• Übergriffig gegen Lieferando-Rider: Schwach, schwächer, am schwächsten
    https://taz.de/Uebergriffig-gegen-Lieferando-Rider/!6039535

    11.10.2024 von Lilly Schröder - Lieferando-Fah­re­r*in­nen werden ausgebeutet. Doch die Übergriffe gegen sie kommen von Kun­d*in­nen und Restaurantangestellten.
    Lieferando Fahrer fährt durch den Regen

    Lieferando Fahrer Foto: Jochen Tack/imago

    Männer empfangen sie nackt an der Tür oder lassen ihr Handtuch im letzten Moment fallen. Sie werden unangemessen nach Dates gefragt und verbal sexuell belästigt – sei es auf der Straße, im Restaurant oder in Privatwohnungen. Davon berichten Berliner Lie­fe­rando-Kurier*innen.

    Die sexuelle Belästigung bei Ridern ist kein hauptstadtspezifisches Pro­blem. Von Bremen über Karlsruhe bis nach Köln berichten Ku­rie­r*in­nen der taz von Vorfällen. „Ich habe noch nie eine Frau bei Lieferando getroffen, die nicht belästigt wurde“, erzählt Anne Gardiner (Name von der Redaktion geändert), eine Kurierin aus Bremen, die sich bei der Interessenvertretung Lieferando Workers Collective engagiert. Die Verantwortung sieht sie bei Lieferando: „Wenn die Firma die Rechte der Mit­ar­bei­te­r*in­nen nicht schützt, dann tun andere es auch nicht.“

    Der orangefarbene Lieferdienst steht seit Langem wegen niedriger Löhne, Verletzung von Ar­bei­te­r*in­nen­rech­ten, Gewerkschaftsfeindlichkeit und einer „Hire & Fire“-Unternehmensführung in der Kritik. Die meist migrantischen Ku­rie­r*in­nen sind dem schutzlos ausgeliefert. „Die meisten von uns sprechen kein Deutsch und wissen nicht was ihre Rechte sind“, berichtet Anne. „Außerdem wollen sie kein Stress riskieren, aus Sorge ihr Visum zu verlieren.“ Lieferando profitiere von dieser Tatsache.

    Die Ausbeutung der wehrlosen Kuriere ist integraler Bestandteil des Geschäftsmodells. Der systematisch Machtmissbrauch durchzieht das gesamte Unternehmen, das wie eine undurchsichtige Black Box agiert. In den meisten Städten, den sogenannten Remote-Städten“ gibt es keine An­sprech­part­ne­r*in­nen, sondern nur eine Mail-Adresse, an die sich die Ku­rie­r*in­nen wenden können. In den sogenannten Hub-Städten wie Berlin und Hamburg hingegen gibt es wenigstens in der Theo­rie Ansprechpartner*innen.
    Perfides Katz- und Maus-Spiel

    In der Praxis entpuppt sich diese „Unterstützung“ jedoch als ein perfides Katz-und-Maus-Spiel, um Ku­rie­r*in­nen ihre Rechte vorzuenthalten. So ist etwa das Büro des Betriebsrats am Berliner Ostkreuz nicht einmal ausgeschildert, bis vor Kurzem gab es keinen Briefkasten. Daher ist der Betriebsrat für die Rider kaum zu finden.

    Dabei ist es angesichts der auf Entrechtung basierenden Unternehmensstruktur essenziell, dass es mittlerweile vereinzelt Betriebsräte sowie eine Interessenvertretung gibt. Ihre Forderungen – Verifikationsmechanismen, um Kun­d*in­nen bei Fehlverhalten zu blockieren, die Möglichkeit, Fahrten bei Sicherheitsbedenken abzubrechen, sowie die Etablierung einer sensibleren Firmenkultur – sind richtig und wichtig.

    Allerdings gehen die Übergriffe gegen Rider nicht von der Firma aus, sondern von Re­stau­rant­mit­ar­bei­te­r*in­nen, Kun­d*in­nen und Ver­kehrs­teil­neh­me­r*in­nen, die offenbar eine Genugtuung in der Erniedrigung wehrloser Menschen finden. Diese Übergriffe offenbaren die Abgründe einer Gesellschaft, die solche Praktiken nicht nur ungestraft duldet, sondern möglich macht.

    Es steht außer Frage, dass Lieferando ein unmoralisches Unternehmen ist, das die Graubereiche im Arbeitsrecht ausreizt wie Cum-Ex-Banker das Steuerrecht. Aber ihr Machtmissbrauchssystem kann die Firma nur aufrechterhalten, weil es von außen gestützt wird.

    Es braucht daher nicht nur schärfere Regelungen innerhalb des Unternehmens, um Ku­rie­r*in­nen besser zu schützen. Es bedarf einer Entpatriarchalisierung, eines gesellschaftlicher Wandels, sodass migrantische Menschen, die sich in prekären Beschäftigungsverhältnissen befinden, nicht zur Zielscheibe der Erniedrigung werden. Ein Mindestmaß an Menschlichkeit ist gefragt.

    #Berlin #Arbeit #Lieferfahrer

  • China: Nicht gut, aber besser als andere Jobs
    https://www.neues-deutschland.de/artikel/1152403.lieferdienste-nicht-gut-aber-besser-als-andere-jobs.html

    25.05.2021, von Fabian Kretschmer, Peking - Auch in China boomen Essenslieferdienste. Die Arbeitsbedingungen sind prekär, Protest kann gefährlich sein.

    Jeden Nachmittag, wenn die Auftragslage ruhiger wird, parkt Dong seinen Elektro-Scooter vor einem Einkaufszentrum, funktioniert den Sattel zur Liegecouch um und hält mit seinen Kollegen eine Siesta ab: Zigaretten werden geraucht, Handy-Videos angeschaut und blöde Sprüche gerissen. »So schwer ist mein Job eigentlich gar nicht«, sagt der 21-Jährige. »Nur während der Stoßzeiten kann es manchmal ganz schön stressig sein.«

    Der Arbeitsmigrant kommt aus der zentralchinesischen Provinz Shanxi, berühmt für Kohlebergbau und sauer gewürzte Nudelgerichte. Er ist einer von rund sechs Millionen Lieferkurieren, die nicht erst seit der Pandemie aus dem Stadtbild chinesischer Metropolen nicht mehr wegzudenken sind.

    Doch während der Lockdowns im Frühjahr 2020 bekam die Öffentlichkeit vor Augen gehalten, wie sehr die Fahrer auf ihren bunten E-Bikes den wirtschaftlichen Kreislauf der Stadt aufrechterhalten. Die offizielle Propaganda erklärte sie gar zu Helden der Pandemie, gemeinsam mit dem medizinischen Personal. Sie sorgten für zweistelliges Wirtschaftswachstum im ersten Quartal 2020, als viele Branchen praktisch zum Stillstand kamen.

    Lieferkurier Dong zog im Corona-Jahr nach Peking, zuvor arbeitete er in seinem Heimatdorf auf dem Bau. Doch als Lieferkurier, sagt er, seien die Verdienstmöglichkeiten deutlich besser. Bis zu 10 000 Yuan kann er im Monat erwirtschaften, umgerechnet immerhin knapp 1300 Euro. Doch dafür ist der junge Mann gut zehn Stunden am Tag auf der Straße unterwegs. Bis zu 40 Lieferungen fährt er aus - stets im Wettkampf gegen den Algorithmus.

    Denn der Zeitdruck ist erbarmungslos. Für jede Fahrt berechnet die Software eine genaue Frist. Wer länger benötigt, bekommt automatisch Lohnkürzungen aufgebrummt. Auch Dong musste bereits ein paar Mal bis zu 40 Euro Strafe zahlen. »Die meisten Kunden sind aber eigentlich nett zu mir und geben kein negatives Feedback«, sagt er.

    Im April nahm eine Diskussion über die prekären Arbeitsbedingungen von Essenslieferanten Fahrt auf. Damals heuerte ein Regierungsmitarbeiter in Günter-Wallraff-Manier inkognito als Fahrer beim Unternehmen Meituan an. In eine schwarze Funktionsjacke gehüllt, ließ sich Wang Lin bei einer nervenaufreibenden Zwölf-Stunden-Schicht mit versteckter Kamera filmen. »Es ist wirklich zu schwierig, und außerdem fühlte ich mich gekränkt«, schilderte er in der im Staatsfernsehen ausgestrahlten Dokumentation.

    Natürlich hat die Lieferbranche in der vergangenen Dekade Millionen Jobs geschaffen, die für ambitionierte Arbeitsmigranten bessere Verdienstmöglichkeiten bieten als je zuvor. Doch gleichzeitig wurde ein neues Prekariat herangezüchtet, wie es für die Plattform-Ökonomie typisch ist: keine soziale Absicherung, keine festen Arbeitsverträge und trotz hohem Unfallrisiko keine Krankenversicherung.

    Immer wieder kommt es daher zu Streiks von Lieferkurieren. Doch Experten sagen, dass dies nicht das Gesamtbild der Branche widerspiegele: »Landesweit gehen die Löhne von Lieferkurieren nach wie vor weiter nach oben«, sagt Eric Lin, der für die Schweizer Großbank UBS zur Logistikbranche in China forscht.

    Ein spektakulärer Fall zeigt indes die Schattenseiten hinter dem Wirtschaftsboom auf. Chen Guojiang, ein 30-Jähriger Lieferkurier, mobilisierte 2019 Hunderte Kollegen in Peking zum Streik, um gegen Lohnkürzungen zu protestieren. Wenig später steckte ihn die Polizei für knapp einen Monat in Untersuchungshaft. »Streit anfangen und Ärger provozieren«, lautete die diffuse Anklage, auf der bis zu fünf Jahren Haft steht.

    Nach seiner vorübergehenden Freilassung verlagerte Chen seinen Protest in die sozialen Medien. Auf der chinesischen Version von Tiktok lud er kurze Videoclips hoch, in denen er aus seinem Arbeitsalltag berichtet: »Lieferkuriere sind Menschen, keine Roboter. Doch die Lieferplattformen behandeln uns wie Rädchen im Getriebe«, schilderte er. Über eine Chat-App verband er zudem mehrere tausend Lieferkuriere zum Erfahrungsaustausch. Seit Februar ist Chen Guojiang spurlos verspunden. Selbst seine Eltern wissen nur, dass er verhaftet wurde. Wer sich im offiziell kommunistischen China gewerkschaftlich engagiert, kann wie ein Staatsfeind behandelt werden.

    Lieferkurier Dong weiß nichts von dem Fall, was wohl an der verhängten Nachrichtensperre liegt. Doch er sagt auch, dass die Arbeit als Essenslieferant für ihn trotz des fairen Lohns nur eine Zwischenlösung darstellt. »Ich bleibe noch etwa ein Jahr in Peking, dann ziehe ich zurück in die Heimat, um mein eigenes Geschäft zu starten. Ich bin 21, und einen Job wie Essen ausliefern sollte man nicht für immer machen.«

    Doch für manch älteren Kollegen ist der Job weit mehr als ein Sprungbrett. Fang zählt zu den wenigen Frauen in der Branche. Die 47-Jährige sitzt in der futuristisch eingerichteten Filiale eines Pekinger Teeladens und wartet auf ihre nächste Lieferung. Auf einem riesigen LED-Display werden die Bestellungen eingeblendet: hippe Drinks, mit Früchten und Käse versetzt, die bevorzugt von wohlhabenden Millennials geordert werden. Sie kosten deutlich mehr als der Stundenmindestlohn in Peking, der umgerechnet bei ungefähr drei Euro liegt.

    Lieferantin Fang wirkt etwas fremd in dieser urbanen Welt, auch wenn sie bereits seit acht Jahren in Peking lebt. Zunächst arbeitete sie als Au-Pair für reiche Familien, später als Kellnerin in einem Ecklokal. Ob sie den Job als Lieferfahrerin bis zur Rente machen will? »Wir haben sowieso keine stabilen Jobs, also mal schauen«, sagt Fang.

    #China #Krankenversicherung #Arbeit #Lieferfahrer #Covid-19 #Prekariat #Klassenkampf