraten. Aber ich habe keinen Bock, für Leute mitzuarbeiten, die unser Sozialsystem ausnutzen. Der Staat macht das schon. Wer ist der Staat? Wir alle sind der Staat.
Sie haben viele Leute im Lauf der Jahre ausgebildet. Hat sich die Einstellung zum Arbeiten an sich, zum Beruf geändert?
Ich würde es nicht verallgemeinern. Ich habe sehr viele Friseure ausbilden dürfen. Einige von ihnen zählen heute zu den besten der Stadt. Aber man kann sehen, wie es sich verändert hat: In früheren Jahren hatten wir sechs bis acht Berufsschulklassen jedes Semester. Heute sind es nur noch halb so viele. Die jungen Menschen haben zum Teil keine Lust mehr, eine Ausbildung anzufangen, wo sie acht Stunden oder mehr arbeiten müssen, vielleicht sogar samstags, wenn andere freihaben. Ich hatte das Glück, mit Menschen zu arbeiten, die zuverlässig sind und Spaß an ihrem Job haben und deshalb von anderen Kollegen gerne genommen wurden. Einige machen sich jetzt selbstständig. Keiner wird auf der Straße stehen.
Auch über meinen großen Kundenstamm habe ich mir viele Gedanken gemacht. Ich habe meine ehemaligen Mitarbeiter, die heute selbstständig sind, angerufen. Alle haben gesagt, das finden wir toll. Aber einige haben gesagt, wir würden deine Kunden gerne übernehmen, aber wir haben nicht das Personal dazu. So ist es mir auch gegangen: Ich hätte auf einen Schlag fünf, sechs Friseure einstellen können. Aber man bekommt kein Personal. Viele meiner Kollegen sagen: Wir könnten viel mehr Kunden annehmen, aber es fehlen die Mitarbeiter. Und das sind Chefs, die rund um die Uhr arbeiten.
War Corona ein Einschnitt?
Der Staat hat geholfen. Dafür möchte ich danken. Das Problem: Mein Geschäft war einmal sechs Wochen, einmal sieben Wochen geschlossen. Wir wussten nicht, wann wir wieder öffnen können. Da war ein furchtbares Gefühl. Wir konnten dem Personal nicht sagen, wie es weitergeht. Ich habe den Mitarbeitern das Kurzarbeitergeld auf 100 Prozent aufgestockt. Die Ungewissheit, wie lange können wir finanziell durchhalten – das war das Schlimmste.
Sie mussten auf Ihre Reserven zurückgreifen?
Ja klar. Ich habe den Vermieter gefragt, ob er mir entgegenkommen kann. Er hat gesagt, er kann mir die Miete zwei oder drei Wochen stunden. Das hilft natürlich gar nicht. Ich glaube, in dieser Zeit hat ein Umdenken begonnen. Ich weiß es nicht, aber plötzlich haben die Leute gesagt, ich möchte mehr Zeit für mich haben. Das war auch in der Gastronomie so: Wo sind die Menschen, die vor Corona dort gearbeitet haben?
Sie mussten Kredite aufnehmen?
Die IBB hat uns geholfen, das war positiv. Wir haben einen zinslosen Kredit bekommen. Aber den mussten wir natürlich zurückzahlen. Das ist kein geschenktes Geld. Wir mussten hart arbeiten. Meine Mitarbeiter, die immer hinter mir gestanden haben, haben sechs Tage die Woche, zwölf Stunden am Tag gearbeitet – da sage ich: Hut ab! Viele Unternehmer konnten die Kredite nicht zurückzahlen.
Sie sind ja eher ein 1968er, ein Linksliberaler. Als Selbstständiger haben Sie gelernt, dass das Geld irgendwo herkommen muss. Glauben zu viele Leute, dass das Geld auf den Bäumen wächst?
Ich finde, es soll allen gutgehen – aber jemand, der viel tut, soll auch viel profitieren. Wir brauchen weniger Steuern und gute Rahmenbedingungen, um erfolgreich wirtschaften zu können. Der Staat ist außerdem ein schlechtes Vorbild. Er lebt zum großen Teil von Schulden. Wir leisten uns ein System, das nicht mehr tragbar ist.
Sie haben einen super Laden, es gibt genug Kunden, die gerne für Ihre Arbeit zahlen – also eigentlich der wirtschaftliche Idealfall. Trotzdem machen Sie Schluss.
Mir fehlt die Kraft, um mich auf die veränderten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen einzustellen. Ich habe das Glück, diese Entscheidung aus freien Stücken treffen zu können, und freue mich auf die neuen Herausforderungen.
So spricht der von Ereignissen Getriebene. Ein Kleinbürgee versteht nicht, was die Stunde geschlagen hat. Er ist wie ein Frosch im Brunnen, der sich mit Wasser füllt. Er sieht nicht die Quelle und versteht nur, dass er bald keinen Dreckklumpen zum Ausruhen mehr haben wird. Seine Perspektive beschrânkt sich auf einen winzigen Ausschnitt des Himmels. Dafür kennt er alle Mitbewiohner des Schlamms, in dem er sitzt, nur zu genau.
Wählt der Mann AfD? Vermutlich noch nicht, denn die ganz Rechten sind im hippen Fashion-Business noch nicht en vogue , zu konservativ, zu viel Provinz, zu unkultiviert. Aber was nicht ist, kann ja noch werden bei den Gottbegnadeten.
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