13.11.2021 von Wassilis Aswestopoulos - Ist die Presse nun „vierte Gewalt“, oder soll sie Politiker lieber nach ihrer Leibspeise fragen?
Eklat bei Pressekonferenz: Wer über Pushbacks reden will, beleidigt angeblich das griechische Volk. Eine niederländische Journalistin bekommt dafür einen Shitstorm der Extraklasse
In Griechenland wird aktuell über die Frage diskutiert, was Journalismus darf - und was nicht. Wichtigster Anlass dafür ist eine harsche Frage, welche die niederländische Journalistin Ingeborg Beugel am Dienstagabend bei einer gemeinsamen Pressekonferenz von Premierminister Kyriakos Mitsotakis und dessen niederländischen Amtskollegen Mark Rutte stellte. Mitsotakis antworte harsch und wütend. Der Vorfall war internationalen Agenturen und Medien eine Nachricht wert.
In Griechenland selbst führte er zu einem sexistischen Shitstorm griechischer Kollegen gegen Beugel. Das International Press Institute verurteilt „Versuche, eine niederländische Journalistin zu beleidigen und deren Arbeit zu diskreditieren“. Beugel wurde in regierungsnahen Medien als „türkische Agentin“ gebrandmarkt.
Der Premier und die direkte Frage
Bei Staatsbesuchen im Amtssitz des Premierministers herrscht folgendes Procedere: Die beiden Staatschefs stellen sich nach einer kurzen Einlassung den Fragen ausgewählter Journalisten. Die meisten Fragemöglichkeiten erhalten einheimische Medien und internationale Agenturen. Unter den Journalisten, die für Medien des Gastlandes arbeiten, wird ebenfalls ein Vertreter ausgelost, wenn es mehr als einen für den Besuch akkreditierten Journalisten gibt. Beugel war nicht über die griechischen Institutionen, sondern vielmehr über die niederländische Botschaft akkreditiert worden.
Die Pressekonferenz wurde live im Fernsehen übertragen und auf den Kanälen des Premierministers im Internet geteilt. Der aktuelle Vorfall ist auf dem offiziellen Youtube Kanal von Premier Mitsotakis abrufbar. Beugel, mit einem auffälligen großen Hut und farblich passender Maske gekleidet, stellt ihre Frage ab Minute 20.30.
Sie vertritt ihr Anliegen forsch und durchaus aggressiv. Sie fordert beide Regierungschefs indirekt auf, nicht mehr über die Pushbacks an der griechisch-türkischen Grenze und die Zustände in den griechischen Lager zu lügen, „wann hören sie endlich auf zu lügen?“. Die mehrteilige Frage ist gespickt mit Vorwürfen, in denen das Lügen der Politiker als „narzisstischer Missbrauch“ gebrandmarkt wird.
Beugel fragt auch, warum sich Griechenland den schwarzen Peter zuschieben lasse, und nicht selbst offensiv die EU zu mehr Solidarität für Geflüchtete dränge und auf Umverteilung der Menschen poche. An Rutte gerichtet fragte sie, warum dieser sich weigere, den niederländischen Gemeinden, die Flüchtlinge aufnehmen wollen, die Erlaubnis dafür zu erteilen.
Mitsotakis reagiert sofort gereizt. Er meint, dass er die in den Niederlanden geübte, in Griechenland jedoch unbekannte Praxis der „direkten Frage“ respektiere, aber er „akzeptiere nicht, dass Sie in diesem Amtssitz mich und das griechische Volk beleidigen, und Anschuldigungen und Ausdrücke benutzen, die nicht mit Fakten belegbar sind“.
Mitsotakis ließ sich also provozieren und redete sich in Rage. In der Folge fuhr er die Journalistin heftig an: „Waren Sie auf Samos?“. Beugel antwortete: „Ja ich war auf Samos.“ Mitsotakis schrie, „Nein, Sie waren nicht auf Samos!“ Es entwickelte sich ein scharfer, kurzer Dialog, den Mitsotakis abbrach, indem er der Journalistin das Wort entzog.
Tatsächlich war Beugel mit Erlaubnis der Regierung und von einem Regierungsvertreter geführt, eine der ersten Journalistinnen, welche Einblick in das neue, gefängnisartige Lager bekam. Sie veröffentlichte dazu im Mai einen kritischen Artikel. Mitsotakis‘ Aussagen während der Pressekonferenz widersprachen in mehreren Fällen den Fakten.
So bestritt er, dass die griechische Wasserschutzpolizei jemals an Pushbacks beteiligt gewesen sei. Tatsächlich aber hat die Europaabgeordnete der Nea Dimokratia, Maria Spyraki, bereits im Juni 2017 eine derartige Praxis in einer parlamentarischen Anfrage im Europaparlament zur Sprache gebracht. Damals war Mitsotakis Oppositionsführer. 2018 wiederholte Miltiadis Varvitsiotis, seinerzeit Schattenminister von Mitsotakis für Migration, heute stellvertretender Minister im Außenministerium, die Anschuldigung, dass Griechenlands Küstenwache Pushbacks praktiziere, im Parlament.
Heute sieht Mitsotakis allein in der Frage nach Pushbacks, die jedoch sein amtierender Migrationsminister Notis Mitarachi laut einem Bericht der staatlichen Nachrichtenagentur untersuchen lassen will, eine Beleidigung des griechischen Volkes. Allerdings verlangt auch die EU-Kommission Aufklärung und hält für Athen vorgesehene Geldmittel zur Finanzierung des Etats des griechischen Migrationsministeriums vorerst zurück.
Das Privatleben der Journalistin wird durchleuchtet
All dies hindert griechische Medien nicht daran, der seit mehr als drei Jahrzehnten in Griechenland lebenden Beugel allein wegen der Frage nach Pushbacks vorzuwerfen, sie betreibe „türkische Propaganda“. Über Twitter wiederholte der Anchorman des Senders ANT1, Herausgeber der Zeitung Real News und Leiter der Radiostation Real News, Nikos Chatzinikolaou, diese Anschuldigung.
Chatzinikolaou, bis zum Januar 2021 Vorsitzender des griechischen Verlegerverbands, lieferte sich auf sozialen Medien mit Usern, die ihm widersprachen, mit Schimpfwörtern und Fäkalsprache gespickte Duelle. In der Hauptnachrichtensendung von SKAI TV ließ sich Sia Kossioni, zufällig mit dem Neffen des Premiers, Kostas Bakoyiannis verheiratet, mit einem Kommentator darüber aus, dass Mitsotakis zu sanft auf die Äußerungen von Beugel reagiert habe.
Bakoyiannis ist ebenso zufällig Bürgermeister von Athen. Die griechische Medienwelt sieht hier keine mögliche Befangenheit oder Interessenkonflikte bei Kossioni. Giannis Pretenderis sprach als Kommentator in den Nachrichten des Senders MegaTV Beugel die Berechtigung, sich Journalistin zu nennen, ab. Chatzinikolaou empfahl Beugel, doch mal Journalismus zu studieren. Die Kommentatoren konstatierten, dass Beugel befangen sei, weil sie im vergangenen Sommer festgenommen wurde, weil ihr vorgeworfen wurde, einem „illegalen Migranten“ Obdach geboten zu haben.
Dementsprechend läuft aktuell noch ein Strafverfahren gegen die Journalistin. Beim „illegalen Migranten“ handelte es sich um einen zunächst abgelehnten Asylbewerber, der sich zum Zeitpunkt der Festnahme im Widerspruchsverfahren befand. Dieses soll nach Angaben von Beugel vor zwei Wochen mit einem positiven Asylbescheid abgeschlossen worden sein.
Die Boulevardpresse in Griechenland dichtet der Journalistin eine Beziehung mit dem erheblich jüngeren Asylbewerber an. Nachbarn werden zitiert, die behaupten, dass Beugel ihre Hunde von Asylbewerbern ausführen lasse. Der Bürgermeister der Insel Hydra, wo Beugel eine Zweitwohnung besitzt, zeigte die Journalistin an. Denn er sah sich beleidigt, weil Beugel in einem Interview nach der Pressekonferenz von die Hälfte der Inselbewohner als Anhänger der ultrarechten „Goldenen Morgenröte“ bezeichnet habe.
Die Syriza-Opposition und die ihr nahestehende Presse erhebt dagegen die niederländische Journalistin zur Ikone. Dabei wird verschwiegen, dass es auch unter der Syriza-Regierung vielfach Anschuldigungen wegen Pushbacks an der Grenze gegeben hatte. Beugels auffälliger Hut wird von Anhängern von Syriza als Symbol gefeiert.
Erst mit einigen Tagen Abstand rückt eine weitere Frage in den Vordergrund: Was meinte Mitsotakis mit den „direkten Fragen“, die er von griechischen Journalisten nicht gewohnt sei? Diese Frage brachte unter anderen der sozialdemokratische Politiker Kostas Skandalidis anlässlich eines Antrags der Opposition auf einen Untersuchungsausschuss ins griechische Parlament ein.
Wenn Spitzenpolitiker lieber nach ihrer Lieblingsspeise gefragt werden
Der Antrag wurde, wie in der reformierten Verfassung vorgesehen, mit den Stimmen von mehr als zwei Fünfteln der Abgeordneten angenommen. Der Untersuchungsausschuss soll dem Vorwurf nachgehen, dass die Regierung von Mitsotakis mit staatlichen Geldern die Meinung und Berichterstattung der Medien beeinflusse. Ein Umstand, der ebenso wie die am Donnerstag im Parlament verabschiedeten Gesetze zur Strafverfolgung von Nachrichten, die von der Regierung als „Fake News“ eingestuft werden, auch die Kommission in Brüssel beschäftigt.
Eigentlich müssten sich die einheimischen Journalisten ihrerseits beleidigt fühlen. Räumt doch der Premier ein, dass er von ihnen eher mit Samthandschuhen angefasst wird. Nikos Chatzinikolaou hatte jedenfalls in einem politischen Interview Mitsotakis ungerührt nach eher belanglosen Themen wie dessen Lieblingsspeise gefragt. Es sind gefüllte Weinblätter, in Griechenland Dolmadakia genannt. Dem früheren Ppräsidenten des Verlegerverbands verpassten die Griechen daher den Spitznamen „Dolmadakias“.