Computer-Erfinder Zuse: Modernitätsschub in Nazi-Deutschland
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17.4.2023 von Maritta Adam-Tkalec - Zwei Jahre lang hatte Konrad Zuse im Wohnzimmer seiner Eltern in der Wrangelstraße 35 in Kreuzberg an der Umsetzung seiner Idee gebaut: eine mechanische Rechenmaschine, die Wissenschaftlern und Ingenieuren wie ihm selber die langwierigen und mühsamen Berechnungen erleichtern und beschleunigen sollte. 1938, vor 85 Jahren, war er fertig und nannte das Gerät zunächst Versuchsmodell 1, kurz V1. Der Prototyp war der erste frei programmierbare und programmgesteuerte Computer der Welt. Die Maschine rechnete vollautomatisch im binären Zahlensystem und mit Gleitkommazahlen.
Das alles war visionär und Zuse der Entwicklung zu jener Zeit deutlich voraus. Er war beim Bau der dann Z1 genannten Maschine überzeugt, dass sich alle Rechenoperationen in elementare Rechenschritte auflösen ließen. Das mechanische Gehirn sollte alle Denkaufgaben lösen können, sobald sie von einem Mechanismus erfasst wären. Die Idee, alle Operationen in Bedingungsketten (wenn-dann) aufzulösen, setzte er im Leitwerk der Rechenmaschine um.
Die Idee war genial und das Gerät rechnete bei lautem Gerassel auch korrekt – wenn es lief. Doch es lief eben nicht zuverlässig, die Mechanik verhakte sich immer wieder. Aber es war der erste Schritt, und Berlin kann sich mit allem Recht der Welt als der Ort verstehen, an dem ein Berliner das neue Zeitalter der Computertechnik eröffnete. Doch es gibt ein Problem: Der technische Ruck kam mitten in der Zeit des Nationalsozialismus, und das Dritte Reich bereitete sich auf den kommenden Krieg vor. Alles, was geschah, stand unter militärischen Vorzeichen.
Zuse-Computer für die Rassenforschung
Konrad Zuse, geboren 1910 in Wilmersdorf (ab 1920 Berlin), gestorben 1995, war nie Mitglied der NSDAP, aber Teil des Systems. Entsprechend hatte er Vorstellungen, wie seine Produkte der Sache dienen könnten. Aus einer Notiz Zuses geht 1942 unter dem Stichwort „Verwandtschaftslehre“ hervor, dass er über „die Möglichkeit, Verwandtschaftsbeziehungen von zwei beliebigen Menschen A, B zu berechnen“, nachdachte. Einerseits harmlos, andererseits potenziell tödlich in einer Zeit, als der nationalsozialistische Staat die Auslöschung aller Juden in die Praxis umsetzte.
Zumindest gedanklich arbeitete Zuse an der Nutzung der Rechner für die „systematische Rassenforschung, Ahnenforschung“ und als „Unterlage für die Vererbungslehre“. Hierfür sei die „Registrierung von bestimmten charakteristischen, eindeutig bestimmbaren Eigenschaften, z.B. Erbkrankheiten (Bluter)“ erforderlich und für die Verwandtschaftsverhältnisse eine eindeutige Kurzschrift. Das waren Forschungsziele im Geist der Zeit wie Schädelvermessungen und Untersuchungen an Hirnen von euthanasierten Behinderten.
Das Dritte Reich brauchte junge Leute wie Zuse. Man betrieb – getarnt und gegen die Bestimmungen des Versailler Vertrags, der eine massive Remilitarisierung Deutschlands untersagte – den Aufbau einer Luftwaffe. Das Modernste vom Modernen. So konnte der frisch an der Technischen Hochschule Berlin diplomierte Bauingenieur mit 25 Jahren sofort als Statiker bei den neu gegründeten Henschel-Flugzeugwerken anfangen und trug Kraft- und Spannungsberechnungen zur Konstruktion von Tragwerken bei.
Helferkreis mit NS-Faible
Zugleich beflügelte die Arbeit seine Idee, die vielen, komplexen Rechnungen einer Maschine zu übertragen. 1936 kündigte er den Job bei Henschel und begann – nicht in der Garage, sondern im Wohnzimmer – die Computertüftelei. Die Geschichtsforschung weiß nichts von finanzieller Unterstützung durch NS-Stellen – zu jener Zeit.
Gleichwohl gab es „helfende Hände“, die am Rechnerbau mitarbeiteten, zum Beispiel beim Ausschneiden von 30.000 Platten aus Blech mit der elektrischen Laubsäge. Diese Freunde und Zuses Familie finanzierten mit bescheidenen Beträgen die Arbeit des Erfinders. Seine Helfer bewahrten ihn auch vor der Wehrmacht, die ihn gleich zu Beginn des Krieges eingezogen hatte. Durch gute Beziehungen gelang es, ihn für kriegswichtig zu erklären und unabkömmlich zu stellen. Sein mächtigster Gönner war Herbert Wagner, Leiter der Sonderabteilung F der Henschel Flugzeug-Werke AG.
Als deren Angestellter arbeitete er von 1940 an als Leiter der Gruppe Statik an der Entwicklung der ferngelenkten Gleitbomben Hs 293 und Hs 294 und entwickelte auf eigene Initiative die Spezialrechner S1 und S2 zur deren Optimierung, der Flügelvermessung bei der Qualitätskontrolle und zur Steuerung der Quer- und Höhenruder. Diese Flugbomben wurden im Mittelmeer gegen Schiffe eingesetzt. All das zeigt: Zuse war vollauf in die deutsche Rüstungsindustrie integriert. Nebenher ging es weiter mit dem Bau des Z3, nun in Zuses Werkstatt in der Methfesselstraße 10.
Im April 1941 – General Rommel war kurz zuvor auf Hitlers Befehl in Libyen eingefallen, der Überfall auf die Sowjetunion stand bevor – konnte Zuse seine eigene Firma, die Zuse Ingenieurbüro und Apparatebau, Berlin, gründen. Mit 20 unabkömmlichen Mitarbeitern war sie eine Art Start-up. 1943 wurde es als „Wehrwirtschaftsbetrieb“ anerkannt.
Am 12. Mai 1941 führte Zuse die Z3, die Weiterentwicklung der Z1, einem kleinen Kreis von Wissenschaftlern vor. Etliche Rechnungen liefen erfolgreich durch. Bevor die Z3 irgendeinen Praxiseinsatz erlebte, wurde sie durch Bomben erst beschädigt, dann zerstört. Aber sie hatte überzeugt. Heute gilt die Z3 als erster voll funktionsfähiger Computer der Welt.
Steuerungselemente des ersten programmierbaren Computers: Konrad Zuse baute die Z3 selber nach. Heute rechnen Computer rund eine Milliarde Mal schneller als die Z3.
Steuerungselemente des ersten programmierbaren Computers: Konrad Zuse baute die Z3 selber nach. Heute rechnen Computer rund eine Milliarde Mal schneller als die Z3. Paul Zinken/dpa
Die Deutsche Versuchsanstalt für Luftfahrt (DVL) gewährte Zuse im Dezember 1941 einen Kredit über 50.000 Reichsmark (das wären heute etwa eine Million Euro) für die Entwicklung der nächsten, voll einsetzbaren Maschine. Zuse bekam den Auftrag, die im Bau befindliche Z4 zu erweitern. 1943 erhielt er dafür 101.700 Reichsmark vom Reichsluftfahrtministerium und dessen Chef Hermann Göring. Weitere 50.000 Reichsmark erhielt er für die Entwicklung algebraischer Rechengeräte und den Bau eines Planfertigungsgeräts. Die Flugzeugforschung sollte mithilfe der Rechner einen Sprung machen. Insgesamt wurde Zuses Computerentwicklung mit 250.000 bis 300.000 Reichsmark aus diversen Rüstungskassen bezuschusst.
Als das Rüstungsministerium unter Albert Speer im Jahr 1944 die Kontrolle über die Flugzeugindustrie übernahm, gingen Zuses Projekte in die neue Struktur über. Doch die Niederlage nahte schneller, als die Herren planten. Zuse ließ die Z4 kurz vor Kriegsende aus Berlin wegschaffen – sie landete schließlich in einem Mehllager in Hopferau (Allgäu). Gegen Bezahlung stellte Zuse Auftragsrechnungen an und vermietete die Z4 schließlich 1950 an die Eidgenössische Technische Hochschule in Zürich. So wurde die Z4 der erste kommerzielle Computer weltweit. Die Einnahmen halfen Zuse, im osthessischen Neukirchen die Zuse KG aufzubauen, die erste Computerfirma der Welt.
Die Fakten sind bekannt. Zuse selbst berichtete über seine Eingliederung in die Rüstungsforschung und Produktion wortkarg. Diejenigen, die ihn später – völlig zu Recht – als großen Computerpionier ehrten, schrieben in großer Zurückhaltung über die Art des Wirkens im NS-System. Zuse kämpfte bis zu seinem Lebensende um Anerkennung seiner Leistung.
Die Erinnerung auffrischen
Deutschland ließ ihm viel Ehre zukommen, das Große Bundesverdienstkreuz, eine Sonderbriefmarke und 2010 Feiern zu seinem 100. Geburtstag. 13 Jahre später scheint die Zeit gekommen, die Fakten neu, also weniger defensiv zu lesen. Der Berliner Sozialwissenschaftler Harald Bodenschatz hat dies getan.
Als er von der Leitung der Flughafen Berlin Brandenburg GmbH eingeladen wurde, gemeinsam mit drei weiteren Forscherinnen und Forschern ein Buch über die Geschichte des Flugplatz-Standortes Schönefeld zu erarbeiten, musste er sich zwangsläufig mit den Henschel-Flugzeugwerken befassen. Diese produzierten dort Sturzkampfbomber und Gleitbomben. Er las unter anderem die Festschrift, die das Deutsche Museum in München zu Konrad Zuses 100. Geburtstag unter Leitung von Wilhelm Füßl herausgegeben hatte. Als Archivdirektor des Münchner Museums verwahrte Füßl den Zuse-Nachlass.
Bodenschatz wunderte sich, dass im Text die DVL, die Zuse finanzierte, als „zivile Stelle“ bezeichnet wird. Richtig ist, dass sie seit 1934 de facto dem militärisch ausgerichteten Reichsluftfahrtministerium unterstand. Zivil war da nichts. Mindestens zwei der immer freundlich und neutral beschriebenen „helfenden Hände“, also Freunde und Kommilitonen Zuses, werden im Buch zwar als straffe Nationalsozialisten genannt, allerdings in entfernten Zusammenhängen. Erwähnt sei Helmut Schreyer, eifriges NSDAP-Mitglied seit 1933 und als Ingenieur am Bau der V2 und anderen Zentralprojekten der Rüstungsindustrie beteiligt.
Die Zuse-Internet-Seite der TU Berlin schwiemelt, der „freie Geist“ habe nach 1933 nur noch subversiv wirken können. Offenkundig wirkte Zuse nicht subversiv „dagegen“, sondern aktiv mit. Weiter steht auf der TU-Seite: „Seit 1937 hatte Zuse in Helmut Schreyer einen kongenialen Helfer.“ Kein Wort, dass Zuses NS-Freund die ganze Zeit an der Optimierung deutscher Waffen arbeitete.
Museumstexte „nachschärfen“
Im Deutschen Technikmuseum Berlin gehört die Z1 zu den viel besuchten Paradestücken – staunend steht die Generation Smartphone vor dem ersten Computer der Welt. Es ist nicht das Original, aber den Nachbau betrieb Konrad Zuse selbst, was das Objekt nur noch interessanter macht. 77-jährig wollte Zuse beweisen, dass die nie offiziell abgenommene und ohne Patent gebliebene Z1 funktioniert hatte.
Im Jahr 1987 fand sich ein Kuratorium von Computerfirmen wie Siemens, AEG, Nixdorf und anderen zur Finanzierung zusammen. Konrad Zuse machte sich mit den Maschinenbaustudenten Dietmar Saupe und Ursula Schweier ans Werk – ohne Unterlagen, aber das Konstruktionsprinzip im Kopf. Am 14. September 1989 feierte man im Berliner Technikmuseum die Übergabe samt erfolgreich präsentierter Rechenprozesse. Im Deutschen Museum in München steht die von der Zuse KG 1961 nachgebaute Z3.
Derzeit arbeitet das Technikmuseum in Berlin daran, die Z1 wieder zum Laufen zu bringen. Eva Kudraß, Bereichsleiterin Mathematik und Informatik des Museums, berichtet, auch der Nachbau habe nicht immer störungsfrei gerechnet; die Bleche verhakten sich bei Vorführungen regelmäßig, und die Schäden häuften sich.
Sie sieht die neuen Betrachtungen zum Wirken von Konrad Zuse in der NS-Zeit mit wachem Interesse. Bisher lesen sich die Texte im Zuse-Bereich des Museums so, als seien sie mit spitzen Fingern geschrieben. Nach so vielen Jahren könne man Formulierungen auch mal „nachschärfen“, sagt Kudraß.
Zuse selber sprach im Rückblick auf die NS-Jahre etwas verschwommen, aber doch deutlich genug über den Erfinder als „faustischen Idealisten“, der die Welt verbessere, aber an den harten Realitäten scheitert. „Will er seine Ideen durchsetzen, muss er sich mit Mächten einlassen, deren Realitätssinn schärfer und ausgeprägter ist.“ Und: „Nach meiner Erfahrung sind die Chancen des Einzelnen, sich gegen solches Paktieren zu wehren, gering.“ In moralisch aufgeladenen Zeiten werfen viele gern den Stein auf Schuldbeladene. Da sollte man im Fall von Konrad Zuse vorsichtiger vorgehen. Doch sein faustischer Pakt mit dem Teufel darf beschrieben werden.
Methfesselstraße 10-12
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