#kurierfahrer

  • »Dort steht: Im Prinzip habt ihr recht«
    https://www.jungewelt.de/artikel/426098.arbeitskampf-dort-steht-im-prinzip-habt-ihr-recht.html

    9.5.2022 Interview: David Maiwald - Arbeitsgerichtsurteil nach Klage eines Kurierfahrers öffnet neue Räume in der Streikrechtsprechung. Ein Gespräch mit Martin Bechert

    Das Arbeitsgericht Berlin hat die Kündigung Ihres Mandanten, eines Kurierfahrers des Lieferdienstes Gorillas, wegen Aufrufs zu »wilden« Streiks Anfang März für unwirksam erklärt. Das Gericht bemerkte dabei, es sei »keineswegs gesichertes Recht«, dass ein solcher Aufruf einen Verstoß gegen arbeitsvertragliche Pflichten darstelle. Welche Bedeutung hat der Richterspruch für das Streikrecht?

    Es ist ein ganz wichtiger Meilenstein. Zum ersten Mal bestätigt ein Arbeitsgericht, dass die postfaschistische 50er-Jahre-Streikrechtsprechung nicht mehr angewendet werden kann. Wir sind nun am Anfang von Diskussionen, wie wir das Streikrecht entwickeln wollen, wenn wir ein umfassendes Streikrecht als Menschenrecht für wichtig halten. Der Vorsitzende Richter der 20. Kammer hatte im Prozess der drei Gorillas-Rider Anfang April die Einwendungen über das Streikrecht noch sinngemäß als politisch motivierten Quatsch bezeichnet. Dieses Urteil gibt uns nun recht und sagt: Diese Streikrechtsprechung kann so nicht mehr gelten, denn es gibt mittlerweile Europarecht. Das gibt uns Rückenwind.

    Hat das Auswirkungen auf andere Prozesse?

    Das Arbeitsgericht hat zunächst bestätigt, dass wir keine linken Spinner sind. Jetzt kann sich eine Änderung der gefestigten Rechtsprechung ergeben. Der Impuls zur Umarbeitung hin zu einem umfassenden Streikrecht kommt von außen, wird nun jedoch von einer Kammer mit einem sehr erfahrenen Vorsitzenden unterstützt. Der Vorsitzende der 20. Kammer hatte in der Verhandlung gesagt, man könne nicht mit einem Federstrich die Rechtsprechung von Jahrzehnten wegwischen. Dieser konservativen Haltung der Arbeitsgerichtsbarkeit können wir jetzt etwas entgegensetzen. Dadurch ergeben sich neue Spielräume in der Rechtsprechung, die es auszufüllen gilt. Mit Verweis auf die Bewertung der 19. Kammer können wir verlangen, dass der Rechtszustand überprüft werden muss.

    Warum ist diese Haltung so schwer zu verändern?

    Wie ein roter Faden zieht sich durch die Rechtsprechung, dass die Arbeitsgerichtsbarkeit den DGB-Gewerkschaften eine Ordnungsfunktion zuweist. Wenige Akteure im Arbeitsrecht haben ein Interesse daran, den Arbeitnehmern ein umfassendes Streikrecht zu gewähren. Die Arbeitgeber haben kein Interesse, die DGB-Gewerkschaften haben daran jahrzehntelang nicht gerüttelt.

    Welche Folgen ergeben sich also für die Arbeit der Gewerkschaften?

    Die Gewerkschaften werden sich wohl erst einmal zurückhalten. Für sie sind der »wilde« Streik und die Möglichkeiten, die sich daraus ergeben, vermutlich relativ uninteressant. Verdi hat beispielsweise gesagt, sie sind nicht zum Streik bereit, wenn der Organisierungsgrad nicht stimmt. Dafür gibt es auch gute Gründe, wegen möglicher Schadenersatzklagen besteht für Gewerkschaften ein hohes Haftungsrisiko. Wir müssen die Rechtsprechung also im Vorgriff ändern, damit die Großen nachziehen können.

    Hat das auch Folgen für die sozialpartnerschaftliche Linie in den Gewerkschaften?

    Es ist schwer vorstellbar, dass viele Arbeitgeber in den nächsten Jahren auf dem sozialpartnerschaftlichen Weg bleiben. Wenn es die Sozialpartnerschaft überhaupt je gegeben hat, so ist sie im Absterben begriffen. Für das Gros der Beschäftigten funktioniert diese Linie ohnehin nicht. Die Gewerkschaften werden sich in den nächsten Jahren davon verabschieden müssen. Entweder sie gehen den kämpferischeren Weg oder sie gehen unter.

    Die betroffenen Kuriere waren über das Urteil nur vorsichtig erfreut, schließlich kann Gorillas in Berufung gehen. Wie weitreichend sind die Folgen dieses erstinstanzlichen Richterspruchs?

    Es ist ein erster Schritt und wir sind sehr gut in diesen Prozess gestartet. Es ist davon auszugehen, dass Gorillas in Berufung geht. Doch die erste Instanz hat eine Bedeutung, es ist nicht egal, was dort passiert. Dort steht jetzt: Im Prinzip habt ihr Recht. Damit muss sich nun auch die nächste Instanz befassen. Das Urteil wird höchstwahrscheinlich auch im Kündigungsschutzprozess der drei anderen Rider zur Sprache kommen. Sollte das Streikrecht in den Prozessen streitentscheidend sein, könnten die Fälle vor dem Bundesarbeitsgericht oder dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte landen.

    Martin Bechert ist Fachanwalt für Arbeitsrecht

    #Arbeit #Gewerkschaft #Streikrecht #Deutschland #Kurierfahrer

  • Essen auf Rädern als Monopol - Berliner Zeitung vom 14.8.2019
    https://www.berliner-zeitung.de

    Seite 2, Tagesthema Lieferdienste, von Frank-Thomas Wenzel

    Nach dem Rückzug von Deliveroo ist Lieferando das einzige überregionale Unternehmen der Branche in Deutschland.
    ...
    Was passiert mit den Fahrern von Deliveroo?

    Rund 1100 Frauen und Männer verlieren ihren Job. Wobei es sich um „Freiberufliche“ handelt, darunter viele Studierende. Deliveroo hat angekündigt, Abfindungen zu zahlen, ohne Details zu nennen. Guido Zeitler, Chef der Gewerkschaft NahrungGenuss-Gaststätten, weint Deliveroo „keine Träne nach“. Die Geschäftspraktiken des Unternehmens beruhten „komplett auf Scheinselbstständigkeit“. Dem müsse die Politik einen Riegel vorschieben. Auch bei Lieferdiensten müsse es eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung geben.

    Warum diese heftige Expansion?

    Das Management von Takeaway hat immer wieder betont, dass man auf Skaleneffekte setze. Mit schierer Größe sollen Kosten gedrückt werden. Denn es ist enorm schwer, mit der modernen Variante von „Essen auf Rädern“ Geld zu verdienen, obwohl die Zahl der Bestellungen auf den meisten Märkten nach wie vor steigt. Das Takeaway-Management weist darauf hin, dass an vielen Standorten nur jeder Zehnte die Onlinedienste für Gekochtes und Gebratenes nutzt. Potenziale seien da. Um sie zu nutzen, sind unter anderem Investitionen in Informationstechnik wichtig – mit dem Ziel eines Mahlzeitenangebots, das für das jeweilige Stadtviertel und seine Bewohner maßgeschneidert ist.

    Was unterscheidet Lieferando und Deliveroo?

    Deliveroo ist der klassische Vertreter eines Premium-Dienstes. Im Fokus soll gehobene Gastronomie stehen. Dafür bietet das Unternehmen nicht nur eine Internet-Plattform mit einer großen Auswahl zum Bestellen der Mahlzeiten und die Infrastruktur zur Abwicklung der Bezahlung, sondern auch das Ausfahren der Mahlzeiten mit eigenen Fahrern. Vor allem deren Lohnkosten machen Deliveroo heftig zu schaffen. Lieferando ist vor allem ein sogenannter Aggregator, der sich auf das Betreiben der Plattform konzentriert. Nur bei fünf Prozent der Bestellungen sollen die Gerichte von eigenen Kurieren geliefert werden.

    #Arbeit #Scheinselbständigkeit #Kurierfahrer #Lieferdienste #Ausbeutung