Die Grenzbehörde der EU war in illegale Pushbacks von Hunderten, wahrscheinlich sogar Tausenden Flüchtlingen in der Ägäis involviert. Die illegalen Praktiken klassifizierte sie regelmässig falsch und verhinderte so ihre Aufklärung.
Sie hatten es geschafft. In den frühen Morgenstunden des 28. Mai 2021 landete eine Gruppe von Männern, Frauen und Kindern an einem Strand nördlich des Dorfs Panagiouda auf der griechischen Insel Lesbos. Um 3 Uhr in der Nacht waren sie an der türkischen Küste in ein Gummiboot gestiegen, um die Überfahrt nach Europa zu wagen.
Ganz vorne im hoffnungslos überfüllten Boot hatte Aziz Berati Platz genommen, ein 44-jähriger Mann aus Afghanistan, der mit seiner Frau und seinen Kindern im Alter von 6 und 8 Jahren nach Europa fliehen wollte. Seine Familie hatte es schon ein paar Mal versucht, aber sie war immer gescheitert. An diesem Morgen Ende Mai jedoch war die Familie ihrem Ziel, Asyl in Europa zu beantragen, so nah wie noch nie.
Die Sonne stand noch nicht am Himmel, als die Flüchtenden griechischen Boden betraten. Sofort teilte sich die Gruppe auf und floh in ein Wäldchen, das rund 200 Meter vom Strand entfernt war. Eigentlich hätten die Flüchtenden das Recht gehabt, in Griechenland um Asyl zu ersuchen. Aber sie fürchteten, die griechische Polizei könnte sie aufgreifen und in die Türkei zurückschaffen.
Sie sollten recht behalten.
Einem kleineren Teil der Gruppe gelang die Flucht bis in ein Asylcamp. Aber 32 Personen wurden von uniformierten Männern entdeckt, festgenommen, in Kleinbusse gesteckt und an einen anderen Strand gefahren.
Aziz Berati vermutet, die Männer seien bereits über ihre Ankunft im Bild gewesen, so schnell waren sie aufgetaucht. Sie trugen dunkle Uniformen ohne Abzeichen, waren maskiert und mit Pistolen bewaffnet, sagt Berati. Sie hätten ihnen alle Habseligkeiten abgenommen: Taschen, Pässe, selbst die Spielsachen der Kinder. Später, als sie auf ein Schiff der griechischen Küstenwache gebracht worden waren, wurden sie noch einmal durchsucht. Dort wurde ihnen auch das Geld abgenommen, das sie versteckt hatten.
«Wir hatten Angst», sagt Berati heute. «Die Kinder weinten. Aber die Männer sagten uns, wir dürften nicht reden.»
Wer ein Handy versteckt hielt oder in unerlaubter Weise den Kopf hob, steckte Schläge von den maskierten Männern ein. Ein Mann, der es wagte, mit seiner Frau zu sprechen, schickte der Republik ein Bild seines zerschundenen Beins: Eine blutige Fleischwunde zeugt davon, wie schwer er verprügelt wurde. Einige Smartphones entdeckten die maskierten Männer nicht. Die Fotos schickten die Flüchtenden der NGO Aegean Boat Report, die Menschenrechtsverstösse in der Ägäis sammelt. Sie belegen die mutmasslich schweren Menschenrechtsverletzungen dieses Tages.
Aziz Berati erzählt, die vermummten Männer hätten ihnen vorgegaukelt, sie würden sie wegen der Covid-Pandemie zuerst in ein Isolationscamp bringen. «Sie sagten, wenn die Isolation zu Ende ist, würden sie uns in ein Flüchtlingscamp schicken.»
Auf die Frage, ob er ihnen geglaubt habe, lächelt Berati schwach: «Nein.»
Nur eine «Verhinderung der Ausreise»?
Der Fall der 32 Migrantinnen, die Lesbos erreichten, aber trotzdem in die Türkei zurückgeschafft wurden, ist ein klarer Fall eines illegalen Pushbacks.
Auch die europäische Grenzagentur Frontex hatte vom Vorfall Kenntnis und speicherte ihn in ihrer internen Datenbank namens Jora, was für «Joint Operations Reporting Application» steht. In der geheimen Datenbank werden alle Zwischenfälle an den EU-Aussengrenzen minutiös festgehalten. Den Fall vom 28. Mai 2021 legte Frontex allerdings nicht als Pushback ab, sondern unter dem irreführenden und verharmlosenden Begriff prevention of departure – «Verhinderung der Ausreise».
Der Pushback vom 28. Mai 2021 ist nur ein Beispiel von vielen, welche die Republik in einer gemeinsamen Recherche mit «Lighthouse Reports», der «Rundschau» von SRF, dem «Spiegel» und «Le Monde» aufgedeckt und verifiziert hat.
Erstmals haben die Medienpartner dabei die interne Frontex-Datenbank Jora auswerten können – und sie mit Datenbanken der türkischen Küstenwache sowie solchen von NGOs abgeglichen. Zudem analysierten sie geleakte Frontex-Dokumente, befragten Überlebende und sprachen vertraulich mit Quellen bei Frontex und Küstenwachen.
Die Recherche zeigt: Frontex war in illegale Pushbacks von mindestens 957 Menschen beteiligt, die zwischen März 2020 und September 2021 in Europa Schutz suchten. Überwachungsflugzeuge und Schiffe von Frontex entdeckten die Flüchtenden in Schlauchbooten und informierten die griechische Küstenwache, welche sie auf aufblasbare Rettungsflosse ohne Motor setzte und auf offenem Meer in türkischen Gewässern zurückliess – eine Praxis, die selbst in einem Frontex-internen Untersuchungsbericht kritisiert wurde.
Als Pushbacks gelten staatliche Massnahmen, bei denen Schutzsuchende zurückgedrängt werden, ohne dass ihnen das Recht auf ein Asylverfahren gewährt wird. Pushbacks verstossen etwa gegen das Verbot von Kollektivausweisungen, das in der Europäischen Menschenrechtskonvention festgeschrieben ist; und sie können auch das Non-Refoulement-Prinzip berühren, wonach niemand in ein Land geschickt werden darf, wo ihm ein ernsthaftes Risiko unmenschlicher Behandlung droht.
In mindestens zwei Fällen waren die Asylsuchenden, darunter Frauen und Kinder, bereits auf einer griechischen Insel gelandet und wurden danach verbotenerweise in türkischen Gewässern ausgesetzt.
Selbst diese eindeutig rechtswidrigen Fälle sind in der Frontex-Datenbank unter dem Titel «Verhinderung der Ausreise» abgelegt. Zwei Quellen bei Frontex bestätigen, dass illegale Pushbacks in der Ägäis in der Datenbank Jora regelmässig als «Verhinderung der Ausreise» eingetragen wurden.
Frontex selbst hat stets bestritten, an den illegalen Pushbacks beteiligt zu sein. Die Grenzagentur sagt auf Anfrage: «Frontex gewährleistet und fördert die Achtung der Grundrechte bei all seinen Grenzschutzaktivitäten. Die Grundrechte stehen im Mittelpunkt aller Aktivitäten der Agentur.» (Die komplette Stellungnahme finden Sie am Ende des Beitrags.)
Die griechische Küstenwache hält fest, dass die Kategorie «Verhinderung der Ausreise» gewählt werde, wenn die türkische Küstenwache sich um «Zwischenfälle in ihrer Jurisdiktion kümmere». Das beinhalte auch Fälle, bei denen Flüchtlingsboote von sich aus in türkische Gewässer zurückkehrten, um den Griechen auszuweichen. Sie verweigert die Beantwortung von Fragen, die unter anderem auf türkischen Belegen basieren, da die türkischen Behörden systematisch versuchten, «die immense humanitäre Arbeit der griechischen Küstenwache zu beschädigen». Bezüglich des Pushbacks vom 28. Mai 2021 halten die griechischen Behörden fest, dass die beschriebenen Vorkommnisse nie stattgefunden hätten. (Die komplette Stellungnahme finden Sie am Ende des Beitrags.)
Medienberichte erhöhten den Druck auf den Frontex-Chef
Die Zahl der illegalen Pushbacks in der Ägäis hatte im Frühling 2020 markant zugenommen. Das war kein Zufall: Nachdem der syrische Diktator Bashar al-Assad mithilfe Russlands die Angriffe in der Region um Idlib verstärkt hatte, waren in den ersten Monaten des Jahres Zehntausende, wenn nicht Hunderttausende in die Türkei geflüchtet. Doch der türkische Staatschef Recep Erdoğan sagte am 29. Februar 2020: «Es ist nicht unsere Aufgabe, uns um so viele Flüchtlinge zu kümmern.» Er kündigte das vier Jahre vorher abgeschlossene Migrationsabkommen mit der EU auf und öffnete die Grenzen zu Europa.
Auch aus diesem Grund machten sich im Frühling 2020 immer mehr Menschen über die Ägäis nach Griechenland auf – und wurden immer wieder mit illegalen Pushbacks zurück in die Türkei getrieben.
Allerdings nahmen gleichzeitig kritische Recherchen und Berichte über Pushbacks und andere Menschenrechtsverletzungen in der Ägäis zu. Vor allem eine Recherche, welche die Investigativplattform «Bellingcat» im Oktober 2020 mit «Lighthouse Reports» veröffentlichte, sollte Frontex noch länger beschäftigen.
Auch wegen der zahlreichen Medienberichte wuchs der Druck auf Frontex und auf Fabrice Leggeri. Der 54-jährige Franzose ist seit 2015 Direktor und der starke Mann der EU-Grenzbehörde.
Es war der 10. November 2020, als Leggeri sich, seinen Ruf und sein Amt wegen der Pushback-Vorwürfe vor dem höchsten Frontex-Gremium, dem Verwaltungsrat, verteidigen musste. Seither ist die Kritik an ihm nur noch grösser geworden.
An der Videokonferenz an jenem Tag nahmen rund dreissig Frontex-Verwaltungsräte, ein halbes Dutzend EU-Beamtinnen sowie Leggeri selbst teil. Auch eine Schweizer Vertretung war an der ausserordentlichen Sitzung anwesend, so wie bei allen Sitzungen des Verwaltungsrats. Zum Meeting gedrängt hatte die Kommission der Europäischen Union, die sich nicht nur um den Ruf ihrer Grenzbehörde sorgte, sondern auch – oder vor allem – um den eigenen.
Es bestehe ein «hohes Reputationsrisiko», sagte eine EU-Beamtin gemäss dem geheimen Protokoll der Konferenz. Dieses und die Protokolle zahlreicher weiterer Verwaltungsratssitzungen von Frontex liegen der Republik vor.
Leggeri stellte an der Konferenz drei Dinge klar:
Erstens: Frontex habe die sechs Pushbacks, über die «Bellingcat» berichtet hatte, abgeklärt.
Zweitens: Der Bericht enthalte kaum Fakten. Namentlich zum genauen zeitlichen Ablauf der Vorfälle gebe es keine Angaben.
Drittens: Es lasse sich nicht folgern, dass Frontex von den Pushbacks gewusst habe – und dass die Behörde in diese verwickelt gewesen sei.
Das alles geht aus einer Präsentation hervor, die Frontex für die Verwaltungsratssitzung vom 10. November 2020 erstellt hatte, sowie aus dem Protokoll dazu. Darin steht geschrieben: «Der Exekutivdirektor von Frontex bekräftigte, dass es zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine Hinweise auf eine direkte oder indirekte Beteiligung der Frontex-Mitarbeiter oder des von den Mitgliedstaaten entsandten Personals an Pushback-Aktivitäten gibt.»
Leggeris damalige Aussagen wirken heute wie ein Hohn. Oder wie eine Lüge. Denn zumindest in zwei Fällen, über die «Bellingcat» berichtet hat, bestätigen jetzt die Einträge in der Datenbank Jora, dass Frontex – entgegen Leggeris Äusserungen – in die Pushbacks involviert war.
Leggeri schilderte an diesem Tag seinen Verwaltungsräten auch, wie es im März 2020 zu den Spannungen zwischen der EU und der Türkei kam, wie diese die Menschen plötzlich nicht mehr daran hinderte, nach Europa überzusetzen, und wie sich so «in zwei bis drei Tagen fast 100’000 Personen der EU-Grenze genähert» hätten.
Dieses Muster kennt man von ihm:
Leggeri verweist auf eine drohende Massenflucht nach Europa.
Leggeri bestreitet, dass es Pushbacks gibt. Oder, wenn dem alle Fakten entgegenstehen, dass Frontex in Pushbacks verwickelt ist.
Leggeri geht Hinweisen auf Pushbacks kaum nach. Ja, noch mehr: Er lässt zu, dass seine Behörde Pushbacks vertuscht.
Mit anderen Worten: Alles deutet darauf hin, dass dem starken Mann von Frontex die Wahrung der Grundrechte nicht wichtig ist. Oder jedenfalls weniger wichtig als die Sicherung der europäischen Aussengrenze und die Abschottung Europas.
Was das Vertuschen der Pushbacks in den Jahren 2020 und 2021 begünstigte, war das Meldesystem von Frontex, das mittlerweile angepasst worden sein soll. Damals funktionierte es wie folgt:
Ein griechischer Beamter erfasste jeden Vorfall an der Grenze zur Türkei in der Frontex-Datenbank Jora. Dort trug er die Eckdaten des Falls ein und ordnete ihn einer der rund dreissig Kategorien zu – etwa der Kategorie «Illegaler Grenzübertritt», «Menschenhandel», «Warenschmuggel», «Asylantrag» oder eben «Verhinderung der Ausreise». Anschliessend prüften zwei weitere griechische Beamte sowie eine Frontex-Mitarbeiterin den Eintrag und segneten ihn ab. Zuletzt landete der Eintrag in der Frontex-Zentrale in Warschau, wo die Jora-Einträge vor allem für statistische Zwecke genutzt werden, etwa für sogenannte Risikoanalysen.
Nur: Eine Kategorie «Grundrechtsverletzung» oder «Pushback» gab es in der Datenbank nicht. Auch aus diesem Grund klassifizierten die Beamten von Griechenland und der EU die Pushbacks in der Ägäis kurzerhand als «Verhinderung der Ausreise».
Das führte selbst innerhalb von Frontex zu Kritik. So sagte die interimistische Grundrechtsbeauftragte an der Verwaltungsratssitzung vom 10. November 2020, sie erachte die Klassifizierung von Pushbacks als «Verhinderung der Ausreise» als «fragwürdig». In einem anderen internen Frontex-Dokument spricht sie davon, dass sie mit dem Begriff «nicht einverstanden» sei, und stellte die Kategorie in einem Fall infrage.
Auch eine Frontex-interne Untersuchungsgruppe hatte Kenntnis von der fragwürdigen Praxis. In ihrem Bericht vom 1. März 2021 zu mutmasslichen Pushbacks bezeichnete sie diese Klassifizierung in zwei Fällen, in denen sich die Geflüchteten bereits in griechischen Gewässern befanden, als «widersprüchlich».
Europäische Grenzbeamte, welche die griechischen Kollegen im Rahmen der Frontex-Operation Poseidon unterstützten, hatten eine andere Möglichkeit, mutmassliche Menschenrechtsverletzungen an Frontex zu melden: als sogenannte serious incidents – «schwerwiegende Vorfälle».
Dabei gab es vier Unterkategorien. Eine davon: «Mögliche Verletzung von Grundrechten und von internationalen Schutzverpflichtungen». Diese Fälle sollten in der Regel bei der Menschenrechtsbeauftragten von Frontex landen, was allerdings nicht in jedem Fall geschieht.
Tatsächlich machten europäische Grenzwächter denn auch sehr selten von dieser Möglichkeit Gebrauch. So landeten für das ganze Jahr 2020 lediglich zehn schwerwiegende Zwischenfälle auf dem Tisch der Frontex-Grundrechtsbeauftragten; wie viele davon Menschenrechtsverletzungen betrafen, wies Frontex öffentlich nicht aus. In einem internen Dokument der Grundrechtsbeauftragten heisst es, acht Fälle hätten Grundrechtsverletzungen betroffen. Das Dokument liegt der Republik vor.
Mehr noch: Im Dezember 2020 leitete das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung (Olaf) eine Untersuchung gegen Frontex ein. Dabei geht es um Betrugsvorwürfe gegen drei Frontex-Kaderleute, im Zentrum steht der Direktor Fabrice Leggeri. In der Zwischenzeit ist diese abgeschlossen und der Bericht fertig. Aber er bleibt bis auf weiteres unter Verschluss.
Die niederländische EU-Parlamentarierin Tineke Strik, die über die Untersuchungsergebnisse informiert worden ist, sagt: «Olaf fand mehrere Fälle, bei denen serious incident reports über mutmassliche Pushbacks nicht an den Grundrechtsbeauftragten von Frontex weitergeleitet worden waren.»
Spätestens an dieser Stelle ist ein kurzer Exkurs ins Grund-, Asyl- und EU-Recht nötig. Die europäische Grenzbehörde Frontex verteidigte ihr Vorgehen nämlich immer wieder mit dem Verweis auf die EU-Verordnung 656/2014. Deren Artikel 6 sei rechtliche Grundlage dafür, dass Griechenland Boote mit Asylsuchenden in die Türkei zurückdrängen dürfe.
Allerdings stehen dieser Verordnung zahlreiche andere Rechtsnormen entgegen. Die wichtigste: die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, welche die Uno 1948 verabschiedet hat. In deren Artikel 14 heisst es: «Jeder hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu geniessen.»
Rechtswissenschaftlerinnen aus dem In- und Ausland erklären, dass eine Bestimmung des Völkerrechts selbstredend wichtiger sei als eine aus einer EU-Verordnung. Frontex selbst weist hingegen auf ein noch ungeklärtes Verhältnis zweier unterschiedlicher Rechtsnormen hin, gewissermassen ein juristisches Schlupfloch, womit Pushbacks nicht in jedem Fall illegal seien.
Die Juristin Nula Frei ist Expertin für Migrations- und Europarecht an der Universität Fribourg. Sie sagt: «Sobald eine Person irgendwie zu erkennen gibt, dass sie Schutz braucht, muss man ihr die Möglichkeit geben, in ein Asylverfahren hineinzukommen.»
Würden die Migrantinnen aus Griechenland in die Türkei zurückgedrängt und auf Rettungsinseln ausgesetzt, sei das nicht nur ein Pushback, «es ist auch noch ein Aussetzen in einer Notlage, was völkerrechtlich höchst problematisch ist».
Neun Frontex-Sitzungen, eine Schweizer Äusserung
Am 2. März 2022 warben Bundesrat Ueli Maurer und Bundesrätin Karin Keller-Sutter an einer Medienkonferenz in Bern für Frontex. Die Grenzbehörde der EU soll in den nächsten fünf Jahren von rund 1500 auf rund 10’000 Beamte ausgebaut werden; dafür braucht es eine deutliche Erhöhung des Budgets auf mehr als fünf Milliarden Franken.
Weil die Schweiz Schengen- und damit auch Frontex-Mitglied ist, soll sie 61 Millionen Franken an diesen Ausbau zahlen. Das Parlament hatte den Beitrag im letzten Oktober bewilligt. Weil ein Komitee aber das Referendum ergriff, kommt die Vorlage am 15. Mai zur Abstimmung.
Wer Ueli Maurer am 2. März reden hörte, staunte nicht schlecht. In der Vergangenheit hatte sich der SVP-Bundesrat kaum je für Grund- und Menschenrechte eingesetzt. Dieses Mal schon. Zu den Pushbacks von Frontex sagte er: «Es gibt da nichts zu beschönigen. Es gab hier Verstösse, die wir nicht akzeptieren wollen und nicht akzeptieren können.»
Genau aus diesem Grund aber müsse die Schweiz, so Maurers überraschendes Argument, bei Frontex mitmachen und sich am Ausbau beteiligen: «Wir versuchen hier alles, um die Qualität zu stärken. Die Frage des Referendums ist vielleicht einfach die: Schauen wir weg, Augen zu, Ohren zu und Mund zu (…), oder greifen wir dort mit ein und setzen uns dort für Verbesserungen ein, wo das notwendig ist? Ich glaube, die Rolle der Schweiz ist es, für diese Verbesserungen zu sorgen.»
Noch deutlicher wurde am 2. März Marco Benz, der Grenzbeamte des Bundes, der die Schweiz im Verwaltungsrat von Frontex vertritt. «Im Management-Board», sagte er, «werden diese Themen wie insbesondere die Einhaltung des Grundrechtsschutzes permanent thematisiert.» Dort habe die Schweiz die Möglichkeit, ihre Anliegen einzubringen. «Und das ist ein zentrales Anliegen der Schweiz, dass ebendieser Grundrechtsschutz eingehalten wird.»
Überdies betonte Benz, dass eine Vertreterin der Schweiz Mitglied der Frontex-Arbeitsgruppe war, die verschiedene Pushback-Fälle aufarbeitete.
Was Benz nicht sagte: Die Arbeitsgruppe kam nur wegen der Pushback-Vorwürfe der Medien zustande. Und sie hatte bloss einen sehr beschränkten Auftrag. Ziel der Untersuchungsgruppe war es laut internen Sitzungsprotokollen, Klarheit über die Vorfälle zu schaffen. Dagegen war eine «Interpretation, ob das richtig oder falsch war», ausdrücklich unerwünscht, wie es im Mandat der Untersuchungsgruppe heisst.
Entsprechend fiel das Ergebnis aus: 8 von 13 Vorfällen wurden bereits in einem vorläufigen Bericht ausgesondert. Bei 6 davon begründete die Untersuchungsgruppe den Ausschluss damit, dass sich die Vorfälle in türkischen Küstengewässern abgespielt hätten und damit nicht als potenzielle Grundrechtsverletzung infrage kämen.
Eine zumindest streitbare Behauptung, da man davon ausgehen kann, dass die Flüchtenden, die häufig in überfüllten und seeuntauglichen Booten über die Ägäis fuhren, in Europa Asyl beantragen wollten, aber in vielen Fällen vor Grenzübertritt von Frontex entdeckt und von der griechischen Küstenwache daran gehindert wurden.
Dass die griechische Küstenwache dabei auch zu fragwürdigen Methoden greift, zeigt ein Zwischenfall, der sich am 27. Juli 2020 ereignete.
An diesem Tag entdeckte ein dänischer Helikopter, der im Rahmen der Joint Operation Poseidon die Ägäis überwachte, in den frühen Morgenstunden ein Gummiboot, das sich in griechischen Gewässern südlich der Insel Chios befand. Die griechische Küstenwache übernahm den Fall, nahm die Migrantinnen auf dem Boot aber nicht an Bord, sondern drängte sie ab und verständigte die türkischen Kollegen, die sie zurück in die Türkei brachten.
Die Griechen sollen daraufhin die Dänen aufgefordert haben, ihren Bericht so zu ändern, dass sie das Flüchtlingsboot nicht in griechischen, sondern in türkischen Gewässern entdeckt hätten, womit – zumindest in den Augen von Frontex und der griechischen Küstenwache – kein Pushback vorläge.
Die Dänen aber weigerten sich und reichten einen serious incident report ein mit Verdacht auf eine mutmassliche Grundrechtsverletzung.
Die Griechen stritten das ab (die Flüchtenden hätten von sich aus den Kurs in Richtung Türkei geändert) und verteidigten sich damit, es habe ein Missverständnis in der Kommunikation vorgelegen.
Auch diesen Fall legte Frontex in der internen Datenbank Jora als «Verhinderung der Ausreise» ab.
Und obwohl die griechische Küstenwache ihren Fallbeschrieb in der internen Datenbank Mitte Februar aufgrund des serious incident report anpasste und präzisierte, kam die Frontex-interne Untersuchungsgruppe, der auch die Schweizer Vertreterin angehörte, zum Schluss: Man habe den Fall nicht ausreichend klären können.
Grossflächig geschwärzte Dokumente
Auch im Frontex-Verwaltungsrat hielt sich das Engagement der Schweiz für die Wahrung der Menschenrechte in engen Grenzen. Im Jahr 2020, als es in der Ägäis zu zahlreichen Pushbacks kam, tagte das Management-Board neun Mal. Die Schweizer Vertretung äusserte sich aber lediglich vereinzelt zu Grundrechtsfragen.
Einmal geschah das an der Sitzung vom 10. November 2020. Im Protokoll dazu heisst es: «Die Schweiz sagte, dass alle Anschuldigungen in den Medien sehr ernst genommen werden sollten (…). Sie vertrat die Auffassung, dass der weitere Umgang mit diesen Vorwürfen eine klare Strategie erfordert, da sonst das Image der Agentur leiden könnte.» Es ging um Grundrechte – aber vor allem um den Ruf von Frontex.
Das Bundesamt für Zoll und Grenzsicherheit (BAZG) sagt auf Anfrage, diese Darstellung sei «grundlegend falsch». Auf Nachfrage präzisiert die Bundesbehörde, sie habe sich zu späteren Zeitpunkten im Jahr 2021 und auch im laufenden Jahr «wiederholt zum Thema Grundrechte geäussert», sich direkt an Frontex-Direktor Leggeri gewandt und «schriftliche Eingaben» gemacht. Die Interventionen seien jedoch «vertraulich und können nicht herausgegeben werden». «Schliesslich geben wir zu bedenken, dass sich Grundrechtspolitik nicht anhand von Sitzungsberichten qualifizieren lässt.»
Was die Recherche der Republik und ihrer Partnermedien zeigt: Bei Frontex und deren Mitgliedstaaten blieb vieles lang im Dunkeln.
Dieser Eindruck wurde durch die Schweizer Behörden zumindest nicht entkräftet. Die Republik hatte das BAZG schon vor mehreren Monaten um Einsicht in Dokumente gebeten, welche die Rolle der Schweiz in der EU-Grenzbehörde beleuchten. Dazu stellte die Republik ein umfassendes Gesuch im Rahmen des Öffentlichkeitsgesetzes und forderte Einblick in Einsatzpläne, Korrespondenzen, Aktennotizen, Einsatzberichte, Arbeitsverträge, Unterlagen zum Schweizer Engagement in Sachen Menschenrechte.
Vordergründig gab sich die Behörde auskunftsbereit und lud mehrmals zu Treffen, um das Gesuch einzugrenzen, zu präzisieren und letztlich einfacher bewältigbar zu machen. Tatsächlich aber rückte es bis jetzt nur einzelne und zudem grossflächig geschwärzte Dokumente heraus.
Die Schweizer Rolle in Frontex – sie bleibt in einer Blackbox.
Noch einmal zurück zum 28. Mai 2021
Am 28. Mai 2021, kurz nach 13 Uhr, erblickte Aziz Berati ein Schiff der türkischen Küstenwache. Es war kurz zuvor darüber verständigt worden, dass ein Rettungsfloss im Meer treibe. Auf einem Bild, das die türkische Küstenwache später veröffentlichte, ist Berati auf dem Rettungsfloss zu sehen, gemeinsam mit einem seiner Kinder. Eine Person hielt die Hand in die Höhe: Hilfe!
Kurz darauf machten drei Männer der türkischen Küstenwache das Floss an ihrem Schiff fest. Sie trugen schwarze Schutzanzüge, Handschuhe und blaue Mützen. Dann holten sie einen kleinen Jungen vom Boot. Er war vielleicht drei Jahre alt.
Es folgten weitere Kinder, Frauen, Männer: 32 Personen insgesamt, die frühmorgens von der Türkei nach Lesbos aufgebrochen und es geschafft hatten.
Trotzdem verwehrte man ihnen das Recht auf ein Asylverfahren in Europa. Stattdessen wurden sie festgenommen, unter Vorspiegelung falscher Tatsachen weggebracht und schliesslich auf offenem Meer ausgesetzt.
Die türkische Küstenwache meldete den Fall als Pushback. So wie sie es fast jeden Tag tut.
Frontex hingegen deklarierte den Fall als «Verhinderung der Ausreise». So wie sie es sehr häufig tut.
Ein Offizier der griechischen Küstenwache sagt dazu: «Warum nennen sie es nicht einfach Pushbacks und bringen es hinter sich?»
Aziz Berati lebt heute mit seiner Familie in der Türkei. Bisher hat er die Flucht nicht wieder gewagt. Noch nicht.
Wenn er an den 28. Mai 2021 denkt, wird er wütend und traurig. Man habe ihn, seine Familie und seine Begleiterinnen unmenschlich behandelt – «bloss weil wir illegal über die Grenze gehen wollten».
«Es ist kein Verbrechen, Schutz zu suchen», sagt Berati. «Sie hätten sich wenigstens anständig verhalten können, uns mit ein wenig Menschlichkeit begegnen.»
Beratis Kinder weinten, als die griechischen Küstenwächter die Migrantinnen aufforderten, über eine grosse Leiter auf ein Rettungsfloss zu steigen. Sie hatten Angst. Ein Mann wollte sich weigern, da stiessen ihn die Küstenwächter, sagt Berati. Er wäre beinahe ins Wasser gefallen.
Dann trieben die Menschen rund zwei Stunden auf offenem Meer – ohne Sonnenschutz, ohne Gepäck, ohne Motor.