17 Uhr 59 und 10 Sekunden
Ein Polizist tötet einen schwarzen Mann mit drei Schüssen. Aber der Staatsanwalt will den Fall unter den Tisch fallen lassen. Wer war Roger «Nzoy» Wilhelm? Und was geschah wirklich in #Morges?
30. August 2021, Bahnhof Morges
«Calme-toi!»
Nzoy hob die Hände, legte die Ellbogen in die Hüfte und streckte die Arme vom Körper. Für eine Sekunde liess er den Kopf hängen, täuschte an, in die eine Richtung zu gehen und ging dann in die andere. Wie beim Basketball.
«Get outta here», sagte er. «Get outta here!»
Vor ihm stand ein Mann in Warnkleidung. Orange Hose. Oranges Shirt. Orange Weste. Oranger Helm. Der Mechaniker musste eigentlich einen defekten Waggon wegfahren, und jetzt spazierte dieser Typ über die Gleise. Ein Kollege des Mechanikers sagte jeweils, man solle diese Aufschneider direkt der Polizei melden. Doch der Bahnarbeiter zögerte.
Er hatte Nzoy vorhin beim Beten beobachtet. Ein komischer Vogel, aber offensichtlich ungefährlich: Er pöbelte niemanden an und schrie auch nicht rum.
Doch als Nzoy auf die Gleise trat, fürchtete der Bahnarbeiter, er könnte sich etwas antun.
«Ne fais pas le fou!», warnte der Mechaniker. «Spiel nicht den Verrückten!»
Gemeinsam mit einem Kollegen versuchte er, Nzoy aufzuhalten. Er zog das Handy aus der Tasche und wählte den Notruf. Der Anruf wurde aufgezeichnet. Es war genau 17 Uhr und 55 Minuten.
«Police d’urgence?»
«Ja, guten Tag, ich bin in Morges, am Bahnhof Morges. Hier ist eine Person, die spaziert auf den Gleisen rum.»
«Bleiben Sie bitte kurz dran, Monsieur.»
Der Mechaniker steckte das Handy ein und blieb in der Leitung. Gleichzeitig versuchte er, die Lage zu beruhigen.
«Hör auf», sagte er zu Nzoy. «Sprichst du Französisch?»
«Get outta here! Get outta here!»
«Tranquille, pas de problème», sagte der Mechaniker. Er versuchte es auf Deutsch: «Kein Problem.» Und auf Englisch: «Speak French?»
17 Uhr 56 und 7 Sekunden.
«Monsieur, allô?»
«Fais pas le con!»
«Entschuldigen Sie, Monsieur, welches Gleis?»
«Im Moment ist er hier bei mir auf Perron 5.»
«Perron 5?»
«Perron 4, Gleis 5», präzisierte der Mechaniker.
«An die Patrouille: Perron 4, Gleis 5!»
Der Mechaniker beschrieb der Notrufzentrale, wie Nzoy aussah. Senffarbener Pullover. Jeans. Weisse Sneakers. Verkehrt aufgesetztes Cap. Gelockte Haare, schwarz.
«Er war vorhin auf dem Perron am Beten», sagte der Mechaniker ins Telefon.
«Offenbar betete die Person auf den Gleisen», funkte die Zentrale fälschlicherweise weiter.
17 Uhr 57 und 44 Sekunden.
«Calme-toi!»
«Nein, beruhige du dich!», sagte Nzoy jetzt auf Französisch. Endlich reagierte er.
«Du sprichst Französisch?», fragte der Mechaniker. «Was willst du tun? Ich bin ruhig. Sag mir, was du tun willst. Beruhige dich, beruhige dich, beruhige dich. Das ist alles, was ich von dir verlange.»
Der Mechaniker sprach jetzt mit ruhiger Stimme, entspannter, fast als würde er zu sich selbst reden: «Du bleibst ruhig. Du machst keine Dummheit. Nein, nein, du machst keine Dummheit. Bitte. Keine Dummheit. Du bleibst ganz ruhig. Setz dich hin bitte, setz dich hin.»
Nzoy, 37 Jahre alt, war am Mittag von Zürich nach Genf gefahren und in Genf wieder in den Zug nach Zürich gestiegen. Er hatte neun T-Shirts in einen schwarzen Turnbeutel gepackt, zwei Unterhosen, zwei Paar Socken, eine Zahnbürste. In seiner Jeans steckten ein Pass, 60 Franken und Kleingeld, ein Feuerzeug und zwei Bussen, ausgestellt um 13.12 Uhr im Zug von Zürich nach Genf und um 16.24 Uhr von Genf nach Zürich. Um seinen Hals hing ein weisser Rosenkranz.
Die Züge am Bahnhof waren zum Stehen gekommen. Die Leute warteten darauf, nach Hause zu fahren. Die Bahnarbeiter hatten Nzoy beruhigt.
17 Uhr 58 und 2 Sekunden.
Für einen Moment schien es, als ginge die Sache noch einmal gut.
«Monsieur», meldet sich eine Stimme am Telefon, «sind Sie im Kontakt mit meinen Kollegen? Monsieur?»
17 Uhr 59 und 10 Sekunden.
«Schussabgabe! Schussabgabe!», ruft ein Polizist über Funk. «Schnell, eine Ambulanz!»
Kindheit in Südafrika
Manchmal kamen Polizisten in ihre Gegend. Männer in Uniform, mit Waffen und dem Instinkt von Jagdhunden. Nur suchten sie nicht nach Wildtieren, sondern nach Menschen.
Sie gingen von Tür zu Tür und prüften, wer da war und wer da sein durfte. Ob sie die richtigen Papiere hatten und die richtige Hautfarbe. Die Regeln im Südafrika der 1970er-Jahre waren so streng wie die Strafen. Wer dagegen verstiess, landete schnell im Gefängnis.
Wenn die Polizisten in die Township kamen, eilte die Grossmutter zu den Kindern und scheuchte sie ins Haus. Vor allem ein Kind musste so schnell wie möglich verschwinden.
Evelyn, ihre Enkelin.
Evelyn ging dann ins Haus, setzte sich in einen braunen Holzschrank neben der Küche und schloss die Tür von innen. Das Feuer in der Küche hielt den Schrank schön warm. Selbst im Winter.
Evelyn war ein kleines Kind, das noch nichts anderes zu tun hatte, als den ganzen Tag zu spielen. Sie strich der Grossmutter um die Beine, rannte auf den staubigen Strassen der Township herum. Sie liebte es, in der Küche zu stehen und so zu tun, als würde sie kochen. Das Haus der Grossmutter war klein, aber gross genug für alle: Bruder, Cousinen, Cousins, Nachbarn. Abends versammelten sie sich jeweils in einer der zwei Schlafkammern und legten sich hin. Sie schliefen dicht gedrängt wie Schuhe in einer Schachtel.
Wenn Evelyn am Morgen aufstand und ihr Gesicht ans Fenster drückte, sah sie auf einen Verschlag, der als Toilette diente. Vor der Haustür gackerten die Hühner auf einem Flecken roter Erde, den Evelyn rückblickend nur zögerlich einen «Garten» nennt. Der Geruch von Feuer biss in ihrer Nase. Evelyn ging nach draussen und spielte, bis die nächste Nacht über die Township hereinbrach. Oder bis wieder Polizisten in ihre Gegend kamen und von Tür zu Tür gingen.
Versteckte die Grossmutter Evelyn im Schrank, sass sie ganz still. Sie wartete. Sie lauschte. Sie achtete auf jedes Geräusch und gab keinen Mucks von sich.
Erst wenn die Polizisten weg waren, rief die Grossmutter Evelyn nach draussen. Sie solle so oft wie möglich in der Sonne spielen, sagte die Grossmutter. Das war gut für ihre Hautfarbe.
Denn Evelyn war etwas heller als die anderen Kinder. Das fiel auf. Und das war gefährlich.
In der Gegend wussten zwar alle Bescheid und niemand sagte etwas. Aber sicher sein konnte man nie. Das Regime war Polizeistaat, Überwachungssystem und Gesetzeswerk zugleich. Jemand bezeichnete es einmal als «apart hate» – Aparthass.
Evelyns Mutter hiess Queen Cynthia, sie war Zulu und Sängerin. Evelyns Vater war weiss und kam aus der Schweiz. Ein Mechaniker, der in Südafrika Arbeit gefunden hatte und sich verliebte. Aber die sogenannte Rassenvermischung war in der Apartheid schlimmer als Verrat. Das schlimmste Verbrechen überhaupt.
Als Evelyns Mutter schwanger wurde, reisten die Eltern in die Schweiz, nach Grüsch im Bündner Prättigau. Sie heirateten. Die Mutter brachte Evelyn zur Welt. Und der Vater war weg, bevor er für sie hätte da sein können.
Das Einzige, was er der Familie hinterliess, war der Nachname: Wilhelm.
Queen Cynthia Wilhelm zog mit ihrer Tochter Evelyn nach Zürich, aber sie war allein. Sie sah keinen Weg, Geld zu verdienen und für das Kind zu sorgen. Also brachte sie Evelyn zur Grossmutter nach Südafrika, in die Township Duduza in der Nähe von Johannesburg. Hier wuchs Evelyn Wilhelm auf. Man bezeichnete sie als coloured, das Kind einer sogenannten Mischehe.
Heute ist Evelyn Wilhelm eine freischaffende Künstlerin in Zürich. Sie trägt manchmal T-Shirt und rote Trainerhosen von Adidas. Aber unter der coolen Leichtigkeit trägt sie einen dicken Panzer. Sie hat ihn sich zugelegt, als sie in der Dunkelheit wartete.
«Wenn die Polizei in unsere Gegend kam, war das immer brutal», sagt Evelyn Wilhelm über ihre Kindheit. «Aber für mich war es noch mal anders: Ich war ein verbotenes Kind.»
Sie hat nie vergessen, was es bedeutet, als Verbrechen geboren zu sein. Nicht aufzufallen. Nicht zu laut zu sein. Stets auf der Hut, damit sie bloss niemand entdeckt. Vor allem nicht die Polizei.
«Ich rufe die Polizei!», drohte die Mutter, wenn sie frech war.
«Ich rufe die Polizei», drohte die Mutter, wenn sie stänkerte.
Evelyn Wilhelm ist heute eine erwachsene Frau in der Mitte des Lebens. Aber die Angst vor der Polizei hat sie nie ganz abgelegt.
Mehr als nur eine Schwester
Als sie aus Südafrika in die Schweiz zurückkam, musste sich Evelyn Wilhelm nicht mehr verstecken. Aber manchmal hätte sie es am liebsten getan.
In der Schule plagten sie die anderen Kinder. Sie passten sie auf dem Schulweg ab, sie stahlen ihr Taschengeld, sie zogen an ihren krausen Haaren. Im Geroldswil der 1980er-Jahre war Evelyn Wilhelm das einzige schwarze Kind.
Als Evelyn neun Jahre alt war, kam ihr Bruder Roger zur Welt, am 10. März 1984. Sie erinnert sich an den warmen Frühling und wie sie sich freute, endlich ein Geschwister zu erhalten.
Rogers Geburt war schwer. Die Nabelschnur hatte sich um seinen Hals gewickelt. Die Ärzte machten notfallmässig einen Kaiserschnitt. Es gab Komplikationen. Seine Mutter starb fast, als sie ihn gebar.
Den Vornamen bekam Roger vom Vater. Den Nachnamen vom ersten Ehemann der Mutter. Den Mittelnamen gab ihm Evelyn, die grosse Schwester. Sie nannte ihn Michael, englisch ausgesprochen. Wie der King of Pop.
Roger Michael Wilhelm – so lautete sein voller amtlicher Name.
Ein Name aber fehlte. Der Name, den Roger im Herzen trug, aber nicht im Pass, der Mädchenname seiner Mutter. Später bat er seine Freundinnen und Bekannten, ihn so zu nennen wie die Mutter Queen Cynthia Wilhelm vor der Hochzeit hiess: Nzoy.
Seine Eltern stritten oft. Sie trennten sich nach wenigen Jahren. Seine Schwester Evelyn sagt, die Beziehung sei «toxisch» gewesen. Nzoy pflegte kein gutes Verhältnis zu seinem Vater, einem weissen Schweizer. Der zog weg, noch bevor Nzoy in die Schule kam.
Die Mutter musste arbeiten, also verbrachte Nzoy sehr viel Zeit mit Evelyn. Sie passte ständig auf ihn auf. So blieb es ein Leben lang: Evelyn war für Nzoy viel mehr als nur die grosse Schwester.
Als Nzoy eingeschult wurde, bekam die Mutter ein erstes Mal Krebs. Nzoy musste in ein Heim. Bald darauf in ein Internat. Am Wochenende kehrte er jeweils zurück zu Mutter und Schwester.
Das ging gut, bis er in die Oberstufe kam.
Realschule in Schwamendingen, Zürich. Der Schulstoff interessierte ihn jetzt wenig. Lieber hing er mit Freunden rum. Er liebte den Hip-Hop. Westcoast. Tupac. «I see no changes», schepperten die Verse aus den Discmans, «all I see is racist faces …»
Tupac Shakur, der aus einer Familie von bekannten Black-Panther-Aktivistinnen stammte, rappte: «Cops give a damn about a negro. Pull the trigga, kill a nigga, he’s a hero.»
Nzoy sog die Texte auf.
«‹It’s time to fight back!›, that’s what Huey said. Two shots in the dark, now Huey’s dead.»
Seine Schwester Evelyn sagt heute, Nzoy sei im Internat nie diskriminiert worden. In der Oberstufe aber kam er oft heim und war wütend, weil die Lehrer ihn ungerecht behandelt hätten.
«Und dann», sagt die Schwester, «begann es auch mit den Polizeikontrollen.»
30. August 2021, Bahnhof Morges
«Wir sind im Kontakt», funkt der Polizist der Patrouille 696, der ersten von zwei Patrouillen, die am Bahnhof Morges eintreffen. Ein Polizist und eine Polizistin. Sie gehen zügig zum Ende des Perrons 4. Dort befinden sich zwei Mitarbeiter der Bahn. Und Nzoy.
17 Uhr 58 und 2 Sekunden. Eine Minute bevor die Schüsse fallen.
Bis hierher geht alles gut.
Zwei weitere Polizisten sind unterwegs zum Bahnhof. Patrouille 803. Ein Unteroffizier und der Gefreite K. Sie steuern ihren Wagen gerade in eine Unterführung nördlich des Bahnhofs, als der Mechaniker den Notruf wählt.
Die zwei Polizisten der Patrouille 803 haben einen ruhigen Tag hinter sich. Der einzig nennenswerte Einsatz war, als sie am Morgen einen verwirrten Mann anhalten mussten und ihn auf den Posten brachten. Nach dem Mittagessen sind sie für den Rest des Tages Streife gefahren, der Unteroffizier am Steuer, K. auf dem Beifahrersitz. Er ist noch keine 30 Jahre alt, seit vier Jahren arbeitet er bei der Regionalpolizei Morges. Es ist seine erste Stelle als Polizist.
Als die beiden Polizisten hinter dem Bahnhof vorbeifahren, erfahren sie über Funk, dass sich ein Mann auf den Gleisen befindet. Mehr wissen sie nicht, gibt Polizist K. später in einer Einvernahme an.
Es herrscht viel Funkverkehr. Die beiden Polizisten können sich nicht zum Einsatz melden, weil ständig jemand dazwischenfunkt. Sie hören, dass sich bereits eine Patrouille auf den Weg gemacht hat. Sie beschliessen trotzdem, auf eigene Faust hinzufahren.
Sie schalten das Blaulicht an und die Sirene.
Festnahme am See
Es geschah am letzten Wochenende im Juni 1997. Nzoy war 13 Jahre alt.
Er traf sich im Zürcher Seefeld mit Freunden, um Fussball zu spielen und Musik zu hören. Zufällig begegnete Nzoy dabei einem Schulfreund.
Plötzlich kam die Polizei dazu. Die Beamten beschuldigten Nzoys Schulfreund, er habe mit anderen Jugendlichen Leute ausgenommen. Sie nahmen ihn mit auf den Posten. Nzoy musste auch mit. Denn die Polizisten vermuteten, er sei für die Gruppe Schmiere gestanden.
Sie führten Nzoy ab und sperrten ihn im Posten auf dem Kasernenareal in eine Zelle. Erst am nächsten Tag riefen sie seine Schwester an.
«Ein Polizist sagte mir, sie hätten meinen Bruder festgenommen.»
Es war der 29. Juni 1997, ein Sonntag. Evelyn Wilhelm erinnert sich gut daran. «Er war noch ein Kind», sagt sie.
Die Polizei nahm Nzoy Abdrücke von allen Fingern, erstellte eine sogenannte Daktyloskopiekarte und speicherte die Daten im System.
Roger Michael Wilhelm, 10.3.1984. Referenznummer PCN 36 507027 29.
«Sie fanden nichts gegen ihn», sagt Evelyn Wilhelm. «Er hatte ja auch nichts getan.» Trotzdem behielten die Polizisten Nzoy eine weitere Nacht im Gefängnis. 48 Stunden Polizeihaft für einen 13-Jährigen. Ein Verfahren in der Sache gab es nicht. Aber die Daten des minderjährigen Nzoy wurden nie gelöscht.
«Der Polizist, mit dem ich sprach, sagte: ‹Das ist grad gut zur Abschreckung. Dann landet er in Zukunft nicht mehr bei uns›», erinnert sich Evelyn Wilhelm.
Als die Schwester Nzoy abholte, war er ein Häufchen Elend. Er weinte, hatte fürchterliche Angst. Erst später habe er mit ihr über das Erlebte sprechen wollen, sagt die Schwester. Er war schockiert, dass man ihm im Gefängnis die Schuhbändel abgenommen hatte, um einen Suizid zu verhindern.
Sie habe schon mit ihm geredet, sagt die Schwester. Sie habe ihn aber eher abgeblockt. «Ich machte ihm auch Vorwürfe: ‹Du musst dir deine Freunde besser aussuchen. Du kannst nicht so sein, wie du willst.› Das klang hart, aber es stimmt. Ich sagte ihm: ‹Als schwarzer Junge kannst du dir das einfach nicht leisten.›»
Einmal wartete sie mit ihrem Bruder am Bahnhof Stadelhofen in Zürich, als die Polizei sie überraschte. Sie war eine erwachsene Frau, ihr kleiner Bruder ein Kind an der Schwelle zum Teenager.
Evelyn Wilhelm ist eine Frau, der fast nie die Worte fehlen. Aber wenn sie von der Polizei erzählt, kommt sie manchmal ins Stottern. Dann wirkt es fast, als wäre sie wieder das kleine Mädchen, das sich damals in Duduza im Schrank versteckte.
Die Polizisten gingen direkt auf ihren Bruder zu. Sie konnte nichts dagegen tun.
«Ich sagte den Polizisten: ‹Lasst ihn in Ruhe! Er hat nichts gemacht.› Aber das war denen egal. Sie zogen ihn weg und nahmen ihn auseinander: Ausweis zeigen, an die Wand stehen, Taschen leeren.»
Evelyn raste vor Wut auf die Polizisten. Aber ohnmächtig, wie sie sich fühlte, fuhr sie stattdessen ihren kleinen Bruder an: Das hast du nun davon, dass du die Hosen so tief trägst!
Nzoy wurde ständig kontrolliert. Deshalb trug er immer einen Ausweis mit sich. Gewisse Gegenden in der Stadt mied er. Musste er zum Hauptbahnhof, nahm er manchmal eine Reisetasche mit. Er glaubte, wenn er aussehe wie ein Tourist, würde ihn die Polizei in Ruhe lassen.
Aber Racial Profiling folgt keiner Logik. Und vor der Willkür des Rassismus schützt keine Reisetasche.
Obwohl Nzoy ständig von der Polizei kontrolliert wurde, habe er immer versucht, den Polizisten mit Wohlwollen zu begegnen, sagt Aliya, eine von Nzoys besten Freundinnen.
Er habe versucht, mit ihnen zu reden und ihnen zu sagen: Leute, ihr müsst das nicht tun.
«Ich erinnere mich, wie er einem Polizisten sogar einmal sagte: ‹Ich liebe dich, Mann! Tu mir das nicht an. Du bist mein Bruder. Wir sind alle Brüder.› So redete er mit Polizisten. Er sagte: ‹Warum glaubst du, du müsstest Angst vor mir haben? Warum ziehst du ausgerechnet mich raus? Ich tue nichts. Ich bin nur hier.›»
Aber die Festnahme am See, die vergass Nzoy nie. «Das hat ihn fürs Leben gebrannt», sagt seine Schwester.
Ein paar Monate bevor er nach Morges fuhr, rief er seine Schwester an. Er war völlig verängstigt und sagte, er könne nicht aus dem Haus.
Sie verstand nicht.
Der Junge von damals, sagte er. Der Schulkollege, der im Seefeld Leute ausgenommen hatte.
Jetzt erinnerte sie sich.
Er verfolgt mich, sagte Nzoy. Er ist hinter mir her.
30. August 2021, Bahnhof Morges
17 Uhr 58 und 12 Sekunden. Ein Polizist der ersten Patrouille, die bereits auf dem Perron steht, funkt: «Das scheint ein Messer zu sein in der Hand.»
Er zieht seine Pistole und fordert Nzoy auf, das Messer fallen zu lassen.
Der Polizist steht am Kopf des Perrons Richtung Lausanne. Nzoy bewegt sich weg, in Richtung Genf, wo die zweite Patrouille gerade die Treppen zum Perron hochrennt. In der Einvernahme wird der Polizist später sagen, Nzoy habe das Messer in der Hand gehalten, eng am Körper, und sei den Perron entlanggegangen. Er habe nicht mit dem Messer herumgefuchtelt oder es gegen jemanden gerichtet.
Auch die Polizistin der ersten Patrouille gibt zu Protokoll, Nzoy habe zwar «verloren» gewirkt und «desorientiert», aber «nicht aggressiv»: «Obwohl er ein Messer in der Hand hielt, empfand ich ihn nicht als bedrohlich.»
Die Situation ändert sich schlagartig, als die zweite Patrouille eintrifft.
Die beiden Polizisten eilen die Treppen hoch zum Perron. Polizist K. wird später sagen: «Ich habe mich nicht vorbereitet. Ich bin einfach losgerannt.»
Von weitem sieht er Nzoy und hinter ihm die andere Patrouille. Ein Polizist soll ihn gewarnt haben: «Il a un couteau.»
Die Polizisten umzingeln Nzoy. Die erste Patrouille hinter ihm, Richtung Lausanne. Die zweite Patrouille vor ihm, Richtung Genf. Mindestens ein Polizist hält in diesem Moment die Waffe auf ihn gerichtet.
Nzoy habe «panisch» reagiert, wird der anwesende Mechaniker später in der Einvernahme sagen. Nzoy habe einen Ausweg gesucht. Ein anderer Zeuge sagt, Nzoy sei zunächst auf die Gleise runter, um vor der Polizei zu flüchten. Dann sei er wieder auf den Perron gesprungen und auf die herbeieilende zweite Patrouille zugegangen.
Über Funk sagt ein Beamter: «Wir riskieren nichts auf den Gleisen.» Es klingt, als wolle er deeskalieren. Dann geht es sehr schnell.
17 Uhr 58 und 34 Sekunden.
Die Polizisten verlieren rasch die Kontrolle. Das sieht man auf einem Video, das aus einem wartenden Zug gemacht wurde. Polizist K. ist nur etwa eine halbe Minute auf dem Perron, dann zieht er die Waffe aus dem Halfter.
War Nzoy eben noch ganz ruhig bei den Bahnarbeitern, geht er jetzt auf dem Gleisbett mit schnellen Schritten auf den Polizisten K. zu. Der schaut kurz über die Schulter. Nzoy springt vom Gleisbett auf den Perron. Polizist K. sieht wieder zu Nzoy, geht unsicher rückwärts, nimmt Nzoy ins Visier und streckt die Arme vom Körper, die halbautomatische Pistole im Anschlag. Glock 19, Gen 4, Kaliber 9 mm.
Er hat 15 Patronen im Magazin, Ruag, Typ Action 4, eine Munition, die so schwere Verletzungen verursacht, dass sie im Krieg verboten ist.
Polizist K. feuert zweimal auf Nzoy.
Die erste Kugel streift seine Hand, die zweite trifft die Hüfte, er fällt zu Boden. Der Polizist steckt seine Waffe ein. Nzoy steht langsam wieder auf.
Neun Sekunden dauert es, dann zieht Polizist K. erneut. Er schiesst ein drittes Mal.
17 Uhr 59 und 2 Sekunden.
Nzoy fällt in sich zusammen. Er bleibt liegen.
Tod durch tausend Schnitte
Es gibt ein Video, auf dem man eine Person in flauschigem Bärenkostüm im Zürcher Niederdorf sieht. Der Teddybär steht ganz allein mitten auf dem Platz. Die Passanten beobachten den Riesenteddy, aber niemand weiss, was sie mit einem Bären anfangen sollen, der die Arme ausstreckt.
Dann kommt plötzlich ein junger Mann daher, orange Arbeiterhose, schwarzes Durag auf dem Kopf, dicke Jacke in der Hand, breites Lächeln im Gesicht.
Nzoy.
Als er den Bären sieht, freut er sich wie ein Kind, wirft seine Jacke aus der Hand und fällt dem Bären in die Arme.
So beschreiben ihn seine Freunde und Bekannten: als einen von Grund auf fröhlichen Menschen, der immer für eine Umarmung gut war. Jemand, der da war, wenn sie ihn brauchten. Der das Falsche vom Richtigen trennen konnte. Ein hilfsbereiter, empathischer Freund.
Elle ist eine Begegnung mit Nzoy in besonderer Erinnerung geblieben. Als Teenagerin passte sie auf das Kind einer Freundin auf, die notfallmässig für einige Tage ins Spital musste. Als Nzoy davon hörte, stand er tags darauf mit vollen Einkaufstaschen in der Wohnung: Essen, Süssigkeiten, Geschenke für das Kind.
Er kam auch in den folgenden Tagen vorbei, um das Kind zu hüten, zu putzen oder zu kochen. Die beiden sprachen viel über Afrika und die unterschiedlichen Kulturen in den jeweiligen Herkunftsländern ihrer Familie. Sie redeten über ihr Leben dort und hier. Über die fehlende Akzeptanz in der Schweiz. Über den Wunsch, an einem Ort zu leben, wo die Menschen aussehen wie man selbst. Und die Enttäuschung darüber, dort doch nicht in der Masse verschwinden zu können.
Sie sagt: «Weisse Leute glauben, es sei nicht schlimm, wenn sie ‹Schwarze Maa› spielen. Ist ja nur ein einziges Mal. Aber sie verstehen nicht, dass uns das die ganze Zeit widerfährt – von Kindesbeinen an bis ins Erwachsenenalter. Es sind ganz feine Schnitte, wie mit einem Blatt Papier.»
Über diese Wunden sprach Elle oft mit Nzoy. Elle heisst in Wirklichkeit anders. Sie will als schwarze Frau aber lieber nicht in der Öffentlichkeit stehen.
«Rassismus», sagt Elle, «ist wie der Tod durch tausend Schnitte.»
Nzoy ging neun obligatorische Jahre zur Schule. Danach schlug er sich mit Gelegenheitsjobs durch. Verkäufer, Hilfsarbeiter, Gerüstbauer. Was gerade anstand. Was gerade möglich war. So viel, wie gerade nötig war, um den Lebensunterhalt zu bestreiten. Wichtiger als der Job waren ihm Freundschaft und Gemeinschaft. «Er war schon als Kind furchtlos», sagt Evelyn Wilhelm über ihren Bruder. «Er sagte immer, er sei ein free man.»
Seine Schwester besuchte die Rudolf-Steiner-Schule. Sie ging in die Atelierklasse und studierte an der Zürcher Hochschule der Künste. Als Künstlerin hat sie sich darauf fokussiert, vor allem grosse Bilder auf schweren Materialien zu malen. Nzoy war viel in ihrem Atelier. Er half ihr jeweils, die Leinwände zu spannen und die Gemälde zu transportieren.
Nach dem Tod ihres Bruders hat Evelyn Wilhelm zwar weiter ihre Bilder ausgestellt. Aber gemalt hat sie nie wieder etwas. Seit mehr als dreieinhalb Jahren.
Sie sagt: «Seit mein Bruder tot ist, finde ich einfach den Zugang nicht mehr.»
Verfolgt und verängstigt
Evelyn Wilhelm ging früh zu Bett an dem Abend, als die Polizei auf ihren Bruder schoss. Sie träumte von ihrer verstorbenen Mutter. Ein Albtraum. Die Mutter lag im Sterben und schrie und schrie und schrie – bis Evelyn aufwachte.
Aber natürlich ahnte sie nichts. Wer rechnet schon damit, dass der Bruder erschossen wird? In den USA vielleicht, hatte Evelyn immer gedacht. Oder in Südafrika.
Aber in der Schweiz?
Evelyn und Nzoy hatten einen älteren Bruder. Er war im Südafrika der Apartheid geboren und aufgewachsen. Als er dort irgendwann nicht mehr sicher war, nahm ihn die Mutter zu sich nach Zürich.
«Unser älterer Bruder wäre dort erschossen worden. Oder im Gefängnis gelandet», sagt Evelyn Wilhelm. Darum kam er in die Schweiz.
Nzoy hingegen wollte weg, am liebsten in die USA. Aber seine Schwester sagte ihrem kleinen Bruder: auf keinen Fall.
«Ich hatte Angst um ihn», gesteht sie.
Sie sagte ihrem Bruder: Du bleibst in der Schweiz, hier kann dir nichts passieren.
Im Frühling 2021 verlor Nzoy seinen besten Freund, er starb nach kurzer Krankheit. Das stürzte ihn in eine schwere Krise.
Manchmal fürchtete er sich. Er sah Dinge, die ihm Angst machten.
Der Junge von damals im Seefeld. Oder zehn schwarze Mercedes, die ihm auflauerten.
In guten Momenten merkte er selbst, dass ihm die Realität entglitt. Dass er nicht wirklich verfolgt wurde. Dass es keinen Sinn ergab, dass ein Jugendfreund über zwanzig Jahre später hinter ihm her sein würde.
Evelyn Wilhelm richtete in ihrem Dachstock ein Zimmer für ihren Bruder ein. Er nahm eine Auszeit, ging zu einem Psychiater, nahm Medikamente. Zwei, drei Monate ging es aufwärts. Aber irgendwann wurde das Zusammenleben wieder schwierig.
Nzoy ging nachts besoffen schwimmen, verlor den Schlüssel, kletterte aufs Hausdach und kam nicht mehr runter.
Manchmal schlief er mit einem Messer unter dem Kissen.
Einmal rief er seine Schwester an und sagte, er traue sich nicht aus dem Haus. Wegen des Jungen von damals im Seefeld.
Sie beschwichtigte ihn: Das kann gar nicht sein. Der weiss gar nicht, wo du wohnst. Der erinnert sich nicht an dich. Du siehst heute anders aus.
Evelyn wollte helfen, suchte eine Lösung. Eine Woche bevor Nzoy nach Morges fuhr, rief sie den Notfallpsychiater. Nzoy musste in eine Klinik. Aber er wollte nichts davon wissen. Er riss sich zusammen und spielte dem Psychiater etwas vor. Evelyn war stinksauer. Sie stritt sich mit ihrem Bruder.
Es war das letzte Mal, dass sich die beiden sprachen.
30. August 2021, Bahnhof Morges
«Schussabgabe! Schussabgabe!», funkt ein Polizist. «Schnell, eine Ambulanz!»
17 Uhr 59 und 10 Sekunden.
Der Polizist steht direkt neben dem Schützen K. Auch er hat jetzt seine Waffe gezogen und zielt auf Nzoy, der am Boden liegt.
«Gleis 4, Gleis 4!», sagt der Polizist über Funk.
«Verstanden.»
Der Schütze K. steckt seine Pistole ein und geht auf den verletzten Nzoy zu. Er schaut kurz hin, dann entfernt er sich vom Tatort und fasst sich an den Kopf. Zwei Kollegen halten die Waffe im Anschlag. Einzig die Kollegin beobachtet die Lage ohne Pistole in der Hand.
17 Uhr 59 und 32 Sekunden. Die Zentrale informiert den medizinischen Notfalldienst.
«Der Mann hat noch immer das Messer», meldet ein Polizist der Zentrale. «Ich wiederhole: Der Mann hat noch immer das Messer. Er ist am Boden. Bei Bewusstsein.»
«Ist die Lage noch gefährlich? Bitte antworten.»
«Nein, ich glaube nicht», sagt der Polizist.
«An die Kollegen in Morges», funkt die Zentrale. «Die Ambulanz und der Notfalldienst sind unterwegs, können wir ein paar Informationen haben?»
«Ich habe nicht mehr Infos», sagt der Polizist.
Er funkt das Einzige, was ihm offenbar auffällt: «Un homme de couleur.» Ein schwarzer Mann. «Er liegt am Boden.»
18 Uhr und 8 Sekunden.
Der Polizist nähert sich Nzoy. Er spricht in das Funkgerät. Das ist auf Videoaufnahmen deutlich zu sehen. Aber in den Akten fehlt vom Funkspruch jede Spur. Mit dem Fuss zieht er den linken Arm von Nzoy nach vorne und tritt auf dessen Hand. Die Polizisten der Patrouille 696 nähern sich. Sie fesseln dem regungslosen Nzoy mit Handschellen die Arme hinter den Rücken.
Der Polizist funkt: «Die Person ist am Boden. Sie ist gefesselt. Ich wiederhole: Sie ist gefesselt.»
18 Uhr 01 und 11 Sekunden.
Dann tun die Polizisten – nichts. Zumindest nichts, was wichtig scheint. Sie sammeln Gegenstände ein. Sie ziehen Handschuhe aus und wieder an. Sie telefonieren. Aber niemand spricht mit dem Opfer. Niemand nimmt seinen Puls. Niemand prüft, ob man ihm irgendwie helfen könnte.
Die Polizisten drehen Nzoy auf die Seite. Dabei kommt ein Gegenstand zum Vorschein. Ein Steakmesser, schwarzer Griff, Klingenlänge 12,5 Zentimeter. Ein Polizist zieht es mit den Füssen weg.
18 Uhr 03 und 40 Sekunden.
Ein Passant bietet Hilfe an. Er ist von Beruf Notfallsanitäter und hat die Szene vom Zug aus beobachtet. Seine Schicht ist gerade zu Ende gegangen, er wollte nach Hause fahren, als er über das Notrufsystem einen Alarm sah. In einer Einvernahme sagt er später, er habe sofort gesehen, dass Nzoy einen Herz-Kreislauf-Stillstand erlitten hatte.
Die Polizisten legen Nzoy auf die Seite. Der Sanitäter zieht Handschuhe an und kniet sich neben ihn.
18 Uhr 05 und 30 Sekunden.
Erst jetzt erhält Nzoy Hilfe. Nicht von der Polizei, sondern von einem zufällig anwesenden Passanten. Sechseinhalb Minuten sind vergangen, seit Polizist K. den dritten Schuss auf Nzoy abgegeben hat.
In einer Dokumentation des Recherchebüros Border Forensics vom November 2023 ist sichtbar, dass sich Nzoy in dieser Zeit fünf Mal bewegt, während die Polizisten tatenlos um ihn herumstehen.
Nzoy hebt den Brustkorb.
Nzoy bewegt die Schulter.
Nzoy bewegt den Arm.
Das fällt auch den Polizisten auf. Einer wird später in einer Einvernahme sagen, er habe gesehen, dass sich der Oberkörper von Nzoy bewegte. Ein anderer hörte Nzoy stöhnen, aber, so sagt er, er habe keine Zeit gehabt, den Gesundheitszustand des Opfers zu prüfen. «Alles ging sehr schnell.»
18 Uhr 05 und 48 Sekunden.
Der Sanitäter presst beide Hände auf den Oberkörper von Nzoy. Er kämpft um sein Leben. Erst jetzt löst ein Polizist die Handschellen.
Der Tag danach
Es dauerte fast einen Tag, bis Evelyn Wilhelm erfuhr, was geschehen war. Am Dienstagmittag klingelte ihr Handy. Der Vater von Nzoy.
Sie haben ihn gefunden, sagte er.
Super!, antwortete Evelyn.
Genau wie es der Psychiater prophezeit hatte, dachte sie. Frau Wilhelm, hatte er gesagt, im schlimmsten Fall wird ihr Bruder von der Polizei aufgegriffen und in eine Klinik gebracht.
Das hatte sie beruhigt. Klinik. Medikamente. Und nach ein paar Wochen wäre ihr Bruder wieder der Alte: ein fröhlicher Mensch, der andere mit seiner Lebensfreude ansteckte.
Nichts ist super, sagte der Vater am Telefon. Sie haben ihn erschossen.
Erschossen?
Es ist schon überall in den Medien, sagte Nzoys Vater. Er gab ihr die Nummer eines Polizisten. Der sagte, die Polizisten hätten sofort versucht, ihren Bruder zu retten, aber er habe es leider nicht geschafft.
Evelyn Wilhelm glaubte nicht, was sie hörte. Sie musste raus, sofort raus an die frische Luft.
Draussen nahm sie irgendwann das Smartphone in die Hand und öffnete ein Newsportal. Zuerst stach ihr ein Bild ins Auge, auf dem sie die Beine ihres Bruders zu sehen glaubte. Dann entdeckte sie die Videos.
Sie klickte drauf.
Sie sah, wie ihr Bruder erschossen wurde. Sie sah, wie er am Boden lag. Sie sah, wie die Polizisten mit ihren Füssen die Arme und Beine ihres Bruders herumschoben.
Sie sah, dass niemand ihm half. Minutenlang.
Sie rief den Polizisten an und schrie ins Telefon.
Sie haben mich angelogen! Niemand hat Erste Hilfe geleistet. Niemand hat meinem Bruder geholfen. Keiner der vier Polizisten.
30. August 2021, Bahnhof Morges
Um 18 Uhr und 9 Minuten trifft der medizinische Notfalldienst am Bahnhof ein, die Ambulanz eine Minute später. Sieben Ermittler machen sich auf den Weg nach Morges. Sie hören Zeugen an, sichern den Tatort.
Der Tod von Nzoy wird jetzt zum Aktenzeichen: PE21.0151554.
Den Fall übernimmt kein Geringerer als Laurent Maye, stellvertretender Generalstaatsanwalt des Kantons Waadt. Er leitet die Abteilung für Sonderfälle, die jeweils gegen eigene Polizisten ermittelt. Ein Job, der ein stabiles Rückgrat verlangt.
Allen ist klar, wie heikel die Angelegenheit ist. Nzoy ist das vierte Opfer tödlicher Polizeigewalt in der Waadt innerhalb von viereinhalb Jahren. Alle Opfer waren schwarze Männer: Hervé Mandundu, Lamin Fatty, Mike Ben Peter. Und nun: Nzoy.
Maye führte schon die Untersuchung gegen sechs Lausanner Polizisten, die im Winter 2018 den 40-jährigen Nigerianer Mike Ben Peter festgenommen hatten. Die Verhaftung eskalierte. Die Polizisten schlugen Ben Peter und hielten ihn in Bauchlage fest, bis er sich nicht mehr rührte. Er starb noch in derselben Nacht.
Der Staatsanwalt erhob Anklage. Aber im Gericht argumentierte er so seltsam, dass sich alle fragten, ob er gegen die Polizisten oder das Opfer klagte. Am Ende schlug er sich gar auf die Seite der Verteidigung und forderte Freisprüche für die Polizisten. Das Gericht folgte ihm: Die sechs Polizisten hätten verhältnismässig gehandelt. Nach dem Urteil kam es im Gerichtsgebäude zu Tumulten und Handgreiflichkeiten.
Perron 4 am Bahnhof Morges wird jetzt abgesperrt. Polizisten stellen ein Zelt auf als Sichtschutz. Sie lichten den Tatort mit einer 360-Grad-Kamera ab. Sie suchen nach Spuren, nach Patronenhülsen, nach Kleidern und persönlichen Gegenständen von Nzoy. Sie fotografieren alles.
Am Abend werden schweizweit die Polizeikorps nach Informationen zu Nzoy befragt. Die Zürcher Kantonspolizei meldet tags darauf, dass ihr Nzoy bekannt sei.
Als diese Information öffentlich wird, klingt es, als wäre Nzoy ein polizeibekannter Krimineller. Aber die Zürcher kennen Nzoy, weil sie ihn 24 Jahre zuvor als 13-jährigen Teenager einsperrten und Fingerabdrücke nahmen. Zur Abschreckung.
In schlechtem Zustand
Der Vater staunte, als Nzoy plötzlich vor der Tür stand. Die beiden hatten nie ein gutes Verhältnis gehabt. Und trotzdem war sein Sohn zu ihm gekommen. Das war eine Woche vor seinem Tod.
Nzoy erzählte dem Vater, er habe sich mit der Schwester gestritten. Nzoy wollte nicht in eine Klinik, stattdessen kreuzte er jetzt beim Vater auf, in einem kleinen Dorf im Kanton Zürich. Nzoy machte einen schlechten Eindruck.
Bei sich zu Hause wollte der Vater seinen Junior nicht unterbringen. Er buchte ein günstiges Zimmer in einem Hotel, Zum Löwen, gleich hinter der deutschen Grenze. Er zahlte 400 Euro im Voraus für einen Monat und hinterliess 400 Euro Kaution. Dann drückte er seinem Sohn ein Handy in die Hand – Nzoy hatte seins liegen gelassen, er war wirklich von der Rolle. Der Vater gab ihm Geld für eine SIM-Karte und ein Tablet.
Dann hörte er für den Moment nichts mehr von seinem Sohn.
Ein paar Tage vor seinem Tod sass Nzoy auf einer Wiese auf einem Privatgrundstück und sprach mit Jesus. Daraufhin muss jemand die Rettung verständigt haben. Denn ein Krankenwagen kam und brachte Nzoy ins Spital. Ein Arzt diagnostizierte bei ihm eine paranoide Schizophrenie, eine psychotische Episode.
Auf der Anordnung für eine fürsorgerische Unterbringung steht: «Zusammenfassend besteht eine Selbstgefährdung und möglicherweise eine Fremdgefährdung.» Nzoy blieb über Nacht.
Am nächsten Tag ging es Nzoy offenbar besser, der Arzt entliess ihn «im stabilisierten Zustand». Er verschrieb ihm das Antipsychotikum Zyprexa, Schmelztabletten, 20 Milligramm, zur Einnahme abends vor dem Zubettgehen.
Am Samstag, zwei Tage vor den tödlichen Schüssen in Morges, besuchte der Vater Nzoy im Hotel. Sein Sohn, sagte der Vater später der Polizei, sei nervös gewesen und konnte nicht still sitzen. Er sei «in einem sehr schlechten psychischen Zustand» gewesen. In eine Klinik aber wollte er nicht. Und der Vater wollte ihn nicht dazu zwingen.
Am Sonntagabend klingelte das Handy des Vaters. «Nzoy Wilhelm» stand auf dem Display. Nzoy sagte, er wolle nun doch in die Klinik.
Am Montagmorgen, dem 30. August 2021, steht der Vater im «Löwen» und wartet auf Nzoy. Aber vom Sohn fehlt jede Spur.
30. August 2021, Bahnhof Morges
Es ist 21.30 Uhr, als die Rechtsmediziner beginnen, den Leichnam von Nzoy zu untersuchen. Anwesend ist neben dem medizinischen Personal und einigen Polizisten auch der fallführende Staatsanwalt Maye.
Die Rechtsmedizin untersucht den Hergang des Todes. Sie stellt in den folgenden Tagen fest: Zwei von drei Patronen stecken im Körper, eine davon im rechten Bauchmuskel. Sie hatte die linke Beckenarterie und die Hohlvene durchlöchert.
Laut Rechtsmedizin führte das «in sehr kurzer Zeit» zu tödlichen inneren Blutungen. Von aussen war das nicht sichtbar. Ob die Polizisten sich strafbar machten, indem sie es unterliessen, Nzoy rasch zu helfen, wäre von einem Gericht zu klären.
Der toxikologische Bericht hält fest, dass Nzoy keinen Alkohol im Blut hatte. Eine Urinprobe zeigt, dass er keine Drogen nahm.
Am Körper finden die Medizinerinnen einen Patch eines EKG-Geräts. Tatsächlich hatte Nzoy am frühen Montagmorgen die Notaufnahme des Unispitals Zürich aufgesucht. Er klagte über Schwindel und hörte «kommentierende Stimmen». Die Ärzte vermuteten eine akute Psychose und empfahlen deshalb die Betreuung durch einen Psychiater. Doch Nzoy verliess den Notfall kurz vor 9 Uhr – ohne EKG oder psychiatrische Untersuchung. Möglicherweise suchte er bis zum Mittag noch ein weiteres Spital auf, ehe er in den Zug Richtung Westschweiz stieg. Das Zürcher Unispital sah keine Hinweise auf selbst- oder fremdgefährdendes Verhalten.
18 Uhr und 31 Minuten.
Die Ambulanz stellt offiziell den Tod von Roger Michael «Nzoy» Wilhelm fest. Er war 37 Jahre alt.
Letzte Reise
Vor dem Krematorium Sihlfeld flimmern Fotos von Nzoy über den Bildschirm: Nzoy als Baby im Arm seiner Mutter, Nzoy mit Freunden auf einer Wiese, Nzoy bei einem Videoshooting. Man sieht einen hochgewachsenen, gut aussehenden Mann mit feinem Schnauz und langen schwarzen Locken. Auf den Videos lächelt er glücklich, die Augen zu einem Strich gezogen, grinst er in die Kamera und sagt mit warmer Stimme: «I appreciate you all. Peace!»
Der Pfarrer stellt die Urne neben ein Porträt von Nzoy. Zu seiner Rechten sitzen Evelyn Wilhelm, ihr älterer Bruder und enge Freunde von Nzoy. Zu seiner Linken der Vater von Nzoy mit Frau und Kindern.
Der Pfarrer war einer von Nzoys engsten Vertrauten, seit er ihn vor 15 Jahren in einem Fluss getauft hatte. In einer seiner letzten Nachrichten schrieb Nzoy dem Pfarrer, er habe gerade nicht viel zu lachen. Er schickte ihm ein Bild von Jesus, umringt von Engeln. «I’m not alone», schrieb Nzoy.
«Wenn», sagt der Pfarrer jetzt zur Trauergemeinde, «wenn Roger auf dem Bahnhof einen Polizisten mit einem Messer bedroht hat, dann war das Ausdruck einer tragischen Verwirrtheit.»
Wenn – das Wort wiegt schwer in diesen Tagen.
Die Trauernden haben alle die News-Berichte gelesen mit den Darstellungen der Polizei. Da war vom «Messer-Droher» die Rede, von Erinnerungen an ein islamistisches Attentat, das sich ein Jahr zuvor in Morges ereignet hatte.
Aber die Angehörigen bestreiten, dass Nzoy gefährlich gewesen sei. Wenn überhaupt, war er eine Gefahr für sich selbst. Die Polizisten, sagen die Angehörigen, hätten die Lage völlig falsch eingeschätzt.
«Ein dunkelhäutiger Mann am Beten, da dachten die wohl: Das muss ein Terrorist sein», sagt Evelyn Wilhelm. Dabei hätte ihr Bruder nur etwas gebraucht: Hilfe.
Auch Experten wie der Psychotherapeut und Psychologie-Professor Udo Rauchfleisch sagen nach Studium von Videos, Funksprüchen und Zeugenaussagen in den Untersuchungsakten, dass Nzoy nicht aggressiv oder gefährlich gewesen sei, sondern ängstlich und zurückgezogen. Bis die Polizei ihn umzingelte. «Das Messer zog er erst, als er sich bedroht fühlte.»
Die Polizei habe falsch reagiert. «Wenn man mit vier Leuten auf einen psychotischen Menschen aufrückt, ist vorprogrammiert, dass die Lage eskaliert.»
Dass Nzoy bedrohlich gewirkt habe, ist denn auch die Darstellung von Polizisten, die fürchten mussten, wegen eines Tötungsdelikts zur Rechenschaft gezogen zu werden. In anderen Fällen würde man ihre Aussagen als Schutzbehauptung abqualifizieren.
Der Polizist, der Nzoy tötete, äusserte sich in den Einvernahmen widersprüchlich.
Anfangs wollte er noch gesehen haben, wie sich «die Sonne in der Klinge spiegelte», nachdem er zweimal auf Nzoy geschossen hatte. In einer späteren Einvernahme korrigierte sich der Polizist, er erinnere sich doch nicht daran. «Ich erinnere mich auch nicht, das Messer gesehen zu haben, als er davor auf mich zurannte», sagte er dem Staatsanwalt.
Kann seine Aussage, er habe gefürchtet, tödlich verletzt zu werden, stimmen? Ist es korrekt, von legitimer Notwehr zu sprechen, wenn der Polizist gar keine Waffe sah?
Der Polizist will auf Anfrage keinen Kommentar zur Sache abgeben.
Die andere Frage, die die trauernden Angehörigen umtreibt, ist, warum die Polizisten Nzoy nicht sofort Erste Hilfe leisteten. Warum erst ein Passant ihm half.
Und natürlich, ob das alles, also die Angst vor Nzoy, der schnelle Griff zur Pistole, die Untätigkeit nach den Schüssen – ob das alles anders gelaufen wäre, wäre Nzoy nicht schwarz gewesen.
Der Pfarrer berichtet der Trauergemeinde, wie Evelyn Wilhelm nach dem Tod ihres Bruders die aufgeschlagene Bibel auf seinem Bett fand, Altes Testament, Buch der Sprüche.
Dort heisst es: «Greif ein, wenn das Leben eines Menschen in Gefahr ist. Tu, was du kannst, um ihn vor dem Tod zu retten.»
«Tragischerweise», sagt der Pfarrer, «sind das vielleicht die letzten Worte, die Roger mitnahm auf seine letzte Reise.»
Hätte Nzoy überlebt, wäre er nicht schwarz gewesen?
Vielleicht hat der Anwalt der Angehörigen einmal die treffendste Antwort dazu gegeben: «Nzoy wurde nicht getötet, weil er schwarz war. Aber er ist tot, weil er nicht weiss war.»
Keine Gerechtigkeit, kein Frieden
Evelyn Wilhelm steht vor dem Justizpalast in Renens, einem mächtigen, kalten Bürogebäude aus Stahl und Glas. Die Sonne brennt auf ein paar Dutzend Aktivistinnen, die mit Plakaten und Transparenten um sie herum stehen. Sie trägt ihre Locken offen, die Tasche über der Schulter. Flip-Flops, weisse Hose, weisses Shirt. Auf ihrem Rücken prangt schwarz auf weiss das Konterfei ihres Bruders, wie es mittlerweile auf zahllosen Plakaten und Aufklebern in der ganzen Schweiz zu sehen ist.
Darüber steht: «Justice 4 Nzoy».
Es ist der 8. Juli 2024, drei Jahre sind seit dem Tod ihres Bruders vergangen. Noch immer dauert die Strafuntersuchung an, aber es sieht ganz danach aus, als würde der Staatsanwalt die Sache fallen lassen wollen. Evelyn Wilhelm und weitere Angehörige haben sich einen Anwalt genommen. Sie zählen darauf, dass die Erschiessung von Nzoy dereinst vor Gericht kommt.
Der heutige Tag ist eine Art Hauptprobe.
Evelyn Wilhelm will wissen, wie sich das anfühlen wird, wenn sie als Angehörige und Privatklägerin im gleichen Saal sitzt wie der Mann, der ihren Bruder tötete. Vorne der Richter, links der angeklagte Polizist, rechts der Staatsanwalt, hinten zwei Dutzend Journalistinnen und nochmals so viele Zuschauer.
Im Justizpalast von Renens beginnt an diesem Tag der zweitinstanzliche Prozess gegen sechs Polizisten, die 2018 am Einsatz beteiligt waren, bei dem der 39-jährige Familienvater Mike Ben Peter starb.
Das juristische Personal würde im Fall Nzoy ähnlich sein: derselbe Staatsanwalt, dieselbe Verteidigerin.
Odile Pelet, die Anwältin, auf die die Polizisten zählen, vertrat in drei der vier Fälle tödlicher Polizeigewalt in der Waadt jeweils einen beschuldigten Polizisten. Immer mit Erfolg.
Evelyn Wilhelm zögert. «Soll ich wirklich rein?»
Drei Stunden ist sie hergefahren, aber jetzt, wo es vor dem Gericht und im Gericht von Polizisten wimmelt, würde sie am liebsten umkehren.
Die Zuschauerzahl ist beschränkt und der Saal eigentlich schon voll, aber ein Aktivist erkennt sie, die Schwester des getöteten Nzoy. Er drückt ihr einen weissen Zettel in die Hand, Nummer 32, steht darauf. Der Zettel gewährt ihr Eintritt in den Gerichtssaal.
Drei Jahre sind seit dem Tod von Nzoy vergangen. Und während Evelyn Wilhelm vorher an Vernissagen oder in Galerien anzutreffen war, sass sie in den letzten drei Jahren häufig in muffigen Kellern, besetzten Häusern und selbstverwalteten Ateliers. Sie verteilte Aufkleber und Flyer. Sie verkaufte T-Shirts und Pullover. «Justice 4 Nzoy» ist nicht nur eine Forderung, ein Slogan, er steht mittlerweile auch für ein politisches Bündnis und für eine Kommission zur Aufklärung der Wahrheit mit hochkarätigen Anwältinnen, Juristen, Wissenschaftlerinnen. Rechercheure durchforsten in ihrem Auftrag die Untersuchungsakten und tun die Arbeit, die eigentlich der Staatsanwalt erledigen sollte. Evelyn Wilhelm trat auf in Lausanne, in Morges, in Zürich, in Basel, in Genf, in Paris. Sie war Gästin an Informationsanlässen wie an Fussballturnieren. Sie sprach in Podcasts und in Fernsehdokumentationen. Selbst ein UN-Gremium hörte sie an. Evelyn Wilhelm ist die zentrale Figur geworden, die das Andenken an ihren Bruder bewahrt.
Aber ein Gedanke plagt sie seit dem Tod ihres Bruders: dass es kein faires Verfahren gibt, dass sie keine Gerechtigkeit findet.
«Der Staatsanwalt hat uns von Anfang an schikaniert», sagt Evelyn Wilhelm.
Er habe versucht, sie auf dem Rechtsweg vom Verfahren fernzuhalten, ihr den Zugang zu den Akten zu verwehren. Er wollte sie nicht als Privatklägerin zulassen. Die ersten Tage nach dem Tod ihres Bruders verbrachte sie tatsächlich damit, dem Staatsanwalt zu beweisen, dass sie Nzoys Schwester war, dass die beiden eine enge Beziehung pflegten. Sie reichte Briefe ein, Chatnachrichten, Anruflisten …
«Schande über euch!», rufen die Aktivisten jetzt vor dem Gericht. «Justice raciste, police raciste!»
Das Gericht hat soeben die Polizisten im Fall Mike Ben Peter freigesprochen. Der Polizeikommandant spricht in eine Fernsehkamera: «Ich bin hochzufrieden.»
Evelyn Wilhelm setzt sich in ein von der Sonne überhitztes Auto und macht sich auf den Heimweg. Die Freisprüche haben sie aus der Fassung gebracht. Es ist, als wäre eine Welt zusammengefallen.
Oder war es vielleicht schon immer nur ein Kartenhaus?
«Alles ist den Polizisten erlaubt», sagt sie. «Sie machen immer alles richtig. Immer.» Sie schüttelt den Kopf.
«Kein Rassismus, sagte der Richter! Hast du das gehört? Egal was die Polizisten tun, sie machen alles richtig. Es ist immer das Opfer, das aggressiv ist. Unglaublich.»
Evelyn Wilhelm wusste, dass es schwierig ist vor Gericht. Sie wusste, dass Polizisten in der Schweiz so gut wie nie verurteilt werden. Aber vor Augen geführt zu bekommen, wie gnadenlos das Gericht die Anklage im Fall Mike Ben Peter versenkt – das löscht den kleinsten Funken Hoffnung in ihr.
Wenige Monate später tritt ein, was Evelyn Wilhelm schon befürchtet hatte: Ende November 2024 stellt der Staatsanwalt Laurent Maye das Verfahren im Fall Nzoy eigenmächtig ein. Entgegen dem Anklageprinzip in dubio pro duriore bringt er die Angelegenheit nicht einmal vor ein Gericht. Der beschuldigte Polizist sei einem so schweren Angriff ausgesetzt gewesen, dass er weder Zeit noch Mittel gehabt hätte, anders zu reagieren als mit der Schusswaffe. Er habe gesetzeskonform gehandelt und die Verhältnismässigkeit gewahrt.
Was jetzt?
«Sie haben meinen Bruder totgeschossen», sagt Evelyn Wilhelm. Was bleibt ihr anderes übrig, als weiterzumachen. Ihr Anwalt hat die Einstellung angefochten. Er wird notfalls bis nach Strassburg gehen, um für einen Prozess zu kämpfen.
Evelyn Wilhelm möchte bald nach Südafrika reisen. Sie will dort die Urne ihres Bruders beisetzen. «Ich habe ihm nach seinem Tod versprochen, dass er Frieden finden könne.»
Sie will sich auch nach einem neuen Zuhause umsehen. «Ich kann nicht in einem Land alt werden, wo einfach nichts geschieht, wenn man jemanden tötet. Wie soll ich so je damit abschliessen können?», sagt sie. «Ich finde hier keine Ruhe und keine Gerechtigkeit.»
▻https://www.republik.ch/2025/02/22/17-uhr-59-und-10-sekunden
#violences_policières #Suisse #décès #Nzoy #justice #impunité #justice