Der Autor Tschernyschewskij wurde vor 180 Jahren geboren: Erfolgsstory des utopischen Romans „Was tun?“
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Le nihilisme est une invention russe. Et alors?
23.7.2008 - Kein Roman von Turgenjew, kein Werk von Tolstoj habe einen so tiefen Einfluss auf die russische Jugend ausgeübt wie Nikolaj Tschernyschewskijs Roman „Was tun?“, urteilte der russische Anarchist Pjotr Kropotkin.
Tschernyschewskijs programmatischer Roman, der gleich nach Erscheinen 1863 in Russland verboten wurde, wäre heute ein Bestseller geworden; seine Abschrift kursierte im Untergrund und sein Autor war populär wie Paulo Coelho. Zwar ist der Vergleich gewagt, der weltanschauliche Gegensatz könnte konträrer nicht sein; nicht die spirituelle Suche nach innerer, sondern die nach äußerer Freiheit bestimmten Tschernyschewskijs Denken, seine Ideen zur Umgestaltung der Gesellschaft orientierten sich an der Dialektik Hegels, an den französischen Sozialutopien Saint-Simons, Blancs und Fouriers und am Materialismus Ludwig Feuerbachs. Aber etwas Wesentliches ist Tschernyschewskij und Coelho dennoch gemeinsam: Nicht literarisches Genie, sondern das Schreiben aus dem inneren Auftrag, die Menschen glücklicher zu machen, begründet ihre Wirkung.Auf dem Fundament der säkularisierten Erlösungsreligion werden Strategien für das Glück im Diesseits entwickelt, auch wenn die Fragen im autokratischen Russland des 19. Jahrhunderts andere waren als die einer globalen Massengesellschaft.
Unser Glück ist unmöglich ohne das Glück der anderen, lautet ein Schlüsselsatz aus „Was tun?“, das den Untertitel „Aus Erzählungen von neuen Menschen“ trägt und ein ethisches Konzept auf der Basis des „vernünftigen Egoismus“ enthält: Vernünftig sind vorteilhafte oder befriedigende Handlungen, allerdings unter der Prämisse, dass das Glück anderer die größte Befriedigung verschaffe - ein christlich anmutendes Motto zu einem Buch, das in tiefer Überzeugung von der propagierten Vision einer besseren Welt verfa sst ist. Denn, so lautet die Antwort auf „Was tun?“, erst die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse kann das Gute im Menschen wirksam werden lassen.Erzählt wird die Geschichte der Wera Pawlowna, die der Medizinstudent Lopuchow vor einer arrangierten Ehe bewahrt und den Fesseln ihrer despotischen Familie entreißt, indem er sie „entführt“ und heiratet. Um ihr die Selbstbestimmung über ihr Leben zu ermöglichen, leben die beiden wie Geschwister in getrennten Zimmern, Lopuchow berät seine Frau bei ihrer Lektüre und respektiert ihren Wunsch nach finanzieller Eigenständigkeit, indem er sie bei der Gründung einer Näherinnen-Genossenschaft unterstützt. Als sie sich in seinen besten Freund, den Arzt Kirsanow verliebt, ermöglicht er den beiden selbstlos das Eheglück und begeht dazu zum Schein Selbstmord. Lopuchow taucht später unter neuem Namen wieder in Petersburg auf und heiratet eine Genossin aus der Schneiderwerkstatt, die beiden Familien leben fortan unter einem Dach nach den Idealen der „neuen Menschen“.
Der Diskurs über politische und soziale Fragen erfolgte angesichts der rigiden Zensur über die Literaturkritik in den so genannten „dicken Journalen“. In einem solchen, dem „Zeitgenossen“, wurde „Was tun?“ 1863 abgedruckt. Sein Autor hatte den Roman als politischer Häftling der berüchtigten Peter-Pauls-Festung in St. Petersburg geschrieben; das herausgeschmuggelte Manuskript hatte versehentlich die Zensur passiert und wurde sofort nach Erscheinen verboten. Die radikale Utopie von „Was tun?“ wurde zur Bibel der „Nihilisten“. Die revolutionäre Jugend eiferte den Vorbildern aus „Was tun?“ nach. In Scharen zog sie in den 1870er-Jahren aufs Land, um die bäuerliche Bevölkerung aufzuklären, gründete Sonntagsschulen und Kooperativen, lebte in Kommunen und schloss fiktive Ehen.Nikolaj Tschernyschewskij wurde am 24. Juli 1828 in Saratow geboren und stammte aus einer armen Popenfamilie. Er besuchte das Priesterseminar in Saratow, studierte in Petersburg Literatur und Philosophie und übernahm dort die Redaktion des „Zeitgenossen“, der einflussreichsten Literaturzeitschrift seiner Zeit. Als einer der ersten aus bürgerlichen Verhältnissen eroberte er sich einen Platz innerhalb der bis dahin aristokratisch dominierten Intelligenz. An seiner Figur entzündete sich der Konflikt zwischen zwei Generationen, wie ihn Turgenjew in seinem Roman „Väter und Söhne“ beschrieb und Dostojewskij in den „Dämonen“ aufgriff: zwischen den aristokratischen Liberalen der 1840er-Jahre und den radikalen Demokraten der 1860-Jahre, den nicht-adeligen „Rasnotschinzy“ (Vertreter unterschiedlicher „Ränge“). Diesen ging die politische Opposition gegen die Autokratie nicht weit genug. In seiner Aufsehen erregenden Dissertation „Die ästhetischen Beziehungen der Kunst zur Wirklichkeit“ (1855) verwarf Tschernyschewskij die idealistische Ästhetik: Schön ist, „worin wir das Leben so sehen, wie es unserer Meinung nach sein soll“. Die Aufgabe der Kunst dürfe sich nicht auf Ästhetik beschränken, es ginge darum, die Realität abzubilden, zu erklären und zu bewerten.1862 wurde Tschernyschewskij verhaftet und nach zweijähriger Untersuchungshaft nach Sibirien verbannt. Erst 1889 wurde ihm die Rückkehr nach Saratow gestattet, wo er im selben Jahr starb.
Der Titel seines Romans wird mittlerweile mit einem anderen Autor in Verbindung gebracht, mit Lenins 1902 verfasstem Hauptwerk. Entliehen hatte dieser den Titel bei Tschernyschewskij, von dem er sagte, er habe ihn „am Anfang seines revolutionären Weges von Grund auf geistig umgepflügt“.Heute wirkt die lebensfremde Utopie in „Was tun?“ naiv und zugleich ungeheuer modern, insbesondere in der radikalen Forderung nach Gleichberechtigung der Geschlechter. Autonome Frauengruppen, Kommunen, Experimente gesellschaftlicher Aufklärung in der Arbeiterschaft: So manches bereits in Russland erprobte Konzept wurde hundert Jahre später in der Studentenbewegung aufgegriffen.
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