Der Stadteil Neukölln gehört erst seit 1920 zu Berlins. Heute giltver als besonders typische für die neue Berliner Mischung aus Kulturen umd Nationalitäten.
31.10.2024 von Bettina Müller - Im Herbst 1916 töten zwei Teenager auf heimtückische Art eine 53 Jahre alte Blumenarbeiterin. Doch nicht die Polizei, sondern ein Geschäftsmann fasst die Täter.
Neukölln, am Abend des 25. September Jahr 1916. Im königlichen Polizeipräsidium in der Kaiser Friedrich-Straße 193/94 Ecke Wildenbruch-Str. 1–5 – heute heißt die Straße Sonnenallee – hat der 48 Jahre alte Leiter der Neuköllner Kriminalpolizei, Polizei-Inspektor Hermann Berlin, Dienst. Das Präsidium ist dem Berliner Polizeipräsidium unterstellt, die Neuköllner Fernsprechanlage ist zudem an die Zentrale der Berliner Polizeifernsprechanlage angebunden. An diesem Abend wird die Mordkommission zu einer Adresse am Maybachufer gerufen. Eine völlig verzweifelte Frau namens Maria Rudolphi hat ihre Schwester Anna blutüberströmt in ihrer gemeinsamen Wohnung gefunden.
Berlin, der den Tatort als Erster zu Gesicht bekommt, sieht sich mit einem Schlachtfeld konfrontiert. Da liegt die 53-jährige, aus Brandenburg an der Havel gebürtige Anna Rudolphi, tot auf ihrem völlig blutverschmierten Bett. Getötet, so wird die Obduktion ergeben, durch einen Messerstich in den Nacken, der die Halsschlagader getroffen hat.
Kriminalinspektor Berlin ist so ein Gemetzel eigentlich nicht gewohnt, ist die Reichshauptstadt Berlin doch eher das Zentrum der Kriminalität und Neukölln eher berüchtigt für seine Schmuggler. Und die töten selten, sondern wollen beispielsweise die vom Deutschen Reich zentralisierte Einfuhr von Fleischwaren, die nur von dazu vom Reich bestimmten Organen durchgeführt werden darf, umgehen.
Diesmal hat Kriminalinspektor Berlin leichtes Spiel, weil sich die Täter sehr unvorsichtig benommen haben. Beide Frauen lebten zurückgezogen, waren handwerklich sehr begabt, so viel wusste man in der Nachbarschaft über sie. Schon der Vater hatte als Pantoffelmacher gearbeitet, der Großvater in Ziesar sogar eine Färberei besessen. Und während Anna künstliche Blumen hergestellt hatte, war Maria in Neukölln als Stepperin beschäftigt. Beide waren 1904 nach dem Tod ihres Vaters von Magdeburg nach Neukölln umgesiedelt.
Die verräterische schwarze Markttasche
Dann sagt eine Zeugin aus, dass sie zwei junge Männer gesehen habe, die – bepackt mit Taschen, darunter auch eine schwarze Markttasche – über den Hof gegangen seien. So besteht schon bald der dringende Verdacht, dass die beiden tatsächlich auch die Mörder von Anna Rudolphi gewesen sind, deren schwarze Markttasche seit ihrer Ermordung verschwunden ist. Die Tasche, die Anna Rudolphi gehört hatte, diese fleißige Blumenarbeiterin, deren Heimarbeit schlecht bezahlt wurde, weil auch weibliche Gefängnisinsassen schon mal mit der gleichen Arbeit beschäftigt wurden und somit die Preise drückten.
Viele Frauen sind zu dieser Zeit als Heim- oder Fabrikarbeiterinnen in der Neuköllner Bekleidungsindustrie tätig, während sie um ihre Männer an der Front bangen. Sie stellen unter anderem auch kunstvoll künstliche Blumen her, mit denen die Damenwelt sich gerne schmückt. Es ist ein Knochenjob, 12- bis 13-Stunden-Tage sind keine Seltenheit, zudem das Kräuseln oder Falten des Materials – vor allem buntes Papier, aber auch Chenille oder Musselin –, welches gesundheitsschädliche Farben enthalten kann.
Bereits 1891 war in Friedrichshagen die „Freie Vereinigung der in der Blumen- und Putzfedern-Branche beschäftigten Arbeiter und Arbeiterinnen“ gegründet worden, weil dieser prekäre Beruf schnell in den Fokus der Frauenbewegung geraten war, die beispielsweise für die als proletarisch geltenden Blumenarbeiterinnen einen Achtstundentag forderte.
Maria Rudolphi ist sprachlos, als man ihr die mutmaßlichen Täter beschreibt. Sie kennt die Täter, sogar sehr gut. Es sind Bekannte, mit denen sie mit Anna sogar einmal kurz zusammen gewohnt haben. Es sind tatsächlich die beiden jungen Männer, die in der Nähe des Tatorts bereits aufgefallen waren. Derweil durchkämmen Kriminalpatrouillen ganz Groß-Berlin auf der Suche nach diesen beiden Tatverdächtigen, von denen sie nun die Namen und eine genaue Personenbeschreibung haben. Von den mörderischen Gebrüder Klaus, die fast noch wie Kinder wirkten, der 15-jährige Otto Klaus mit dem gedrückten Wesen, und der 17-jährige Richard Klaus, der auf Pressevertreter im Gerichtssaal einen „etwas schwachsinnigen“ Eindruck machen würde.
Nur zwei Tage nach der Mordtat geht die Besitzerin einer Gartenlaube nahe des alten Rixdorfer Ortskerns in ihren Garten. Die Laube ist Teil einer ganzen Kolonie namens „Wild-Amerika“. Laubenkolonien wie diese haben dort bereits Tradition, entlang der Kaiser-Friedrich-Allee gibt es mehrere mit ähnlich fantasievollen Namen wie zum Beispiel „Bauer’s Ruh’“, „Storchnest“ oder „Durstighaufen“. Als die Frau ihre Datsche betreten will, bemerkt sie sofort, dass die Tür von innen verriegelt ist, während das Vorhängeschloss auf der Erde liegt. Die Vorhänge, die die Frau in der Regel immer offen hat, sind blickdicht zugezogen.
Die Frau reagiert geistesgegenwärtig, weil sie weiß, dass sich in der Gegend zwei Raubmörder herumtreiben. Sie schließt die Tür mit dem Vorhängeschloss ab und eilt davon, um Hilfe zu holen. Die findet sich schnell in Gestalt von Ernst Mohr, dem Inhaber des gleichnamigen Neuköllner Asphalt- und Dachdeckergeschäfts.
„Ihr seid die beiden Mörder vom Maybachufer!“
In der Zwischenzeit haben die beiden jungen Männer die von innen verriegelte Tür wieder geöffnet. Blitzschnell wagt sich Mohr hinein und sieht sich zwei jungen Leuten gegenüber. „Ihr seid die beiden Mörder vom Maybachufer!“, schreit er sie laut an und packt dann sofort den Älteren am Schlafittchen. Der reißt sich los, es entsteht ein Tumult, als Mohr nun den Jüngeren packen will, der sich aber vehement dagegen wehrt und sich schließlich schreiend auf die Erde wirft, als ob ihn das vor der drohenden Verhaftung retten könnte.
Erst als Mohr ihn mit Fäusten traktiert, während der Ältere mittlerweile scheinbar apathisch daneben steht und schon gar nicht mehr an Flucht denken kann, gibt der Junge schließlich auf. Mohr wiederholt noch einmal, noch anklagender: „Ihr seid die Mörder! Gebt es endlich zu!“ – bis der Ältere schließlich – belegt durch das Gerichtsprotokoll – den erlösenden Satz spricht: „Entschuldigen Sie nur, wir sind es gewesen.“
Mohr karrt die Mörder vom Maybachufer unverzüglich zur nächsten Polizeiwache in der Elbestraße, von wo aus sie zum Neuköllner Polizeipräsidium gebracht werden. Dort sitzen sie schon bald vor ihrer Nemesis in Gestalt des Kriminalinspektors Berlin. Er erkennt sofort ihre Unsicherheit, spürt, dass der Jüngere sich dem Älteren unterordnet, weil er wesentlich intelligenter ist. So muss er nach wenigen Fragen, die er bewusst laut und streng vorträgt, nicht lange auf ein vollständiges Geständnis warten.
Am 8. November 1916 müssen sich die Gebrüder Klaus vor dem II. Landgericht Berlin verantworten. Sie sind bereits vorbestraft, Richard zweimal wegen Diebstahls, Otto wegen Diebstahls und Unterschlagung. Daher hatte man sie in die Erziehungsanstalt nach Lichtenberg gebracht und sie dann zu der Familie Grünefeld in Paretz gegeben, wo Richard bei einem Bäckermeister und Otto bei einem Materialwarenhändler arbeitete. Bis sie beschlossen, nach Berlin zu fliehen – mit wenig Geld in der Tasche. Dort schlugen sie sich mehr schlecht als recht durch, aber auch nur, weil die beiden Schwestern Rudolphi ihnen mit dem Wenigen, was sie selber hatten, halfen.
Erschütternde Details aus der Familiengeschichte
Weil die beiden Angeklagten ein umfassendes Geständnis abgelegt haben, verzichtet der Gerichtshof auf einen Teil der Zeugenbefragungen und lehnt auch ein Gutachten des Sachverständigen Dr. Magnus Hirschfeld ab. Rechtsanwalt Dr. Davidsohn kann dem Vater erschütternde Details aus der Familiengeschichte entlocken, nämlich dass der Großvater der Brüder Klaus Suizid begangen hat und die Mutter schwachsinnig gewesen sei. Die geistige Schwachheit habe Richard offenbar geerbt, er habe nur eine Hilfsschule besucht.
Tatsächlich erweisen sich die beiden vor Gericht als einerseits sehr naiv, andererseits aber auch als unfassbar gefühlskalt, was den Umgang mit anderen Menschen angeht, die ihnen wohl gesonnen waren. Die Gerichtsprotokolle belegen zudem, dass die Brüder Klaus keinerlei Reue zeigten und offenbar davon ausgegangen waren, nur eine Strafe von maximal zweieinhalb Jahre zu erhalten. Sie schildern auch den Tathergang. Wie sich Anna Rudolphi kurz umdrehte, um sich zum Ausgehen fertig zu machen. Die Brüder sich nur wortlos ansahen und wussten, was zu tun war. Wie Otto, angestachelt von seinem Bruder, schließlich mit dem Messer in den Hals der Frau stach. Die Frau, die ihnen wohl gesonnen war, die ihnen sogar aus Mitleid ein wenig Geld und Nahrungsmittel geschenkt hatte. Der sie dann einen lächerlich geringen Geldbetrag geraubt hatten. 1,50 Mark für ein Menschenleben.
Nach Kriegsende überschlagen sich in Berlin die Ereignisse
Am Ende werden beide zu je 15 Jahren Gefängnis verurteilt. Sie verschwinden hinter Gittern und aus der Tagespresse, sodass man zunächst keinen Hinweis auf ihr weiteres Schicksal findet. Viel Zeit geht ins Land, vor allem im Jahr 1918 überschlagen sich nach Kriegsende in Berlin die Ereignisse. Und auch Anfang 1919 herrscht mit dem Spartakusaufstand in Berlin alles andere als Ruhe, was sich bis weit in den September fortsetzt, während der Gefängnisaufseher Franz Gutzeit dem Plötzenseer Standesamt am 13. September 1919 den Tod des Bäckerlehrlings Richard Klaus meldet, der an diesem Tag im Gefängnis verstorben ist. „Lungentuberkulose“ hat der Standesbeamte noch mit Bleistift im Sterberegister vermerkt. Doch da ist auch noch Otto Klaus, der zum Zeitpunkt des Todes seines Bruders immer noch in Plötzensee inhaftiert ist. Zu einem unbekannten Zeitpunkt wird er vorzeitig entlassen.
Und dann schafft er das, was anderen ehemaligen Straftäter versagt bleibt, die Rückkehr in ein bürgerliches Leben. Am 31. Dezember 1931 heiratete der Schuhmacher Otto Paul Klaus in Berlin die Arbeiterin Gertrud Hasselbach. Über sein weiteres Leben ist nichts bekannt. Doch die große Schuld blieb. Am 12. Januar 1959 ist Otto Klaus in Braunschweig gestorben.
Bettina Müller lebt als freie Autorin in Köln und schreibt für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften vor allem über diese Themen: Historischer True Crime; Kunst, Kultur und Literatur der Weimarer Republik; Reise; Genealogie .