Wer braucht schon die Bergmannstraße? So lebt sich’s im weniger coolen Kreuzberg
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Weiter gehts mit der Gentrifiziererei. Jetzt wird das Areal des alten Blumengroßmarkt aufgewertet. IBA 1987 war noch menschlich und priduzierte viele Sozialwohnungen. Wer nicht durch brutale Mietsteigerungen aus denen verdrângt wurde, trägt heute noch zur berühmten Berliner Mischung bei, die das Leben hier so angenehm machte und mancherorts noch macht. Wo, das wird hier nicht verraten. Wäre ja schön blöd, den Gentrifizierern noch Tipps zu geben.
Im Kreuzberger Lindenstraßen-Neubau ist jedenfalls nix mit sechsneunzig kalt.
Und so freut sich das schwule Dinks-Pärchen im Artikel, dass es eine schöne Zentrallage verhältnismäßig preiswert heimsuchen darf. Das hochgelobte Kargheitsdesign ändert nicht an der Klassenlage. Vorgestellt wird hier die Bude von zwei typischen Parasiten aus der kapitalistischen Funktionselite.
19.11.2022 von Manuel Almeida Vergara - Max Renner und Jonas Vach haben sich für eine tolle Traumwohnung – und damit gegen einen coolen Kiez entschieden. Ein Besuch im lebloseren Teil Kreuzbergs.
Max Renner und Jonas Vach haben es geschafft. Sie haben eine schöne Wohnung gefunden. Mitten in Kreuzberg, über eine einschlägige Immobilien-Plattform, einfach so. Und trotzdem wird nicht sofort vor Neid erblassen, wer hört, wo die beiden heute leben.
Denn Renner und Vach wohnen eben nicht beim Kotti, Schlesi oder Görli; nicht auf Bergmann, Gneisenau oder Mehringdamm. Ihre Wohnung liegt im Kreuzberger Niemandsland – im etwas seltsamen Viertel zwischen Mehringplatz, Jüdischem Museum und Checkpoint Charlie nämlich.
„Lage ist alles“, wie eine klassische Makler-Weisheit behauptet? Maybe not: Renner und Vach haben sich zwar nicht gegen einen schönen Kiez, aber eben für eine schöne Wohnung entschieden. Und die liegt nun mal, wo sie eben liegt. „Das ist hier für Kreuzberger Verhältnisse schon ein bisschen eine None-Lage“, sagt Max Renner, während er mit seinem Freund am großen, gläsernen Esstisch sitzt. „Ich habe vorher am Zionskirchplatz gewohnt, Jonas in der Lenaustraße in Neukölln, wir haben diese Kiezkultur sehr genossen.“
Cafés, Bars, Spätis, alles direkt vor der Tür, immer Action, immer was los – dass es so in ihrer neuen Nachbarschaft nicht werden würde, war ihnen schon vor dem Umzug klar. Aber die Wohnung? Sie hat die beiden gleich überzeugt. Im oberen Bereich der rund 130 Quadratmeter großen Maisonette reihen sich ein kleines Fernsehzimmer, das Gästebad, ein großer offener Wohn-Ess-Bereich und Vachs Arbeitszimmer, das zugleich als Gästezimmer dient, zu einem luftigen Schlauch aneinander, zu beiden Seiten hin mit einer großen Fensterfront versehen. Im unteren Bereich der Wohnung – über ein schmales privates Treppenhaus zu erreichen – liegen Bade- und Schlafzimmer.
Um den Corbusier-Tisch sammeln sich Aulenti-Stühle; in Vitra-Wandfächern liegt alles Wichtige beieinander .
Der gegossene Boden und die raue Betondecke sind grau, alle Wände weiß gehalten. Das passt gut zum Stil des Paares, der sich reduziert, klar und sachlich zeigt, von witz- und geistreichen Akzenten durchbrochen. An den langgezogenen Wänden im Wohnbereich zum Beispiel hängt typografische Kunst von Esra Gülmen und Pepo Moreno; auf Satztischen von Gianfranco Frattini steht Ettore Sottsass‘ „Shiva“-Vase in Form eines rosafarbenen Phallus, ein wenig weiter vorn im Raum die mit Buchstaben verzierte, ulkig geformte Glasvase, die der Künstler Stefan Marx für Ikea entworfen hat.
Neben der Kunst sind Schnittblumen die einzigen dekorativen Elemente, die wir wirklich immer in unseren Räumen haben .
Jonas Vach
„Neben der Kunst sind Schnittblumen die einzigen dekorativen Elemente, die wir wirklich immer in unseren Räumen haben. Also besitzen wir auch einige Vasen – eben weil sie einen Zweck erfüllen“, sagt Jonas Vach, der beruflich Lobby- und Politikkontaktarbeit für ein großes deutsches Unternehmen betreibt. „Ansonsten haben wir keine Dinge herumstehen, die einfach nur da sind, um da zu sein.“
Da passt es gut, dass die beiden, nach ihren Lieblingsstücken befragt, recht praxisorientiert antworten. „Die Essstühle“, sagt Vach, ohne lang zu überlegen. Die „Orsay“ genannten Entwürfe der italienischen Architektin und Designerin Gae Aulenti haben die beiden auf Ebay-Kleinanzeigen gefunden, in einer Autolackiererei in Wusterhausen ließen sie die braun-orangefarbenen Stühle in schwarz und pastellgelb umlackieren. „Wir wollten hier in der Wohnung etwas wirklich Eigenes verwirklichen, mit Möbeln arbeiten, die man nicht so oft sieht“, sagt Vach. „Insofern waren wir gleich begeistert von den Aulenti-Stühlen, die nicht so bekannt sind.“
Max Renner, einer der Chefs der Berliner PR- und Marketing-Agentur Bold, gefällt der große Esstisch von Le Corbusier für Cassina besonders gut. Auch diesen Design-Klassiker entdeckte das Paar auf der Kleinanzeigen-Plattform. „Den Tisch haben meine Großeltern auch, und ich habe ihn schon immer geliebt“, sagt er. Das Exemplar, das nun in seiner Kreuzberger Wohnung steht, ist noch mit der originalen Glasplatte ausgestattet. „Die hat zwar einen Sprung, aber der gehört irgendwie dazu, das finden wir eigentlich ganz spannend.“
Bei den beiden Design-Enthusiasten außerdem beliebt: der lederne Launch-Chair, der ebenso von Gae Aulenti entworfen wurde; das erste gemeinsame Stück, das sich das Paar zusammen angeschafft hat. Nur wenig Anklang findet indes die Küchenzeile, mit hellem Holz verkleidet, die eben schon vor ihrem Einzug in der Wohnung stand. „Die ist uns eigentlich ein bisschen zu warm und heimelig“, sagt Vach. Wer an Herd oder Spüle steht, hat allerdings einen äußerst interessanten Blick: in einen schmalen, begrünten Lichtschacht – und in die nächste Wohnung.
Wir haben in den eineinhalb Jahren, in denen wir jetzt hier leben, gemerkt, dass es auch hier in der Gegend einiges gibt .
Max Renner
Denn jede Einheit in dem großen Haus gegenüber des Jüdischen Museums ist mit zahlreichen Fenstern versehen. Nach außen, natürlich, aber eben auch nach innen, hin zu den innenhofartigen Schächten. Die Nähe, die dadurch zu den Nachbarinnen und Nachbarn entsteht – manchmal nickt man sich über den Schacht hinweg freundlich zu, wie Renner und Vach erzählen –, passt durchaus zum Konzept des Gebäudekomplexes.
Das mit Architekturpreisen geadelte „Integrative Bauprojekt am ehemaligen Blumengroßmarkt“ des Berliner Büros Heide und von Beckerath basiert auf dem Gedanken, dass sich auch in einer durch Anonymität geprägten Großstadt eine gute, heimelige Hausgemeinschaft bilden lässt.
Einige der Wohnungen im Haus sind auf Menschen ausgerichtet, die mit Behinderungen leben; viele von ihnen organisieren sich in speziellen Hausgruppen. Es gibt Gemeinschaftsräume und einen Dachgarten, der von den Bewohnerinnen und Bewohnern bepflanzt wird; auch die als „Rues intérieures“, als „innenliegende Straßen“ konzipierten Hausflure laden mit ihren begrünten Lichtschächten und Sitzflächen zum Verweilen und zum Austausch ein. Insofern kommt dann selbst in diesem Viertel doch ein bisschen Kiezfeeling auf – in Renners und Vachs Wohnhaus nämlich.
„Außerdem haben wir in den eineinhalb Jahren, in denen wir jetzt hier leben, gemerkt, dass es auch hier in der Gegend einiges gibt“, sagt Renner; mit dem minimalistisch gehaltenen Akkurat-Café um die eine und der Berlinischen Galerie um die andere Ecke, mit weiteren Kulturstätten und netten Restaurants in der Nähe habe auch der unbeliebtere Teil von Kreuzberg ein paar Höhepunkte zu bieten. „Und weil wir ziemlich mittig in der Stadt liegen, sind wir mit dem Rad genauso schnell in Neukölln wie in der Torstraße, können zum Kanal oder zur Kantstraße radeln.“
Das nämlich ist der bestechende Vorteil einer Wohngegend, die sich nicht allzu kiezig gibt: Man muss, man will sie immer mal verlassen. Und während die anderen unentwegt ihren Bergmannkiez rauf- und runterspazieren oder das Dreieck zwischen Adalbert-, Mariannen- und Oranienstraße bloß alle Jubeljahre mal verlassen, lernen Max Renner und Jonas Vach die Stadt in ihrer ganzen Größe kennen. Beneidenswert.