Die öffentliche Verschwörung : Warum wir alle mitmachen
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König im Parlament – der der von Großbritannien im Bundestag, 2003. Bild : Heide Pinkall/ Shutterstock.comTrès bon article sur l’état de nos démocratie occidentales. Un élément essentiel échappe à l’auteur : l’organisation de notre vie par l’informatique, l’internet, ses sites et applis détermine notre existence et l’idée que nous avons d’elle bien au dela du dégré qu’ont pu avoir par exemple l’architecture et le quotidien professionnel dans le passé. Marlon Grohn mentionne implicitement ce facteur quand il parle des médias.
Ce faisant il vise à côté de sa cible car aujourd’hui le processus de manipulation démocratique se fait surtout par l’idéologie dans sa forme de code informatique. Cette erreur n’est pas étonnante car les codes restens invisibles à l’exception du code open source libre. Pour monsieur et madame-tout-le-monde la sitiuation est encore pire. Leur ignorance des méthodes de production du monde médiatique et virtuel est totale alors qu’ils ignorent déjà grandement l’architecture et les composantes du système économique et politique dans lequel ils vivent.
6.1.2025 von Marlon Grohn - Über den Parlamentarismus als Volksverschwörung. Und was Corona-Schwurbler wie auch deren Kritiker übersehen. Ein Essay (Teil 1)
Aus der langen Geschichte von Verschwörungen, also der Jahrhunderte alten Tradition, die Entscheidung über relevante politische Taten der großen Masse der Bevölkerung zu entziehen und sie stattdessen in geheimer Absprache zu fällen, haben die modernen demokratischen Herrschaftssysteme eine Lehre gezogen.
Dass es besser sei, Richtung und Inhalt der Politik wie stets zu handhaben, jedoch immerhin die Form der Entscheidung zu reformieren: „Ein Parlament kann beschließen, was sich ein König nie zu erlassen wagen würde“, bekundete Napoleon, der als Absolutist sehr genau wusste, warum er den Parlamentarismus der Monarchie vorzog. Denn in der Monarchie muss immerhin der König seine Taten verantworten, in der Demokratie niemand.
Nachdem das demokratische Prinzip sich in der westlichen Welt einmal durchgesetzt hatte, fuhren deren Regierungen fort, die ohnehin gewollte Politik durchzusetzen, nun aber unter Berufung auf die erzwungene Legitimierung durch das Volk. Das hatte schon etwas Geniales: Der bürgerliche Parlamentarismus erschuf die inzwischen gängige Praxis, die Politik der herrschenden Klasse als authentischen Volkswillen auszugeben.
Gewalt von oben: geht mit Parlament besser
Neidisch blicken darauf die weniger bürgerlichen Staaten dieser Welt, welche weiterhin auf autokratische Maßnahmen angewiesen sind, um mit den Demokratien auf wirtschaftlicher Ebene mitzuhalten. Praktischerweise also sind seit Einführung des Parlamentarismus Kriege, Ausbeutung und Klassenkampf von oben stets des Volkes ausdrücklicher Wille. Der König hatte zur Not noch geköpft werden können, aber was tun, wenn es in der Demokratie falsch läuft? Das Volk wird sich wohl kaum selbst köpfen.
Bevölkerung außen vor
Trotz dieses fragwürdigen Fortschritts in den bürgerlichen Staaten ist die Bevölkerung auch in diesen der Entscheidung über einen Großteil der relevanten politischen Handlungen entzogen. So ist etwa die Instrumentalisierung des Volkszorns, oder, hübscher ausgedrückt: der bürgerlichen Moral, nichts anderes als ein solcher Entzug von Entscheidungs- und Handlungsgewalt, weil im Anrufen von Empörung im Volk nicht das Volk, sondern dessen undurchschaubare und ihm äußerliche Psychologie, eben der Zorn und die moralische Empörung zur Entscheidung drängen. Nicht aber Vernunft und Reflexion – welche freilich die gewollten Entscheidungen verhindern könnten.
Dass trotz des Mehrheitswillens in allen möglichen Fragen nur äußerst selten die entsprechende Politik beschlossen wird, weiß man nicht erst seit dem nicht umgesetzten Berliner Volksentscheids zur Enteignung der „Deutsche Wohnen“.
Etwas also muss in jener Sphäre der demokratisch-parlamentarischen wie der medialen Vermittlung passieren, das stets dafür sorgt, dass das Minderheitsinteresse der Mächtigsten sich gegen das Mehrheitsinteresse durchsetzt oder gar jenes als dieses auszugeben vermag.
Das merken selbst die konventionellen Verschwörungstheoretiker, die sich die Sache jedoch komplizierter machen, als sie ist.
Der oben erwähnte Satz von Napoleon über den Vorteil von Parlamenten gegenüber der absoluten Monarchie markiert den geschichtlichen Zeitpunkt, an dem systematische Verschwörungen unnötig werden. Mit dem Königsthron verschwindet auch das Hinterzimmer. Sicher wird in Einzelfällen immer noch auf nichtöffentliche Absprachen zurückgegriffen – schließlich sind die politisch Mächtigen selten so naiv wie die Kritiker von Verschwörungsideologie –, aber alles in allem konnte das Verschwören seitdem ganz öffentlich und demokratisch, also im Parlament bewerkstelligt werden.
Dem Einzelnen bleibt in solch einem System, wenn er nicht zufälligerweise zu jener kleinen Gruppe von Vermögenden und Privateigentümern gehört, kaum anderes übrig, als sich von diesen in ein Verhältnis drängen zu lassen, dass mit „Erpressung“ ziemlich treffend bezeichnet ist. Damit bleibt letzteren die Verschwörung, die andernfalls nötig wäre, erspart.
Abschaffung von systematischer Verschwörung und Einführung von öffentlicher politischer Diskussion haben den hohen Preis des Autonomieverlusts der Einzelnen. Als Staatsbürger können diese nicht mehr einfach für vogelfrei erklärt werden, auch können sie nicht in dem Grad entrechtet werden, dass sie ihr Auskommen etwa, wie noch im nichtdemokratischen Mittelalter, als „fahrendes Gesindel“ finden müssten.
Mit der Verantwortung des Staatsbürgers kommt auch die erzwungene Teilhabe an dem Anliegen der demokratischen Öffentlichkeit, die nun einmal immer jene der Herrschenden ist. Der Brecht-Spruch von den Kälbern, die ihre Metzger selbst wählen ist insofern weniger kritisch, als er sich anhört, da ohnehin nur verschiedene Metzger zur Wahl stehen, und sich die Menschen als Mastkälber erfahren, solange ihre Arbeitskraft die Quelle für den privaten Profit anderer abgibt.
Die Wirklichkeit ist also noch schlimmer, als die Verschwörungsideologen annehmen: Die politische Ordnung der ohnehin Besitzenden erübrigt die mafiöse Absprache; die Eigentumsordnung selbst regelt, was politisch entschieden zu werden hat. Sie erscheint als Naturnotwendigkeit, innerhalb der Bürger als Einzelner und Vereinzelter pragmatische Entscheidungen zu treffen hat, will er nicht dem sozialen Untergang anheimfallen.
Solange diese Gesellschaftsform als naturhaft aufgefasst wird und also unangezweifelt bleibt, kommt kein politischer Verwalter dieser Ordnung auf die Idee, sich gegen die Massen zu verschwören. Jeder einzelne stützt mit seiner Hoffnung aufs eigene Fortkommen das System in Gänze.
Erpressungen werden dann als solche nicht wahrgenommen, sondern verklärt, weil jeder darauf spekuliert, einmal auf der anderen, der profitierenden Seite des – durch Arbeit und Lohn – vermittelten Erpressungsverhältnisses zu stehen.
Staat & Bevölkerung: good cop vs. bad cop
Nun haben diese in sich höchst widersprüchlichen und problematischen Gebilde parlamentarischer Demokratien und ihre sich auf unterschiedlichsten Vermittlungsebenen durchsetzende Macht unter anderem die Eigenheit, dass eine Missachtung des Mehrheitswillens nicht bloß von der Regierung, sondern auch von großen Teilen des Volkes selbst bisweilen durchaus erwünscht ist.
Alle wissen ja, wie fehlbar sie schon als Privatpersonen ihren Alltag bestreiten und kaum wer möchte persönliche Verantwortung für weitreichende politische Fehlentscheidungen tragen – weshalb sie ganz froh sein dürften, dass sich ihr wirklicher Wille nicht durchsetzt, und man seinerseits alles auf die Regierung schieben kann, wie die Regierung alles aufs Volk schiebt. In der Nacht des Parlamentarismus sind alle Entscheidungskatzen grau.
Bei dieser stillschweigenden Übereinkunft kann in der Tat von einer Verschwörung gesprochen werden: nämlich einem arbeitsteiligen Pakt zwischen Staatsregierung und Staatsbevölkerung, der das System mit einem „Good cop, bad cop“- Spiel ganz gut am Laufen hält: je nach Lage kann so entweder die Bevölkerung oder der Staat als good cop erscheinen.
Entscheidend ist nur, dass die Arbeitsteilung zwischen good cop und bad cop nicht aufgekündigt wird. Eine solche „Verschwörung“ ist damit also eine nach innen hin öffentliche, ein landesweites Komplott zwischen herrschender und beherrschter Klasse eines Staates im – scheinbar – gemeinsamen Interesse, sich als Gesamtstaat in der Staatenkonkurrenz gegenüber anderen behaupten zu können. So kann das Einschwören der Nation nach innen zum Verschwören nach außen werden. Im Politikerdeutsch heißt das Standort-Logik.
Denn ein Staat hat natürlich immer ein normatives politisches und kulturelles, zumindest ideologisches Erziehungsprogramm, auch wenn dieses seinen Bürgern – oder gar ihm selbst – nicht bewusst sein sollte.
Im deutschen Grundgesetz aber steht immerhin offen, dass die Parteien zur Willensbildung der Bevölkerung beitragen sollen. Aber auch die auf den ersten Blick unpolitischen Beiträge, die Musik, die Filme, die über staatliche Medien täglich in Millionen von Haushalten gesendet werden, bewirken ja etwas, haben auch abgesehen von ihrer Ästhetik einen Welt- und Meinungsgehalt.
Und umso mehr, je weniger den Bürgern diese Tatsache bewusst ist und sie es als bloße Unterhaltung abtun. Das aber wird in der nationalen öffentlichen Diskussion meistens ausgeblendet; hier wird – und in bedenklichem Maße zunehmend von sich links und aufklärerisch auffassenden Geistern – so getan, als hätte man es auf diesem medialen Feld mit neutralem Boden zu tun, der nicht schon längst durchs nationale Interesse formatiert ist, als hätte man es nur bei den abweichenden Ansichten mit Ideologie, also Mythen zu tun und nicht erst Recht bei der konsensualen Meinung.
Der wohl wichtigste Philosoph der Neuzeit, G.W.F. Hegel drückte dieses dialektische Verhältnis mit seinen Begriffen „Weltgeist“ und „List der Vernunft“ aus: der Weltgeist ist ein ethisches Prinzip, das jedes Handeln einer bestimmten Epoche bestimmt, und die List der Vernunft bedeutet soviel wie das, was Marx später als „Sie wissen das nicht, aber sie tun es“ formulierte.
In der alltäglichen Praxis des individuellen Lebens wird jeder Einzelne zu pragmatischen Handlungen gebracht, die notwendig undurchdacht sind; diese unterstehen bestimmten Prinzipien und Gewohnheiten der jeweiligen Zeit, die einem Prinzip der Vernunft entsprechen. Bereits bei Hegel war also klar, dass eine politische Macht einzig die Bestimmungsgewalt über die Struktur jener alltäglichen Verkehrsformen und keine Verschwörungen benötigt, um ihre Interessen durchzusetzen.
Moderne Verschwörung : Wenn alle mitmachen, ohne es zu merken
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7.1.2025 von Marlon Grohn - Verschwörungen braucht es heute nicht mehr. Die Macht funktioniert ganz offen, demokratisch – und doch im Verborgenen. Was das gespenstisch macht. (Teil 2)
Die Kritik an klassischen Verschwörungstheorien ist heute ebenso zeitgemäß wie eine kritische Haltung gegenüber auch in Demokratien vermuteten Verschwörungen.
Aber „das Problematische an dieser kritischen Haltung“, schreibt Slavoj Žižek über Verschwörungstheoretiker „ist nicht nur, dass sie die konkrete Gesellschaftsanalyse durch den Kampf gegen abstrakte paranoide Fantasien ersetzt, sondern dass sie, in einer typischen paranoiden Geste, die gesellschaftliche Realität unnötigerweise verdoppelt, als stecke hinter den ‚sichtbaren‘ kapitalistischen und staatlichen Organen eine Geheimorganisation. Man sollte aber einfach akzeptieren, dass eine heimliche ‚Organisation innerhalb der Organisation‘ gar nicht erforderlich ist. Die ‚Verschwörung‘ steckt bereits in der ‚sichtbaren‘ Organisation als solcher, im kapitalistischen System, in der Art und Weise, wie der politische Raum und die Staatsapparate funktionieren“.
Žižek hat in mehrerlei Hinsicht recht, wenn er sagt, dass so etwas wie eine Verschwörung bereits in diesem System steckt: Zum Beispiel, weil das bürgerliche und demokratische System selbst auf recht verschwörerische Weise zustande gekommen ist.
Die politischen Geschehnisse etwa, die die Zeit der Französischen Revolution prägten, welche ja die heutige Demokratie erst ermöglichte, waren weder öffentlich noch demokratisch. Die offene, plurale Gesellschaft nahm ihren Anlauf in den kleinen Kreisen verschworener Radikaler.
Zehren von früheren Verhältnissen
Die derzeitige Demokratie in ihren institutionellen historischen Beständen zehrt also immer noch von früheren Verhältnissen, in denen Verschwörungen Normalität waren. Womit zumindest das Prinzip, das Muster der Verschwörung, also die Möglichkeit zu allen möglichen Formen geheimer Absprachen unter relativ Mächtigen nicht nur anerkannt, sondern auch weiterhin integriert ist.
Etwa als Unternehmerverband, als Kartell, als Korruption oder einfach ständige Erpressung und Drohung gegenüber den Unterworfenen, also den Staatsbürgern.
Konspiratorationistisches Manifest von 2022
Jene anarchistischen Intellektuellen aus Frankreich allerdings, die 2022 das „Konspirationistische Manifest“ veröffentlicht haben, unterliegen einem Trugschluss, wenn sie den Regierungen und Konzernen in Bezug auf die Covid-Maßnahmen eine Verschwörung vorwerfen. Denn auch dabei waren – parlamentarische Demokratie sei Dank – keine Verschwörungen nötig:
Das Verhältnis und damit auch die Widersprüche zwischen Erkrankungszahlen einerseits und Maßnahmenpolitik sowie ihrer Begründung andererseits waren für jeden ersichtlich, der es sehen wollte.
Hingegen wären Verschwörungen auch heute nötig, insofern Unterworfene sich organisieren und etwas erreichen wollen (die Unterdrücker sind bereits bestens organisiert) – solche Verschwörungen würde man sich wünschen, aber auch sie bleiben aus. (Schon die Partei, in der Marx und Engels Mitglieder waren, das vergisst man heute gerne, hieß ja „Geheimbund der Kommunisten“).
Aber die Macht zumindest bedarf der Verschwörung nicht mehr. Verschwörung ist das – zumeist einzige – Mittel der Ohnmächtigen, das erkennen auch die französischen Konspirationisten in ihrem „Manifest“ richtig. (Entsprechend kann nun vermutet werden, ob mittels der derzeit recht beliebten Kritik an Verschwörungstheorie vielleicht auch die Ausübung von Verschwörungen als inakzeptabel gebrandmarkt werden soll.)
Das Elend der Verschwörungstheorie-Kritik
So werden bereits die Gedanken an ein Phänomen wie Verschwörung – als ein Element zur Vorbereitung von Revolutionen – derzeit von besonders vielen Bürgerlichen und Linksliberalen, von ehemaligen Piratenpartei-Politikerinnen bis zu sozialdemokratischen Politologen, solch heftiger Kritik unterzogen.
Solche Kritiker rationalisieren dann ihre Angst vor dem Aufbegehren der Unterworfenen mit allerlei poetischen Mitteln, die etwa in Ausdrücken wie „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ oder „struktureller Antisemitismus“ ihren Höhepunkt finden. Die Macht hingegen ordnet an und realisiert sich bereits durch die Praxis der allgemeinen Gesellschaftsverwaltung. Das wussten früher einmal auch die Linksliberalen.
Klugheit aus Erfahrung
Diese vollzieht sich stumm und mahnt dazu, man möge aus seiner Erfahrung – die immer nur eine innerhalb dieser bestehenden Ordnung sein kann – klug werden. Diese Klugheit ist dann freilich nichts anders als eine Gerissenheit, die in fragmentierten Gesellschaften Geheimabsprachen und Komplotte unnötig machen: Wo der Verrat opportunes Mittel eines jeden ist, werden Verschwörungen überflüssig.
Dass die Macht aber Verschwörung nicht mehr nötig hat, macht deren Sache nicht besser, wie die Verschwörungsideologie-Kritiker heute glauben machen wollen, denen die Erleichterung über eine Überwindung von Verschwörungen anzumerken ist.
Verschwörungen weichen nicht der Demokratie
Die Abwesenheit von Verschwörungen nämlich deutet nicht auf demokratischere, offenere, liberalere, sondern auf weitaus schwierigere Verhältnisse hin, als sie in Zeiten von Verschwörungen vorstellbar waren.
Kaum etwas ist wohl so gespenstisch wie die Verschwörung, die offen ist und an der jeder teilnimmt, welche aber trotzdem nicht als solche durchschaut wird.
Wo bleiben die Interessen der Mehrheit?
Kaum etwas auch ist so gruselig, wie ein System, in welchem alles ganz offen, demokratisch und mit rechten Dingen zugeht, in dem es aber trotzdem nie dazu kommt, dass sich die Interessen einer Mehrheit durchsetzen. Gespenstisch und gruselig sind die Verhältnisse, weil der demokratische Betrug, ja die „Aufklärung als Massenbetrug“ (Adorno, Horkheimer) offensichtlich ist, aber niemand von ihm Kenntnis nehmen will.
Gerade bei den Covid-Maßnahmen, die von den Verfassern des „Konspirationistischen Manifests“ angeführt werden, war die „Verschwörung“ eine sehr offene, öffentliche, ja demokratische: Die Bürger hatten sich – auf die eine oder andere Weise – mit ihrem Staat verschworen, weil sie sich einen Gewinn erhofften.
Corona-Hysterie
Jeder machte seine persönliche Wette darauf, wie sich die Lage entwickeln würde, ordnete sich deshalb entweder den Pro-Maßnahmen-Hysterikern oder den Kontra-Maßnahmen-Hysterikern zu.
Es war die Mehrheit, die eine Mehrheit unterdrückte: ein durch und durch bürgerlich-demokratisches Prinzip, das keinerlei Verschwörung bedarf. Auch die großen Pharmakonzerne waren so frei, öffentlich, statt in Geheimkammern Druck zu machen, um ihren Profit zu steigern.
Das Wesen der Verschwörungstheorie
Verschwörungsideologie offenbart daher ebenso wie die Kritik an ihr einige zutiefst romantische Vorstellungen von Politik und Gesellschaft. Stellen sich ihre Anhänger die Welt wie ein größeres Schlumpfhausen vor, in dem der Bösewicht Gargamel eigentlich von Papa Schlumpf bezahlt wird, um das einfache Volk zu drangsalieren, entgegnen ihnen ihre Kritiker auf derselben Ebene: Papa Schlumpf (Kanzler Scholz etwa) wolle nur das Gute und Gargamel (also Putin, Trump, Hamas, Islamismus usw.) sei ganz von allein das Urböse, das die globale Dorfgemeinschaft bedrohe.
Die eine Ansicht ist so unterkomplex wie die andere; die Welt ist kein Schlumpfhausen. Verschwörungstheoretiker und ihre Kritiker treten also in einen Dialog unter ihresgleichen.
Es ist unser je eigenes Interesse, mit dem wir einander veralbern.
Von Covid in den Krieg
Apropos Hysterie, die die Hirne vernebelt: „Kaum war der Covid-Alarm abgeklungen“, schreibt der französische Autor Serge Quadruppiani, „ertönten die Sirenen des Krieges. Man könnte dieses Zusammentreffen als eine von den Herren der Welt absichtlich herbeigeführte Abfolge interpretieren, um ihre Macht noch ein wenig weiter zu festigen“ (Serge Quadruppiani: Das Chaos des Imperiums, die Paranoia des Imperiums. In: Lundi Matin Nr. 329).
In Wirklichkeit läuft es anders
Die Funktion der – nun öffentlich tagenden – Verschwörer wird übernommen von der Gesamtheit der demokratischen Öffentlichkeit und ihrer Mediensphäre. Es ist immer genug los auf der Welt, um eine kritische Masse an medialer Berichterstattung zu erreichen, die wiederum einen Grundstock an Ängsten aktiviert – was der Politik bereits als hinreichende Begründung für ihre Maßnahmen dient.
Und wenn ohnehin alle dasselbe denken, weil alle im selben System auf dieselbe Art und Weise gezwungen sind, ihre Interessen durchzusetzen, braucht es auch keine Absprache unter den Redaktionen: Die kommen bereits ganz allein darauf, was jetzt – im Sinne des Staatswohls – zu tun und zu sagen ist. „Absichtlich herbeiführen“ muss also niemand etwas, schon gar nicht „die Herren der Welt“. Das Landesinteresse und seine arbeitsteilige Verselbstständigung ersetzten die Verschwörung.
Die klassische Verschwörung hat sich auch erübrigt, wo diese – bis hinein in die letzte graswurzelige Nische von alternativen Diskussionsräumen oder den digitalen Medien – die gesamte Bevölkerung qua ideologischer Erzählungen zu Mitverschwörern, etwa gegen andere Staaten (etwa derzeit die der westlichen gegen Russland und China) macht.
Weder westliche Geheimagenten noch ein deutscher Politiker braucht mehr explizit eine Verschwörung etwa gegen ein anderes Land anzuzetteln – die Funktion der Verschwörung gegen das andere Land haben heute die öffentlich gemachten Narrative übernommen, die Produkt der herrschenden Ideologie sind und durchs Ressentiment gestützt werden.
Diese öffentliche Verschwörung hat dabei nicht etwa in „den Medien“, also den Redaktionen oder recherchierenden freien Journalisten, die etwa betrügen wollten, ihren Ursprung, sondern in der sich durch die Medien lediglich ausdrückenden Ideologie, die nichts anderes darstellt als eine erzählerische Rechtfertigung bestimmter Herrschafts-, also Eigentumsverhältnisse und -Interessen. Es muss niemand persönlich betrügen, wo struktureller Betrug in Form von Interessenwahrung längst umfassend Staatsraison und persönliche Gewohnheit geworden ist.
Die verschwörerischen Gespräche finden heute in Talkshows vor Millionenpublikum statt, die Geheimdiplomatie steht zwischen den Zeilen in den Zeitungen. Das ist der Unterschied zu früher: Die Hinterzimmer werden nicht mehr benötigt, wenn alle Staatsbürger schon qua ihrer Staatsmitgliedschaft und der Teilhabe am ideologischen Wissen (also einem Betrugs-Wissen, das sich den Charakter des gültigen zu verleihen vermag) Teil einer Verschwörung sind, die keine richtige mehr ist.
Wovon die klassische Verschwörungstheorie noch ausging – dass einzelne mächtige Personen Geheimpläne umsetzen, um den Menschen zu schaden – ist also überholt, wo ganz offen das Gesetzeswerk einer Republik von den Konzerninhabern selbst geschrieben wird (Peter Hartz) und diese Gesetze eine anonyme Vollstreckung durch den alltäglichen Lebensvollzug der Bevölkerung selbst genießen.
Warum aber sprechen Ideologiekritiker wie der oben zitierte Žižek trotzdem noch von Verschwörung, wo doch das Zeitalter ihres Verschwindens angebrochen ist?
Zum Beispiel, weil die Funktionsweise dieselbe ist. Merkwürdig ist es schon, dass selbst jene Kritik der Verschwörungsideologie, die bekundet, Verschwörungstheorien seien überholt, da die Verschwörung offen zutage liege, nicht ohne den Begriff der Verschwörung auskommt. Žižek spricht von der Existenz einer „sichtbaren“, also offenen, erkennbaren, aber eben vorhandenen Verschwörung, die schon „im System selbst“ stecke.
Eine solche offene Verschwörung ist es etwa, wenn eine Klassengesellschaft alles dafür tut, die systematische Klassenherrschaft zu verdecken und dort, wo das nicht möglich ist – etwa weil es den im Grundgesetz festgelegten Werten der Gleichheit widerspricht –, mit krudesten Argumenten zu legitimieren versucht. So wird das, wofür früher Verschwörungen dienlich waren, durch den offenen demokratischen und medialen Prozess bewerkstelligt: nämlich die straffe Reproduktion der politischen Unterdrückung von Subalternen.
Diese materielle Basis aller Ideologie fällt heute ganz heraus aus den Betrachtungen der Verschwörungs- wie auch der Ideologiekritiker: Welchen Zweck haben bzw. hatten Verschwörungs-Mythen denn? Zum Beispiel wollte der Antisemitismus einen versöhnlerischen Kitt im Volke zwischen den einzelnen Klassen schmieren, wollte die klassenübergreifende Feindschaft gegen Juden als Ablenkung vom Klassengegensatz und dessen Überwindung etablieren. Gerade, wenn es die Ohnmächtigen sind, die sich in Verschwörungserzählungen verlieren, verweist das wieder auf die gesellschaftliche Macht, deren bloße Mündel sie im Produktions- und Arbeitsprozess sind.
Die heute so oft geäußerte Kritik an der Verschwörungsideologie ist deshalb besonders heimtückisch, da sie zwar auf der einen Ebene gegen Ideologie skandiert, auf einer anderen aber gleichzeitig selbst Ideologie propagiert: nämlich jene altherkömmliche liberale Ideologie, der gelungen ist, sich einen Schein von vertrauenswürdiger Wissenschaftlichkeit zu verleihen, welcher bis in akademische und progressive, ja ideologiekritische Kreise glaubhaft ist.
Solche Verschwörungsideologie-Kritik will lediglich die eine gegen eine andere, ihr genehmere Ideologie oder Erzählung austauschen. Eine im Soziologen-Jargon sogenannte ausdifferenzierte Gesellschaft hat auch ausdifferenzierte, in selbstständigen Einheiten agierende Erzähl-Instanzen, die gedanklich allesamt Abkömmlinge der herrschenden Ideologie sind, aber dabei auf differenzierte, also bunte, individuelle Weise verkünden, weshalb man in den Krieg zu ziehen, Arme zu verachten oder China zu bekämpfen habe.
So erscheinen zumindest hierzulande noch die menschenfeindlichsten Aktionen des westlichen Imperialismus als im edlen Interesse aller. Aber das ändert nichts daran, dass die Bewohner Afrikas oder Chinas die Europäer als eine verschworene Gemeinschaft auffassen. Für sie macht es keinen Unterschied, ob die Pläne zu ihrer Unterwerfung in Hinterzimmern oder direkt im nationalen Fernsehen geschmiedet werden.
Gerade also, weil in den modernen, ausdifferenzierten, liberalen Demokratien alles komplett öffentlich abläuft, sind die Zustände heute ähnliche wie zu klassisch verschwörerischen Zeiten: Es ist die Lehre der Edgar-Allen-Poe-Geschichte vom „entwendeten Brief“, dass sich eine Geheimsache vor der Öffentlichkeit am besten dadurch verbergen lässt, indem man sie, gemischt unter all die tausenden anderen ablenkenden und unüberschaubaren Einzel-Erscheinungen des Tages, offen zutage treten lässt: Der geheime Brief wurde gar nicht entwendet, er lag einfach immerzu mitten auf dem Tisch.
Diese Lehre macht sich den immer noch einflussreichen Verschwörungsglauben in der Bevölkerung zunutze: Wenn alle denken, das Wichtige müsse geheim bleiben, wird niemand annehmen, dass das offen Gesagte von Wichtigkeit sein könnte.
Die Gesellschaften also sind so ausdifferenziert, dass vor lauter einzelnen Bäumen niemand mehr den Wald wahrnimmt. Wenn der Bundeskanzler eine „Zeitenwende“ – nicht diagnostiziert, sondern – initiiert, dann denken sich die Leute: „Drollig, was der Opi da faselt“. Was das aber bedeutet, werden sie wohl erst merken, wenn es schon zu spät ist.
Von Illuminaten zu Instagram : Der Wandel der Verschwörung
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8.1.2025 von Marlon Grohn - Konspirationen gibt es seit jeher – doch ihre Form hat sich verändert. Früher traf man sich im Verborgenen. Heute gibt es soziale Medien. (Teil 3 und Schluss)
Wie funktioniert eine in den vorherigen Teilen dieser Serie beschriebene öffentliche, demokratische Verschwörung aller heute konkret?
Die letzte juristische Instanz in bürgerlichen Demokratien sind mitnichten die staatlichen Gerichte, sondern die Öffentlichkeit. Nicht mehr die Weltgeschichte, sondern die Medien sind das Weltgericht. Indem diese Öffentlichkeit in großen Teilen privatwirtschaftlich eingerichtet ist, ist sie paradoxerweise der öffentlichen Kontrolle enthoben.
Das heißt, sie widerspricht ihrem eigenen Maßstab, öffentlich zu sein und funktioniert so in ihrer chaotischen Gesamtheit als modernisierte Form der Selbstjustiz. Etwa konnten in den 1960er-Jahren als Staatsfeinde wahrgenommene unbescholtene Bürger wie Benno Ohnesorg oder Rudi Dutschke durch von der demokratischen Presse Aufgehetzte öffentlich hingerichtet werden, ohne dass der Staat, in dem das alles stattfand, dafür eine gesetzlich verankerte Todesstrafe gegen Systemgegner benötigte.
Der Zweck der Selbstjustiz
Zum Zwecke des Funktionierens solcher Selbstjustiz sind die – an sich längst überkommenen – moralischen Vorstellungen der letzten Jahrhunderte konserviert worden, um sie im Zweifelsfalle gegen Delinquenten im eigenen Land oder ungern gesehene Staatsoberhäupter anderer Länder anzuwenden – man ahnt wohl bis jetzt nicht, wie viel Stabilisierung und Legitimierung die Klassenherrschaft durch solche etwa religiöse Moral immer noch erfährt.
Der Vorwurf, jemand verbreite ein „Kreml-Narrativ“, richtet sich nicht nur gegen den russischen Präsidenten, sondern auch gegen alle, die hierzulande andere Meinungen als die Bundesregierung vertreten: Diese Unterstellung von Lügen bei gleichzeitiger Betonung der eigenen Rechtschaffenheit hat das Prinzip der Verschwörung beerbt.
Gibt es eigentlich auch ein Kanzleramt-Narrativ?
Wo man etwa das Wort „Kanzleramt-Narrativ“ hingegen kaum vernimmt, braucht die nationale Verschwörung gegen andere Nationen keine Verschwörung der Mächtigen gegen ihre Untertanen mehr. Durch den stets aktivierten Nationalismus empfinden sich diese als eine Interessengemeinschaft, für die das Unheil nur aus dem Ausland kommen kann.
Staatsoberhäupter und sonstige politisch relevante Personen werden nicht mehr durch geheime Absprachen in kleinen Zirkeln gestürzt, sondern, wie etwa die Fälle wie der Bundespräsidenten Köhler und Wulff zeigen, durch breite publizistische Kampagnen, die an die Moral des Volkes –oder, im Zweifelsfall: der Bild-Leser – appellieren. Früher hat man die Sünder gesteinigt, heute setzt man sie einfach auf die Titelseite.
Öffentlichkeit ist immer besser als Hinterzimmer
Der Druck der Macht, der früher durch Hinterzimmergespräche ausgeübt werden konnte, wurde sogar noch optimiert, indem etwa der durch die Öffentlichkeit und damit durch das Volksurteil zu bearbeitende Politiker, etwa Erdoğan bei der Frage des Nato-Beitritts Schwedens, direkt in die Öffentlichkeit gezerrt wird.
Der Gesichtsverlust, der ihm hier winkt, ist die weitaus größere erpresserische Macht als eine in Hinterzimmer-Verhandlungen ausgeübte. Keine imperiale Macht muss heute noch einen schlecht gelittenen Staatschef qua Verschwörung aushebeln und umständlich durch einen genehmeren ersetzen; stattdessen lässt man die Öffentlichkeit empört Galle spucken und wartet einfach auf die nächste Wahl.
Alles voll demokratisch
Es geht dabei also alles vollends demokratisch zu, überhaupt nicht elitär, verschworen, im Hinterzimmer, sondern mit Zustimmung einer Bevölkerung, die in jedem demokratischen Land zufälligerweise immer genau das will, was ihre Herren auch wollen.
Die Medien „konstruieren“ freilich nicht die wirklichen Phänomene (Corona, Krieg, Migration, usw.), aber sie führen doch die Rede und vor allem: die Art des Redens über diese, und damit deren Mythisierung herbei. So kommt es in einer Gesellschaft, in der die Masse innerhalb solcher bloßen Rede-Welten lebt, und auch nicht mehr zwischen den beiden Ebenen – Welt und Rede über die Welt – unterschieden wird, zur Reaktivierung des Mythos.
Der Mythos wiederum hat den Vorteil, das er nicht mühsam begründet werden muss: Er legitimiert sich durch sich selbst und scheint eine eigene, verselbständigte Existenz ausserhalb von Bevölkerung, Regierung, Medien und Gesellschaft zu führen: Der Mythos kommt praktischerweise irgendwo von draussen oder war schon immer da, er war seit je blankes Instrument.
"Verschwöffentlichkeit"
Die verschworene Gemeinde also agiert heute öffentlich, im nationalen Rahmen und vermittels von Mythen. Die Bevölkerung soll im Pakt mit ihrer Regierung zum nationalen Beutekollektiv werden.
Die jeweiligen nationalen Medien, qua Existenz dem Wohle dieses Kollektivs, also des Staates verpflichtet, der sie erzeugt, bewirtschaftet, duldet und maßregelt, sind ebenso Medium dieser Verschwörung: Diese Praxis einer explizit öffentlichen Verschwörung löst sukzessive sowohl den Begriff von Öffentlichkeit als auch den der Verschwörung auf: Öffentlichkeit und Verschwörung werden hier begrifflich eines, nennen wir sie: „Verschwöffentlichkeit“.
Nur so erklärt sich, warum in einer Welt, die kaum noch der Verschwörungen bedarf, „trotzdem“ – also: gerade deswegen – in einer zuvor ungekannten Breite von Verschwörungstheorien und -mythen die Rede ist:
Die früheren Verschwörungstheoretiker waren gefährlich für die Macht, die heutigen geben nur noch harmlose Spinner ab, über die sich das Bürgertum belustigen kann. Wo die Verschwörungen qua Massenideologien öffentlich geworden sind, d.h. der Mythos (heute: „das Narrativ“) von allen geglaubt wird, sind weder explizite Lügen noch geheime Verschwörungen mehr nötig.
Überholte Debatten
Die dieser demokratischen Herrschaft – also letztlich sich selbst – Unterworfenen führen jene Debatten etwa über Pressefreiheit, Zensur, Meinungsfreiheit, Kunstfreiheit usw. fort, die im Mittelalter und in der Frühzeit der bürgerlichen Gesellschaft aktuell waren, ohne zu merken, dass sie heute überholt sind.
Sie klammern sich in ihrer Rede an eine Gesellschaft, die gar nicht mehr existiert, weil die Produktionsverhältnisse längst andere sind. Die Gesetze von Meinungs- oder Pressefreiheit obliegen nicht mehr dem Monarchen, sondern dem freien Markt.
Der Markt ist die Konspiration
Dieser ist es, der strukturell, und nicht bewusst zensiert und unterdrückt oder „cancelt“. Konspirationen wurden durch den totalen Markt ersetzt, der etwa die Entfernung unbeliebter Personen viel besser regelt als jede Verschwörung, schon weil der Markt nur ein einziges Prinzip kennt: Popularität, also Beliebtheit auf Basis von Moral.
Wenn die gesamten Nationen verschworen ist, bedeutet das: Die Bevölkerung pflichtet dem Mythos bei, von dem sie als Realität überzeugt ist.
Das ist umso praktischer, weil im Gegensatz zu herkömmlichen Verschwörungen kaum noch wer offen lügen muss, sondern jeder seine vom Pluralismus, also der gesellschaftlichen Zersplitterung gedeckte, subjektive Meinung in seiner eigens für ihn eingerichteten sozialen Nische kultiviert, was freilich eine Gesamtlüge, den Kompromiss als kleinsten gemeinsamen Nenner zur Folge hat.
So dient die gleichzeitig chaotisch auf Einzelmeinungen begründete, aber in diesem Chaos auf nationale Grundprinzipien verpflichtete Öffentlichkeit als Apparat, der auch schwerwiegende Vorwürfe gegen die Herrschaft verpuffen lässt, indem er schon im Vorhinein jeden schwerwiegenden Vorwurf als Mythos von sich weist.
Herkömmliche Verschwörungen im kleinen Kreise funktionierten früher so: Jeder der Teilnehmer an ihr hatte ein eigenes Interesse, in dessen Sinne er dem Verschwörer-Kollektiv beitrat.
Auf ähnliche Weise wird heute in der Öffentlichkeit an das Interesse des Einzelnen appelliert: dass etwa das nationale deutsche Interesse, d.h. das der besitzenden Klasse, auch im Sinne der von deren Besitz Abhängigen, der Lohnabhängigen, der Arbeitslosen, der besitzlosen Eingewanderten usw. sei.
Dass dieser Appell verfängt, zeigt: Es gibt keine relevante Menge, die clever genug wäre, dass man sie eigens durch Verschwörungen betrügen müsste, also auch keine relevante Menge an Klassenbewussten, die man etwa am Umsturz oder nur am Klassenkampf hindern bräuchte.
Verschwörungen sind zum Großteil deswegen verschwunden, weil es keinen Grund mehr für sie gibt. Hier offenbart sich das Interesse der Verschwörungstheorie-Kritiker: ihre Erleichterung über die Abwesenheit von Verschwörungen, die sie als einen Fortschritt auffassen, ist in Wahrheit ein sehr schlechtes Zeichen. Wären Verschwörungen wieder nötig, wäre das für die Unterdrückten dieser Welt ein gutes Omen.
Darin aber, dass deren Kampf verhindert wird, liegt das öffentliche Komplott: jeder Einzelne denkt, das allen aufgedrängte, nationale Partikularinteresse sei zu seinem eigenen Nutzen – und nur deshalb will jeder an der öffentlichen Verschwörung, der „Verschwöffentlichkeit“, teilnehmen. Die Grenze einer Nation bildet die Grenze der Verschworenen und nur in deren Rahmen hat sie ihre Funktion: In den Niederlanden etwa „glaubte“ die Bevölkerung seit Ende März 2022 nicht mehr an Corona, und es „funktionierte“: Das Virus war aus dem Sinn und damit aus ihrer Welt. In Deutschland und anderen Ländern glaubte man zur selben Zeit noch an Covid, und auch das „funktionierte“, wo Funktionieren eben immer nur ein Kriterium hat: Jedes persönliche Interesse mit den Erfordernissen der herrschenden Apparatur zu vermitteln.
In Russland glauben die Leute, der Krieg in der Ukraine sei eine „Spezialoperation“, in Europa und den USA glauben sie, die europäischen und amerikanischen Kriege seien „Friedenseinsätze“. Die Konkurrenz des totalen Markts gleicht nicht nur die Individuen, sondern auch die Staaten immer mehr an: Wo alle unter demselben Prinzip konkurrieren, müssen alle gleich werden. Jede Nation hat ihre öffentliche Verschwörung, deshalb ist die internationale, nicht-öffentliche nicht mehr nötig. Die Zeitungen haben die Illuminaten überflüssig gemacht.
Man wird also, will man begreifen, wie es heute um das Verhältnis von Macht, Ohnmacht und Verschwörung bestellt ist, den Begriff der Verschwörung immer im Zusammenhang mit dem der Herrschaft zu vermitteln haben. Und damit auch den der ideologischen Vernebelung und des „Massenbetrugs“ (Adorno/Horkheimer) der Kulturindustrie (die nichts anderes als die heute so bezeichnete „Öffentlichkeit“ ist) im Zusammenhang mit dem kapitalistischen Produktionsdiktat betrachten müssen. Wer nicht von bürgerlicher Klassenherrschaft qua Ausbeutung von Arbeitskraft reden will, der sollte dann auch bitte keine Verschwörungsmythen-Kritik anstimmen.
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