#morges

  • 17 Uhr 59 und 10 Sekunden

    Ein Polizist tötet einen schwarzen Mann mit drei Schüssen. Aber der Staatsanwalt will den Fall unter den Tisch fallen lassen. Wer war Roger «Nzoy» Wilhelm? Und was geschah wirklich in #Morges?

    30. August 2021, Bahnhof Morges

    «Calme-toi!»

    Nzoy hob die Hände, legte die Ellbogen in die Hüfte und streckte die Arme vom Körper. Für eine Sekunde liess er den Kopf hängen, täuschte an, in die eine Richtung zu gehen und ging dann in die andere. Wie beim Basketball.

    «Get outta here», sagte er. «Get outta here!»

    Vor ihm stand ein Mann in Warn­kleidung. Orange Hose. Oranges Shirt. Orange Weste. Oranger Helm. Der Mechaniker musste eigentlich einen defekten Waggon wegfahren, und jetzt spazierte dieser Typ über die Gleise. Ein Kollege des Mechanikers sagte jeweils, man solle diese Aufschneider direkt der Polizei melden. Doch der Bahn­arbeiter zögerte.

    Er hatte Nzoy vorhin beim Beten beobachtet. Ein komischer Vogel, aber offensichtlich ungefährlich: Er pöbelte niemanden an und schrie auch nicht rum.

    Doch als Nzoy auf die Gleise trat, fürchtete der Bahnarbeiter, er könnte sich etwas antun.

    «Ne fais pas le fou!», warnte der Mechaniker. «Spiel nicht den Verrückten!»

    Gemeinsam mit einem Kollegen versuchte er, Nzoy aufzuhalten. Er zog das Handy aus der Tasche und wählte den Notruf. Der Anruf wurde aufgezeichnet. Es war genau 17 Uhr und 55 Minuten.

    «Police d’urgence?»

    «Ja, guten Tag, ich bin in Morges, am Bahnhof Morges. Hier ist eine Person, die spaziert auf den Gleisen rum.»

    «Bleiben Sie bitte kurz dran, Monsieur.»

    Der Mechaniker steckte das Handy ein und blieb in der Leitung. Gleichzeitig versuchte er, die Lage zu beruhigen.

    «Hör auf», sagte er zu Nzoy. «Sprichst du Französisch?»

    «Get outta here! Get outta here!»

    «Tranquille, pas de problème», sagte der Mechaniker. Er versuchte es auf Deutsch: «Kein Problem.» Und auf Englisch: «Speak French?»

    17 Uhr 56 und 7 Sekunden.

    «Monsieur, allô?»

    «Fais pas le con!»

    «Entschuldigen Sie, Monsieur, welches Gleis?»

    «Im Moment ist er hier bei mir auf Perron 5.»

    «Perron 5?»

    «Perron 4, Gleis 5», präzisierte der Mechaniker.

    «An die Patrouille: Perron 4, Gleis 5!»

    Der Mechaniker beschrieb der Notruf­zentrale, wie Nzoy aussah. Senf­farbener Pullover. Jeans. Weisse Sneakers. Verkehrt aufgesetztes Cap. Gelockte Haare, schwarz.

    «Er war vorhin auf dem Perron am Beten», sagte der Mechaniker ins Telefon.

    «Offenbar betete die Person auf den Gleisen», funkte die Zentrale fälschlicher­weise weiter.

    17 Uhr 57 und 44 Sekunden.

    «Calme-toi!»

    «Nein, beruhige du dich!», sagte Nzoy jetzt auf Französisch. Endlich reagierte er.

    «Du sprichst Französisch?», fragte der Mechaniker. «Was willst du tun? Ich bin ruhig. Sag mir, was du tun willst. Beruhige dich, beruhige dich, beruhige dich. Das ist alles, was ich von dir verlange.»

    Der Mechaniker sprach jetzt mit ruhiger Stimme, entspannter, fast als würde er zu sich selbst reden: «Du bleibst ruhig. Du machst keine Dummheit. Nein, nein, du machst keine Dummheit. Bitte. Keine Dummheit. Du bleibst ganz ruhig. Setz dich hin bitte, setz dich hin.»

    Nzoy, 37 Jahre alt, war am Mittag von Zürich nach Genf gefahren und in Genf wieder in den Zug nach Zürich gestiegen. Er hatte neun T-Shirts in einen schwarzen Turn­beutel gepackt, zwei Unter­hosen, zwei Paar Socken, eine Zahnbürste. In seiner Jeans steckten ein Pass, 60 Franken und Kleingeld, ein Feuerzeug und zwei Bussen, ausgestellt um 13.12 Uhr im Zug von Zürich nach Genf und um 16.24 Uhr von Genf nach Zürich. Um seinen Hals hing ein weisser Rosenkranz.

    Die Züge am Bahnhof waren zum Stehen gekommen. Die Leute warteten darauf, nach Hause zu fahren. Die Bahn­arbeiter hatten Nzoy beruhigt.

    17 Uhr 58 und 2 Sekunden.

    Für einen Moment schien es, als ginge die Sache noch einmal gut.

    «Monsieur», meldet sich eine Stimme am Telefon, «sind Sie im Kontakt mit meinen Kollegen? Monsieur?»

    17 Uhr 59 und 10 Sekunden.

    «Schussabgabe! Schussabgabe!», ruft ein Polizist über Funk. «Schnell, eine Ambulanz!»

    Kindheit in Südafrika

    Manchmal kamen Polizisten in ihre Gegend. Männer in Uniform, mit Waffen und dem Instinkt von Jagd­hunden. Nur suchten sie nicht nach Wild­tieren, sondern nach Menschen.

    Sie gingen von Tür zu Tür und prüften, wer da war und wer da sein durfte. Ob sie die richtigen Papiere hatten und die richtige Haut­farbe. Die Regeln im Südafrika der 1970er-Jahre waren so streng wie die Strafen. Wer dagegen verstiess, landete schnell im Gefängnis.

    Wenn die Polizisten in die Township kamen, eilte die Grossmutter zu den Kindern und scheuchte sie ins Haus. Vor allem ein Kind musste so schnell wie möglich verschwinden.

    Evelyn, ihre Enkelin.

    Evelyn ging dann ins Haus, setzte sich in einen braunen Holz­schrank neben der Küche und schloss die Tür von innen. Das Feuer in der Küche hielt den Schrank schön warm. Selbst im Winter.

    Evelyn war ein kleines Kind, das noch nichts anderes zu tun hatte, als den ganzen Tag zu spielen. Sie strich der Gross­mutter um die Beine, rannte auf den staubigen Strassen der Township herum. Sie liebte es, in der Küche zu stehen und so zu tun, als würde sie kochen. Das Haus der Gross­mutter war klein, aber gross genug für alle: Bruder, Cousinen, Cousins, Nachbarn. Abends versammelten sie sich jeweils in einer der zwei Schlaf­kammern und legten sich hin. Sie schliefen dicht gedrängt wie Schuhe in einer Schachtel.

    Wenn Evelyn am Morgen aufstand und ihr Gesicht ans Fenster drückte, sah sie auf einen Verschlag, der als Toilette diente. Vor der Haus­tür gackerten die Hühner auf einem Flecken roter Erde, den Evelyn rückblickend nur zögerlich einen «Garten» nennt. Der Geruch von Feuer biss in ihrer Nase. Evelyn ging nach draussen und spielte, bis die nächste Nacht über die Township hereinbrach. Oder bis wieder Polizisten in ihre Gegend kamen und von Tür zu Tür gingen.

    Versteckte die Grossmutter Evelyn im Schrank, sass sie ganz still. Sie wartete. Sie lauschte. Sie achtete auf jedes Geräusch und gab keinen Mucks von sich.

    Erst wenn die Polizisten weg waren, rief die Gross­mutter Evelyn nach draussen. Sie solle so oft wie möglich in der Sonne spielen, sagte die Gross­mutter. Das war gut für ihre Haut­farbe.

    Denn Evelyn war etwas heller als die anderen Kinder. Das fiel auf. Und das war gefährlich.

    In der Gegend wussten zwar alle Bescheid und niemand sagte etwas. Aber sicher sein konnte man nie. Das Regime war Polizei­staat, Überwachungs­system und Gesetzes­werk zugleich. Jemand bezeichnete es einmal als «apart hate» – Aparthass.

    Evelyns Mutter hiess Queen Cynthia, sie war Zulu und Sängerin. Evelyns Vater war weiss und kam aus der Schweiz. Ein Mechaniker, der in Süd­afrika Arbeit gefunden hatte und sich verliebte. Aber die sogenannte Rassen­vermischung war in der Apartheid schlimmer als Verrat. Das schlimmste Verbrechen überhaupt.

    Als Evelyns Mutter schwanger wurde, reisten die Eltern in die Schweiz, nach Grüsch im Bündner Prättigau. Sie heirateten. Die Mutter brachte Evelyn zur Welt. Und der Vater war weg, bevor er für sie hätte da sein können.

    Das Einzige, was er der Familie hinterliess, war der Nach­name: Wilhelm.

    Queen Cynthia Wilhelm zog mit ihrer Tochter Evelyn nach Zürich, aber sie war allein. Sie sah keinen Weg, Geld zu verdienen und für das Kind zu sorgen. Also brachte sie Evelyn zur Gross­mutter nach Südafrika, in die Township Duduza in der Nähe von Johannes­burg. Hier wuchs Evelyn Wilhelm auf. Man bezeichnete sie als coloured, das Kind einer sogenannten Mischehe.

    Heute ist Evelyn Wilhelm eine frei­schaffende Künstlerin in Zürich. Sie trägt manchmal T-Shirt und rote Trainer­hosen von Adidas. Aber unter der coolen Leichtigkeit trägt sie einen dicken Panzer. Sie hat ihn sich zugelegt, als sie in der Dunkelheit wartete.

    «Wenn die Polizei in unsere Gegend kam, war das immer brutal», sagt Evelyn Wilhelm über ihre Kindheit. «Aber für mich war es noch mal anders: Ich war ein verbotenes Kind.»

    Sie hat nie vergessen, was es bedeutet, als Verbrechen geboren zu sein. Nicht aufzufallen. Nicht zu laut zu sein. Stets auf der Hut, damit sie bloss niemand entdeckt. Vor allem nicht die Polizei.

    «Ich rufe die Polizei!», drohte die Mutter, wenn sie frech war.

    «Ich rufe die Polizei», drohte die Mutter, wenn sie stänkerte.

    Evelyn Wilhelm ist heute eine erwachsene Frau in der Mitte des Lebens. Aber die Angst vor der Polizei hat sie nie ganz abgelegt.
    Mehr als nur eine Schwester

    Als sie aus Südafrika in die Schweiz zurückkam, musste sich Evelyn Wilhelm nicht mehr verstecken. Aber manchmal hätte sie es am liebsten getan.

    In der Schule plagten sie die anderen Kinder. Sie passten sie auf dem Schulweg ab, sie stahlen ihr Taschen­geld, sie zogen an ihren krausen Haaren. Im Geroldswil der 1980er-Jahre war Evelyn Wilhelm das einzige schwarze Kind.

    Als Evelyn neun Jahre alt war, kam ihr Bruder Roger zur Welt, am 10. März 1984. Sie erinnert sich an den warmen Frühling und wie sie sich freute, endlich ein Geschwister zu erhalten.

    Rogers Geburt war schwer. Die Nabel­schnur hatte sich um seinen Hals gewickelt. Die Ärzte machten notfall­mässig einen Kaiser­schnitt. Es gab Komplikationen. Seine Mutter starb fast, als sie ihn gebar.

    Den Vornamen bekam Roger vom Vater. Den Nachnamen vom ersten Ehemann der Mutter. Den Mittel­namen gab ihm Evelyn, die grosse Schwester. Sie nannte ihn Michael, englisch ausgesprochen. Wie der King of Pop.

    Roger Michael Wilhelm – so lautete sein voller amtlicher Name.

    Ein Name aber fehlte. Der Name, den Roger im Herzen trug, aber nicht im Pass, der Mädchen­name seiner Mutter. Später bat er seine Freundinnen und Bekannten, ihn so zu nennen wie die Mutter Queen Cynthia Wilhelm vor der Hochzeit hiess: Nzoy.

    Seine Eltern stritten oft. Sie trennten sich nach wenigen Jahren. Seine Schwester Evelyn sagt, die Beziehung sei «toxisch» gewesen. Nzoy pflegte kein gutes Verhältnis zu seinem Vater, einem weissen Schweizer. Der zog weg, noch bevor Nzoy in die Schule kam.

    Die Mutter musste arbeiten, also verbrachte Nzoy sehr viel Zeit mit Evelyn. Sie passte ständig auf ihn auf. So blieb es ein Leben lang: Evelyn war für Nzoy viel mehr als nur die grosse Schwester.

    Als Nzoy eingeschult wurde, bekam die Mutter ein erstes Mal Krebs. Nzoy musste in ein Heim. Bald darauf in ein Internat. Am Wochen­ende kehrte er jeweils zurück zu Mutter und Schwester.

    Das ging gut, bis er in die Oberstufe kam.

    Realschule in Schwamendingen, Zürich. Der Schul­stoff interessierte ihn jetzt wenig. Lieber hing er mit Freunden rum. Er liebte den Hip-Hop. Westcoast. Tupac. «I see no changes», schepperten die Verse aus den Discmans, «all I see is racist faces …»

    Tupac Shakur, der aus einer Familie von bekannten Black-Panther-Aktivistinnen stammte, rappte: «Cops give a damn about a negro. Pull the trigga, kill a nigga, he’s a hero.»

    Nzoy sog die Texte auf.

    «‹It’s time to fight back!›, that’s what Huey said. Two shots in the dark, now Huey’s dead.»

    Seine Schwester Evelyn sagt heute, Nzoy sei im Internat nie diskriminiert worden. In der Oberstufe aber kam er oft heim und war wütend, weil die Lehrer ihn ungerecht behandelt hätten.

    «Und dann», sagt die Schwester, «begann es auch mit den Polizei­kontrollen.»

    30. August 2021, Bahnhof Morges

    «Wir sind im Kontakt», funkt der Polizist der Patrouille 696, der ersten von zwei Patrouillen, die am Bahnhof Morges eintreffen. Ein Polizist und eine Polizistin. Sie gehen zügig zum Ende des Perrons 4. Dort befinden sich zwei Mitarbeiter der Bahn. Und Nzoy.

    17 Uhr 58 und 2 Sekunden. Eine Minute bevor die Schüsse fallen.

    Bis hierher geht alles gut.

    Zwei weitere Polizisten sind unterwegs zum Bahnhof. Patrouille 803. Ein Unter­offizier und der Gefreite K. Sie steuern ihren Wagen gerade in eine Unter­führung nördlich des Bahnhofs, als der Mechaniker den Notruf wählt.

    Die zwei Polizisten der Patrouille 803 haben einen ruhigen Tag hinter sich. Der einzig nennenswerte Einsatz war, als sie am Morgen einen verwirrten Mann anhalten mussten und ihn auf den Posten brachten. Nach dem Mittagessen sind sie für den Rest des Tages Streife gefahren, der Unter­offizier am Steuer, K. auf dem Beifahrer­sitz. Er ist noch keine 30 Jahre alt, seit vier Jahren arbeitet er bei der Regional­polizei Morges. Es ist seine erste Stelle als Polizist.

    Als die beiden Polizisten hinter dem Bahnhof vorbeifahren, erfahren sie über Funk, dass sich ein Mann auf den Gleisen befindet. Mehr wissen sie nicht, gibt Polizist K. später in einer Einvernahme an.

    Es herrscht viel Funkverkehr. Die beiden Polizisten können sich nicht zum Einsatz melden, weil ständig jemand dazwischen­funkt. Sie hören, dass sich bereits eine Patrouille auf den Weg gemacht hat. Sie beschliessen trotzdem, auf eigene Faust hinzufahren.

    Sie schalten das Blaulicht an und die Sirene.
    Festnahme am See

    Es geschah am letzten Wochenende im Juni 1997. Nzoy war 13 Jahre alt.

    Er traf sich im Zürcher Seefeld mit Freunden, um Fussball zu spielen und Musik zu hören. Zufällig begegnete Nzoy dabei einem Schul­freund.

    Plötzlich kam die Polizei dazu. Die Beamten beschuldigten Nzoys Schul­freund, er habe mit anderen Jugendlichen Leute ausgenommen. Sie nahmen ihn mit auf den Posten. Nzoy musste auch mit. Denn die Polizisten vermuteten, er sei für die Gruppe Schmiere gestanden.

    Sie führten Nzoy ab und sperrten ihn im Posten auf dem Kasernen­areal in eine Zelle. Erst am nächsten Tag riefen sie seine Schwester an.

    «Ein Polizist sagte mir, sie hätten meinen Bruder fest­genommen.»

    Es war der 29. Juni 1997, ein Sonntag. Evelyn Wilhelm erinnert sich gut daran. «Er war noch ein Kind», sagt sie.

    Die Polizei nahm Nzoy Abdrücke von allen Fingern, erstellte eine sogenannte Daktyloskopie­karte und speicherte die Daten im System.

    Roger Michael Wilhelm, 10.3.1984. Referenz­nummer PCN 36 507027 29.

    «Sie fanden nichts gegen ihn», sagt Evelyn Wilhelm. «Er hatte ja auch nichts getan.» Trotzdem behielten die Polizisten Nzoy eine weitere Nacht im Gefängnis. 48 Stunden Polizei­haft für einen 13-Jährigen. Ein Verfahren in der Sache gab es nicht. Aber die Daten des minder­jährigen Nzoy wurden nie gelöscht.

    «Der Polizist, mit dem ich sprach, sagte: ‹Das ist grad gut zur Abschreckung. Dann landet er in Zukunft nicht mehr bei uns›», erinnert sich Evelyn Wilhelm.

    Als die Schwester Nzoy abholte, war er ein Häufchen Elend. Er weinte, hatte fürchterliche Angst. Erst später habe er mit ihr über das Erlebte sprechen wollen, sagt die Schwester. Er war schockiert, dass man ihm im Gefängnis die Schuh­bändel abgenommen hatte, um einen Suizid zu verhindern.

    Sie habe schon mit ihm geredet, sagt die Schwester. Sie habe ihn aber eher abgeblockt. «Ich machte ihm auch Vorwürfe: ‹Du musst dir deine Freunde besser aussuchen. Du kannst nicht so sein, wie du willst.› Das klang hart, aber es stimmt. Ich sagte ihm: ‹Als schwarzer Junge kannst du dir das einfach nicht leisten.›»

    Einmal wartete sie mit ihrem Bruder am Bahnhof Stadel­hofen in Zürich, als die Polizei sie überraschte. Sie war eine erwachsene Frau, ihr kleiner Bruder ein Kind an der Schwelle zum Teenager.

    Evelyn Wilhelm ist eine Frau, der fast nie die Worte fehlen. Aber wenn sie von der Polizei erzählt, kommt sie manchmal ins Stottern. Dann wirkt es fast, als wäre sie wieder das kleine Mädchen, das sich damals in Duduza im Schrank versteckte.

    Die Polizisten gingen direkt auf ihren Bruder zu. Sie konnte nichts dagegen tun.

    «Ich sagte den Polizisten: ‹Lasst ihn in Ruhe! Er hat nichts gemacht.› Aber das war denen egal. Sie zogen ihn weg und nahmen ihn auseinander: Ausweis zeigen, an die Wand stehen, Taschen leeren.»

    Evelyn raste vor Wut auf die Polizisten. Aber ohnmächtig, wie sie sich fühlte, fuhr sie stattdessen ihren kleinen Bruder an: Das hast du nun davon, dass du die Hosen so tief trägst!

    Nzoy wurde ständig kontrolliert. Deshalb trug er immer einen Ausweis mit sich. Gewisse Gegenden in der Stadt mied er. Musste er zum Haupt­bahnhof, nahm er manchmal eine Reise­tasche mit. Er glaubte, wenn er aussehe wie ein Tourist, würde ihn die Polizei in Ruhe lassen.

    Aber Racial Profiling folgt keiner Logik. Und vor der Willkür des Rassismus schützt keine Reise­tasche.

    Obwohl Nzoy ständig von der Polizei kontrolliert wurde, habe er immer versucht, den Polizisten mit Wohl­wollen zu begegnen, sagt Aliya, eine von Nzoys besten Freundinnen.

    Er habe versucht, mit ihnen zu reden und ihnen zu sagen: Leute, ihr müsst das nicht tun.

    «Ich erinnere mich, wie er einem Polizisten sogar einmal sagte: ‹Ich liebe dich, Mann! Tu mir das nicht an. Du bist mein Bruder. Wir sind alle Brüder.› So redete er mit Polizisten. Er sagte: ‹Warum glaubst du, du müsstest Angst vor mir haben? Warum ziehst du ausgerechnet mich raus? Ich tue nichts. Ich bin nur hier.›»

    Aber die Festnahme am See, die vergass Nzoy nie. «Das hat ihn fürs Leben gebrannt», sagt seine Schwester.

    Ein paar Monate bevor er nach Morges fuhr, rief er seine Schwester an. Er war völlig verängstigt und sagte, er könne nicht aus dem Haus.

    Sie verstand nicht.

    Der Junge von damals, sagte er. Der Schul­kollege, der im Seefeld Leute ausgenommen hatte.

    Jetzt erinnerte sie sich.

    Er verfolgt mich, sagte Nzoy. Er ist hinter mir her.
    30. August 2021, Bahnhof Morges

    17 Uhr 58 und 12 Sekunden. Ein Polizist der ersten Patrouille, die bereits auf dem Perron steht, funkt: «Das scheint ein Messer zu sein in der Hand.»

    Er zieht seine Pistole und fordert Nzoy auf, das Messer fallen zu lassen.

    Der Polizist steht am Kopf des Perrons Richtung Lausanne. Nzoy bewegt sich weg, in Richtung Genf, wo die zweite Patrouille gerade die Treppen zum Perron hochrennt. In der Einvernahme wird der Polizist später sagen, Nzoy habe das Messer in der Hand gehalten, eng am Körper, und sei den Perron entlang­gegangen. Er habe nicht mit dem Messer herum­gefuchtelt oder es gegen jemanden gerichtet.

    Auch die Polizistin der ersten Patrouille gibt zu Protokoll, Nzoy habe zwar «verloren» gewirkt und «desorientiert», aber «nicht aggressiv»: «Obwohl er ein Messer in der Hand hielt, empfand ich ihn nicht als bedrohlich.»

    Die Situation ändert sich schlagartig, als die zweite Patrouille eintrifft.

    Die beiden Polizisten eilen die Treppen hoch zum Perron. Polizist K. wird später sagen: «Ich habe mich nicht vorbereitet. Ich bin einfach losgerannt.»

    Von weitem sieht er Nzoy und hinter ihm die andere Patrouille. Ein Polizist soll ihn gewarnt haben: «Il a un couteau.»

    Die Polizisten umzingeln Nzoy. Die erste Patrouille hinter ihm, Richtung Lausanne. Die zweite Patrouille vor ihm, Richtung Genf. Mindestens ein Polizist hält in diesem Moment die Waffe auf ihn gerichtet.

    Nzoy habe «panisch» reagiert, wird der anwesende Mechaniker später in der Einvernahme sagen. Nzoy habe einen Ausweg gesucht. Ein anderer Zeuge sagt, Nzoy sei zunächst auf die Gleise runter, um vor der Polizei zu flüchten. Dann sei er wieder auf den Perron gesprungen und auf die herbei­eilende zweite Patrouille zugegangen.

    Über Funk sagt ein Beamter: «Wir riskieren nichts auf den Gleisen.» Es klingt, als wolle er deeskalieren. Dann geht es sehr schnell.

    17 Uhr 58 und 34 Sekunden.

    Die Polizisten verlieren rasch die Kontrolle. Das sieht man auf einem Video, das aus einem wartenden Zug gemacht wurde. Polizist K. ist nur etwa eine halbe Minute auf dem Perron, dann zieht er die Waffe aus dem Halfter.

    War Nzoy eben noch ganz ruhig bei den Bahn­arbeitern, geht er jetzt auf dem Gleisbett mit schnellen Schritten auf den Polizisten K. zu. Der schaut kurz über die Schulter. Nzoy springt vom Gleis­bett auf den Perron. Polizist K. sieht wieder zu Nzoy, geht unsicher rückwärts, nimmt Nzoy ins Visier und streckt die Arme vom Körper, die halb­automatische Pistole im Anschlag. Glock 19, Gen 4, Kaliber 9 mm.

    Er hat 15 Patronen im Magazin, Ruag, Typ Action 4, eine Munition, die so schwere Verletzungen verursacht, dass sie im Krieg verboten ist.

    Polizist K. feuert zweimal auf Nzoy.

    Die erste Kugel streift seine Hand, die zweite trifft die Hüfte, er fällt zu Boden. Der Polizist steckt seine Waffe ein. Nzoy steht langsam wieder auf.

    Neun Sekunden dauert es, dann zieht Polizist K. erneut. Er schiesst ein drittes Mal.

    17 Uhr 59 und 2 Sekunden.

    Nzoy fällt in sich zusammen. Er bleibt liegen.
    Tod durch tausend Schnitte

    Es gibt ein Video, auf dem man eine Person in flauschigem Bären­kostüm im Zürcher Niederdorf sieht. Der Teddybär steht ganz allein mitten auf dem Platz. Die Passanten beobachten den Riesen­teddy, aber niemand weiss, was sie mit einem Bären anfangen sollen, der die Arme ausstreckt.

    Dann kommt plötzlich ein junger Mann daher, orange Arbeiter­hose, schwarzes Durag auf dem Kopf, dicke Jacke in der Hand, breites Lächeln im Gesicht.

    Nzoy.

    Als er den Bären sieht, freut er sich wie ein Kind, wirft seine Jacke aus der Hand und fällt dem Bären in die Arme.

    So beschreiben ihn seine Freunde und Bekannten: als einen von Grund auf fröhlichen Menschen, der immer für eine Umarmung gut war. Jemand, der da war, wenn sie ihn brauchten. Der das Falsche vom Richtigen trennen konnte. Ein hilfs­bereiter, empathischer Freund.

    Elle ist eine Begegnung mit Nzoy in besonderer Erinnerung geblieben. Als Teenagerin passte sie auf das Kind einer Freundin auf, die notfall­mässig für einige Tage ins Spital musste. Als Nzoy davon hörte, stand er tags darauf mit vollen Einkaufs­taschen in der Wohnung: Essen, Süssigkeiten, Geschenke für das Kind.

    Er kam auch in den folgenden Tagen vorbei, um das Kind zu hüten, zu putzen oder zu kochen. Die beiden sprachen viel über Afrika und die unter­schiedlichen Kulturen in den jeweiligen Herkunfts­ländern ihrer Familie. Sie redeten über ihr Leben dort und hier. Über die fehlende Akzeptanz in der Schweiz. Über den Wunsch, an einem Ort zu leben, wo die Menschen aussehen wie man selbst. Und die Enttäuschung darüber, dort doch nicht in der Masse verschwinden zu können.

    Sie sagt: «Weisse Leute glauben, es sei nicht schlimm, wenn sie ‹Schwarze Maa› spielen. Ist ja nur ein einziges Mal. Aber sie verstehen nicht, dass uns das die ganze Zeit widerfährt – von Kindes­beinen an bis ins Erwachsenen­alter. Es sind ganz feine Schnitte, wie mit einem Blatt Papier.»

    Über diese Wunden sprach Elle oft mit Nzoy. Elle heisst in Wirklichkeit anders. Sie will als schwarze Frau aber lieber nicht in der Öffentlichkeit stehen.

    «Rassismus», sagt Elle, «ist wie der Tod durch tausend Schnitte.»

    Nzoy ging neun obligatorische Jahre zur Schule. Danach schlug er sich mit Gelegenheits­jobs durch. Verkäufer, Hilfs­arbeiter, Gerüst­bauer. Was gerade anstand. Was gerade möglich war. So viel, wie gerade nötig war, um den Lebens­unterhalt zu bestreiten. Wichtiger als der Job waren ihm Freundschaft und Gemeinschaft. «Er war schon als Kind furchtlos», sagt Evelyn Wilhelm über ihren Bruder. «Er sagte immer, er sei ein free man.»

    Seine Schwester besuchte die Rudolf-Steiner-Schule. Sie ging in die Atelier­klasse und studierte an der Zürcher Hoch­schule der Künste. Als Künstlerin hat sie sich darauf fokussiert, vor allem grosse Bilder auf schweren Materialien zu malen. Nzoy war viel in ihrem Atelier. Er half ihr jeweils, die Lein­wände zu spannen und die Gemälde zu transportieren.

    Nach dem Tod ihres Bruders hat Evelyn Wilhelm zwar weiter ihre Bilder ausgestellt. Aber gemalt hat sie nie wieder etwas. Seit mehr als dreieinhalb Jahren.

    Sie sagt: «Seit mein Bruder tot ist, finde ich einfach den Zugang nicht mehr.»
    Verfolgt und verängstigt

    Evelyn Wilhelm ging früh zu Bett an dem Abend, als die Polizei auf ihren Bruder schoss. Sie träumte von ihrer verstorbenen Mutter. Ein Alb­traum. Die Mutter lag im Sterben und schrie und schrie und schrie – bis Evelyn aufwachte.

    Aber natürlich ahnte sie nichts. Wer rechnet schon damit, dass der Bruder erschossen wird? In den USA vielleicht, hatte Evelyn immer gedacht. Oder in Südafrika.

    Aber in der Schweiz?

    Evelyn und Nzoy hatten einen älteren Bruder. Er war im Südafrika der Apartheid geboren und aufgewachsen. Als er dort irgendwann nicht mehr sicher war, nahm ihn die Mutter zu sich nach Zürich.

    «Unser älterer Bruder wäre dort erschossen worden. Oder im Gefängnis gelandet», sagt Evelyn Wilhelm. Darum kam er in die Schweiz.

    Nzoy hingegen wollte weg, am liebsten in die USA. Aber seine Schwester sagte ihrem kleinen Bruder: auf keinen Fall.

    «Ich hatte Angst um ihn», gesteht sie.

    Sie sagte ihrem Bruder: Du bleibst in der Schweiz, hier kann dir nichts passieren.

    Im Frühling 2021 verlor Nzoy seinen besten Freund, er starb nach kurzer Krankheit. Das stürzte ihn in eine schwere Krise.

    Manchmal fürchtete er sich. Er sah Dinge, die ihm Angst machten.

    Der Junge von damals im Seefeld. Oder zehn schwarze Mercedes, die ihm auflauerten.

    In guten Momenten merkte er selbst, dass ihm die Realität entglitt. Dass er nicht wirklich verfolgt wurde. Dass es keinen Sinn ergab, dass ein Jugend­freund über zwanzig Jahre später hinter ihm her sein würde.

    Evelyn Wilhelm richtete in ihrem Dachstock ein Zimmer für ihren Bruder ein. Er nahm eine Auszeit, ging zu einem Psychiater, nahm Medikamente. Zwei, drei Monate ging es aufwärts. Aber irgendwann wurde das Zusammen­leben wieder schwierig.

    Nzoy ging nachts besoffen schwimmen, verlor den Schlüssel, kletterte aufs Haus­dach und kam nicht mehr runter.

    Manchmal schlief er mit einem Messer unter dem Kissen.

    Einmal rief er seine Schwester an und sagte, er traue sich nicht aus dem Haus. Wegen des Jungen von damals im Seefeld.

    Sie beschwichtigte ihn: Das kann gar nicht sein. Der weiss gar nicht, wo du wohnst. Der erinnert sich nicht an dich. Du siehst heute anders aus.

    Evelyn wollte helfen, suchte eine Lösung. Eine Woche bevor Nzoy nach Morges fuhr, rief sie den Notfall­psychiater. Nzoy musste in eine Klinik. Aber er wollte nichts davon wissen. Er riss sich zusammen und spielte dem Psychiater etwas vor. Evelyn war stink­sauer. Sie stritt sich mit ihrem Bruder.

    Es war das letzte Mal, dass sich die beiden sprachen.
    30. August 2021, Bahnhof Morges

    «Schussabgabe! Schussabgabe!», funkt ein Polizist. «Schnell, eine Ambulanz!»

    17 Uhr 59 und 10 Sekunden.

    Der Polizist steht direkt neben dem Schützen K. Auch er hat jetzt seine Waffe gezogen und zielt auf Nzoy, der am Boden liegt.

    «Gleis 4, Gleis 4!», sagt der Polizist über Funk.

    «Verstanden.»

    Der Schütze K. steckt seine Pistole ein und geht auf den verletzten Nzoy zu. Er schaut kurz hin, dann entfernt er sich vom Tatort und fasst sich an den Kopf. Zwei Kollegen halten die Waffe im Anschlag. Einzig die Kollegin beobachtet die Lage ohne Pistole in der Hand.

    17 Uhr 59 und 32 Sekunden. Die Zentrale informiert den medizinischen Notfall­dienst.

    «Der Mann hat noch immer das Messer», meldet ein Polizist der Zentrale. «Ich wiederhole: Der Mann hat noch immer das Messer. Er ist am Boden. Bei Bewusstsein.»

    «Ist die Lage noch gefährlich? Bitte antworten.»

    «Nein, ich glaube nicht», sagt der Polizist.

    «An die Kollegen in Morges», funkt die Zentrale. «Die Ambulanz und der Notfall­dienst sind unterwegs, können wir ein paar Informationen haben?»

    «Ich habe nicht mehr Infos», sagt der Polizist.

    Er funkt das Einzige, was ihm offenbar auffällt: «Un homme de couleur.» Ein schwarzer Mann. «Er liegt am Boden.»

    18 Uhr und 8 Sekunden.

    Der Polizist nähert sich Nzoy. Er spricht in das Funk­gerät. Das ist auf Video­aufnahmen deutlich zu sehen. Aber in den Akten fehlt vom Funk­spruch jede Spur. Mit dem Fuss zieht er den linken Arm von Nzoy nach vorne und tritt auf dessen Hand. Die Polizisten der Patrouille 696 nähern sich. Sie fesseln dem regungslosen Nzoy mit Hand­schellen die Arme hinter den Rücken.

    Der Polizist funkt: «Die Person ist am Boden. Sie ist gefesselt. Ich wiederhole: Sie ist gefesselt.»

    18 Uhr 01 und 11 Sekunden.

    Dann tun die Polizisten – nichts. Zumindest nichts, was wichtig scheint. Sie sammeln Gegen­stände ein. Sie ziehen Hand­schuhe aus und wieder an. Sie telefonieren. Aber niemand spricht mit dem Opfer. Niemand nimmt seinen Puls. Niemand prüft, ob man ihm irgendwie helfen könnte.

    Die Polizisten drehen Nzoy auf die Seite. Dabei kommt ein Gegen­stand zum Vorschein. Ein Steak­messer, schwarzer Griff, Klingenlänge 12,5 Zentimeter. Ein Polizist zieht es mit den Füssen weg.

    18 Uhr 03 und 40 Sekunden.

    Ein Passant bietet Hilfe an. Er ist von Beruf Notfall­sanitäter und hat die Szene vom Zug aus beobachtet. Seine Schicht ist gerade zu Ende gegangen, er wollte nach Hause fahren, als er über das Notruf­system einen Alarm sah. In einer Einvernahme sagt er später, er habe sofort gesehen, dass Nzoy einen Herz-Kreislauf-Stillstand erlitten hatte.

    Die Polizisten legen Nzoy auf die Seite. Der Sanitäter zieht Hand­schuhe an und kniet sich neben ihn.

    18 Uhr 05 und 30 Sekunden.

    Erst jetzt erhält Nzoy Hilfe. Nicht von der Polizei, sondern von einem zufällig anwesenden Passanten. Sechseinhalb Minuten sind vergangen, seit Polizist K. den dritten Schuss auf Nzoy abgegeben hat.

    In einer Dokumentation des Recherche­büros Border Forensics vom November 2023 ist sichtbar, dass sich Nzoy in dieser Zeit fünf Mal bewegt, während die Polizisten tatenlos um ihn herumstehen.

    Nzoy hebt den Brustkorb.

    Nzoy bewegt die Schulter.

    Nzoy bewegt den Arm.

    Das fällt auch den Polizisten auf. Einer wird später in einer Einvernahme sagen, er habe gesehen, dass sich der Ober­körper von Nzoy bewegte. Ein anderer hörte Nzoy stöhnen, aber, so sagt er, er habe keine Zeit gehabt, den Gesundheits­zustand des Opfers zu prüfen. «Alles ging sehr schnell.»

    18 Uhr 05 und 48 Sekunden.

    Der Sanitäter presst beide Hände auf den Ober­körper von Nzoy. Er kämpft um sein Leben. Erst jetzt löst ein Polizist die Hand­schellen.
    Der Tag danach

    Es dauerte fast einen Tag, bis Evelyn Wilhelm erfuhr, was geschehen war. Am Dienstag­mittag klingelte ihr Handy. Der Vater von Nzoy.

    Sie haben ihn gefunden, sagte er.

    Super!, antwortete Evelyn.

    Genau wie es der Psychiater prophezeit hatte, dachte sie. Frau Wilhelm, hatte er gesagt, im schlimmsten Fall wird ihr Bruder von der Polizei aufgegriffen und in eine Klinik gebracht.

    Das hatte sie beruhigt. Klinik. Medikamente. Und nach ein paar Wochen wäre ihr Bruder wieder der Alte: ein fröhlicher Mensch, der andere mit seiner Lebens­freude ansteckte.

    Nichts ist super, sagte der Vater am Telefon. Sie haben ihn erschossen.

    Erschossen?

    Es ist schon überall in den Medien, sagte Nzoys Vater. Er gab ihr die Nummer eines Polizisten. Der sagte, die Polizisten hätten sofort versucht, ihren Bruder zu retten, aber er habe es leider nicht geschafft.

    Evelyn Wilhelm glaubte nicht, was sie hörte. Sie musste raus, sofort raus an die frische Luft.

    Draussen nahm sie irgendwann das Smart­phone in die Hand und öffnete ein Newsportal. Zuerst stach ihr ein Bild ins Auge, auf dem sie die Beine ihres Bruders zu sehen glaubte. Dann entdeckte sie die Videos.

    Sie klickte drauf.

    Sie sah, wie ihr Bruder erschossen wurde. Sie sah, wie er am Boden lag. Sie sah, wie die Polizisten mit ihren Füssen die Arme und Beine ihres Bruders herumschoben.

    Sie sah, dass niemand ihm half. Minutenlang.

    Sie rief den Polizisten an und schrie ins Telefon.

    Sie haben mich angelogen! Niemand hat Erste Hilfe geleistet. Niemand hat meinem Bruder geholfen. Keiner der vier Polizisten.
    30. August 2021, Bahnhof Morges

    Um 18 Uhr und 9 Minuten trifft der medizinische Notfall­dienst am Bahnhof ein, die Ambulanz eine Minute später. Sieben Ermittler machen sich auf den Weg nach Morges. Sie hören Zeugen an, sichern den Tatort.

    Der Tod von Nzoy wird jetzt zum Akten­zeichen: PE21.0151554.

    Den Fall übernimmt kein Geringerer als Laurent Maye, stellvertretender General­staatsanwalt des Kantons Waadt. Er leitet die Abteilung für Sonder­fälle, die jeweils gegen eigene Polizisten ermittelt. Ein Job, der ein stabiles Rückgrat verlangt.

    Allen ist klar, wie heikel die Angelegenheit ist. Nzoy ist das vierte Opfer tödlicher Polizei­gewalt in der Waadt innerhalb von viereinhalb Jahren. Alle Opfer waren schwarze Männer: Hervé Mandundu, Lamin Fatty, Mike Ben Peter. Und nun: Nzoy.

    Maye führte schon die Untersuchung gegen sechs Lausanner Polizisten, die im Winter 2018 den 40-jährigen Nigerianer Mike Ben Peter festgenommen hatten. Die Verhaftung eskalierte. Die Polizisten schlugen Ben Peter und hielten ihn in Bauchlage fest, bis er sich nicht mehr rührte. Er starb noch in derselben Nacht.

    Der Staatsanwalt erhob Anklage. Aber im Gericht argumentierte er so seltsam, dass sich alle fragten, ob er gegen die Polizisten oder das Opfer klagte. Am Ende schlug er sich gar auf die Seite der Verteidigung und forderte Frei­sprüche für die Polizisten. Das Gericht folgte ihm: Die sechs Polizisten hätten verhältnis­mässig gehandelt. Nach dem Urteil kam es im Gerichts­gebäude zu Tumulten und Hand­greiflichkeiten.

    Perron 4 am Bahnhof Morges wird jetzt abgesperrt. Polizisten stellen ein Zelt auf als Sicht­schutz. Sie lichten den Tatort mit einer 360-Grad-Kamera ab. Sie suchen nach Spuren, nach Patronen­hülsen, nach Kleidern und persönlichen Gegen­ständen von Nzoy. Sie fotografieren alles.

    Am Abend werden schweizweit die Polizei­korps nach Informationen zu Nzoy befragt. Die Zürcher Kantons­polizei meldet tags darauf, dass ihr Nzoy bekannt sei.

    Als diese Information öffentlich wird, klingt es, als wäre Nzoy ein polizei­bekannter Krimineller. Aber die Zürcher kennen Nzoy, weil sie ihn 24 Jahre zuvor als 13-jährigen Teenager einsperrten und Finger­abdrücke nahmen. Zur Abschreckung.
    In schlechtem Zustand

    Der Vater staunte, als Nzoy plötzlich vor der Tür stand. Die beiden hatten nie ein gutes Verhältnis gehabt. Und trotzdem war sein Sohn zu ihm gekommen. Das war eine Woche vor seinem Tod.

    Nzoy erzählte dem Vater, er habe sich mit der Schwester gestritten. Nzoy wollte nicht in eine Klinik, stattdessen kreuzte er jetzt beim Vater auf, in einem kleinen Dorf im Kanton Zürich. Nzoy machte einen schlechten Eindruck.

    Bei sich zu Hause wollte der Vater seinen Junior nicht unterbringen. Er buchte ein günstiges Zimmer in einem Hotel, Zum Löwen, gleich hinter der deutschen Grenze. Er zahlte 400 Euro im Voraus für einen Monat und hinterliess 400 Euro Kaution. Dann drückte er seinem Sohn ein Handy in die Hand – Nzoy hatte seins liegen gelassen, er war wirklich von der Rolle. Der Vater gab ihm Geld für eine SIM-Karte und ein Tablet.

    Dann hörte er für den Moment nichts mehr von seinem Sohn.

    Ein paar Tage vor seinem Tod sass Nzoy auf einer Wiese auf einem Privat­grundstück und sprach mit Jesus. Daraufhin muss jemand die Rettung verständigt haben. Denn ein Kranken­wagen kam und brachte Nzoy ins Spital. Ein Arzt diagnostizierte bei ihm eine paranoide Schizophrenie, eine psychotische Episode.

    Auf der Anordnung für eine fürsorgerische Unter­bringung steht: «Zusammen­fassend besteht eine Selbst­gefährdung und möglicher­weise eine Fremd­gefährdung.» Nzoy blieb über Nacht.

    Am nächsten Tag ging es Nzoy offenbar besser, der Arzt entliess ihn «im stabilisierten Zustand». Er verschrieb ihm das Anti­psychotikum Zyprexa, Schmelz­tabletten, 20 Milligramm, zur Einnahme abends vor dem Zubett­gehen.

    Am Samstag, zwei Tage vor den tödlichen Schüssen in Morges, besuchte der Vater Nzoy im Hotel. Sein Sohn, sagte der Vater später der Polizei, sei nervös gewesen und konnte nicht still sitzen. Er sei «in einem sehr schlechten psychischen Zustand» gewesen. In eine Klinik aber wollte er nicht. Und der Vater wollte ihn nicht dazu zwingen.

    Am Sonntagabend klingelte das Handy des Vaters. «Nzoy Wilhelm» stand auf dem Display. Nzoy sagte, er wolle nun doch in die Klinik.

    Am Montagmorgen, dem 30. August 2021, steht der Vater im «Löwen» und wartet auf Nzoy. Aber vom Sohn fehlt jede Spur.
    30. August 2021, Bahnhof Morges

    Es ist 21.30 Uhr, als die Rechtsmediziner beginnen, den Leichnam von Nzoy zu untersuchen. Anwesend ist neben dem medizinischen Personal und einigen Polizisten auch der fall­führende Staats­anwalt Maye.

    Die Rechtsmedizin untersucht den Hergang des Todes. Sie stellt in den folgenden Tagen fest: Zwei von drei Patronen stecken im Körper, eine davon im rechten Bauchmuskel. Sie hatte die linke Becken­arterie und die Hohlvene durchlöchert.

    Laut Rechtsmedizin führte das «in sehr kurzer Zeit» zu tödlichen inneren Blutungen. Von aussen war das nicht sichtbar. Ob die Polizisten sich strafbar machten, indem sie es unterliessen, Nzoy rasch zu helfen, wäre von einem Gericht zu klären.

    Der toxikologische Bericht hält fest, dass Nzoy keinen Alkohol im Blut hatte. Eine Urin­probe zeigt, dass er keine Drogen nahm.

    Am Körper finden die Medizinerinnen einen Patch eines EKG-Geräts. Tatsächlich hatte Nzoy am frühen Montag­morgen die Notaufnahme des Unispitals Zürich aufgesucht. Er klagte über Schwindel und hörte «kommentierende Stimmen». Die Ärzte vermuteten eine akute Psychose und empfahlen deshalb die Betreuung durch einen Psychiater. Doch Nzoy verliess den Notfall kurz vor 9 Uhr – ohne EKG oder psychiatrische Untersuchung. Möglicher­weise suchte er bis zum Mittag noch ein weiteres Spital auf, ehe er in den Zug Richtung Westschweiz stieg. Das Zürcher Unispital sah keine Hinweise auf selbst- oder fremd­gefährdendes Verhalten.

    18 Uhr und 31 Minuten.

    Die Ambulanz stellt offiziell den Tod von Roger Michael «Nzoy» Wilhelm fest. Er war 37 Jahre alt.
    Letzte Reise

    Vor dem Krematorium Sihlfeld flimmern Fotos von Nzoy über den Bild­schirm: Nzoy als Baby im Arm seiner Mutter, Nzoy mit Freunden auf einer Wiese, Nzoy bei einem Video­shooting. Man sieht einen hoch­gewachsenen, gut aussehenden Mann mit feinem Schnauz und langen schwarzen Locken. Auf den Videos lächelt er glücklich, die Augen zu einem Strich gezogen, grinst er in die Kamera und sagt mit warmer Stimme: «I appreciate you all. Peace!»

    Der Pfarrer stellt die Urne neben ein Porträt von Nzoy. Zu seiner Rechten sitzen Evelyn Wilhelm, ihr älterer Bruder und enge Freunde von Nzoy. Zu seiner Linken der Vater von Nzoy mit Frau und Kindern.

    Der Pfarrer war einer von Nzoys engsten Vertrauten, seit er ihn vor 15 Jahren in einem Fluss getauft hatte. In einer seiner letzten Nachrichten schrieb Nzoy dem Pfarrer, er habe gerade nicht viel zu lachen. Er schickte ihm ein Bild von Jesus, umringt von Engeln. «I’m not alone», schrieb Nzoy.

    «Wenn», sagt der Pfarrer jetzt zur Trauer­gemeinde, «wenn Roger auf dem Bahnhof einen Polizisten mit einem Messer bedroht hat, dann war das Ausdruck einer tragischen Verwirrtheit.»

    Wenn – das Wort wiegt schwer in diesen Tagen.

    Die Trauernden haben alle die News-Berichte gelesen mit den Darstellungen der Polizei. Da war vom «Messer-Droher» die Rede, von Erinnerungen an ein islamistisches Attentat, das sich ein Jahr zuvor in Morges ereignet hatte.

    Aber die Angehörigen bestreiten, dass Nzoy gefährlich gewesen sei. Wenn überhaupt, war er eine Gefahr für sich selbst. Die Polizisten, sagen die Angehörigen, hätten die Lage völlig falsch eingeschätzt.

    «Ein dunkel­häutiger Mann am Beten, da dachten die wohl: Das muss ein Terrorist sein», sagt Evelyn Wilhelm. Dabei hätte ihr Bruder nur etwas gebraucht: Hilfe.

    Auch Experten wie der Psycho­therapeut und Psychologie-Professor Udo Rauch­fleisch sagen nach Studium von Videos, Funk­sprüchen und Zeugen­aussagen in den Untersuchungs­akten, dass Nzoy nicht aggressiv oder gefährlich gewesen sei, sondern ängstlich und zurück­gezogen. Bis die Polizei ihn umzingelte. «Das Messer zog er erst, als er sich bedroht fühlte.»

    Die Polizei habe falsch reagiert. «Wenn man mit vier Leuten auf einen psychotischen Menschen aufrückt, ist vorprogrammiert, dass die Lage eskaliert.»

    Dass Nzoy bedrohlich gewirkt habe, ist denn auch die Darstellung von Polizisten, die fürchten mussten, wegen eines Tötungs­delikts zur Rechenschaft gezogen zu werden. In anderen Fällen würde man ihre Aussagen als Schutz­behauptung abqualifizieren.

    Der Polizist, der Nzoy tötete, äusserte sich in den Einvernahmen widersprüchlich.

    Anfangs wollte er noch gesehen haben, wie sich «die Sonne in der Klinge spiegelte», nachdem er zweimal auf Nzoy geschossen hatte. In einer späteren Einvernahme korrigierte sich der Polizist, er erinnere sich doch nicht daran. «Ich erinnere mich auch nicht, das Messer gesehen zu haben, als er davor auf mich zurannte», sagte er dem Staats­anwalt.

    Kann seine Aussage, er habe gefürchtet, tödlich verletzt zu werden, stimmen? Ist es korrekt, von legitimer Notwehr zu sprechen, wenn der Polizist gar keine Waffe sah?

    Der Polizist will auf Anfrage keinen Kommentar zur Sache abgeben.

    Die andere Frage, die die trauernden Angehörigen umtreibt, ist, warum die Polizisten Nzoy nicht sofort Erste Hilfe leisteten. Warum erst ein Passant ihm half.

    Und natürlich, ob das alles, also die Angst vor Nzoy, der schnelle Griff zur Pistole, die Untätigkeit nach den Schüssen – ob das alles anders gelaufen wäre, wäre Nzoy nicht schwarz gewesen.

    Der Pfarrer berichtet der Trauer­gemeinde, wie Evelyn Wilhelm nach dem Tod ihres Bruders die aufgeschlagene Bibel auf seinem Bett fand, Altes Testament, Buch der Sprüche.

    Dort heisst es: «Greif ein, wenn das Leben eines Menschen in Gefahr ist. Tu, was du kannst, um ihn vor dem Tod zu retten.»

    «Tragischerweise», sagt der Pfarrer, «sind das vielleicht die letzten Worte, die Roger mitnahm auf seine letzte Reise.»

    Hätte Nzoy überlebt, wäre er nicht schwarz gewesen?

    Vielleicht hat der Anwalt der Angehörigen einmal die treffendste Antwort dazu gegeben: «Nzoy wurde nicht getötet, weil er schwarz war. Aber er ist tot, weil er nicht weiss war.»
    Keine Gerechtigkeit, kein Frieden

    Evelyn Wilhelm steht vor dem Justiz­palast in Renens, einem mächtigen, kalten Büro­gebäude aus Stahl und Glas. Die Sonne brennt auf ein paar Dutzend Aktivistinnen, die mit Plakaten und Transparenten um sie herum stehen. Sie trägt ihre Locken offen, die Tasche über der Schulter. Flip-Flops, weisse Hose, weisses Shirt. Auf ihrem Rücken prangt schwarz auf weiss das Konterfei ihres Bruders, wie es mittlerweile auf zahllosen Plakaten und Aufklebern in der ganzen Schweiz zu sehen ist.

    Darüber steht: «Justice 4 Nzoy».

    Es ist der 8. Juli 2024, drei Jahre sind seit dem Tod ihres Bruders vergangen. Noch immer dauert die Straf­untersuchung an, aber es sieht ganz danach aus, als würde der Staats­anwalt die Sache fallen lassen wollen. Evelyn Wilhelm und weitere Angehörige haben sich einen Anwalt genommen. Sie zählen darauf, dass die Erschiessung von Nzoy dereinst vor Gericht kommt.

    Der heutige Tag ist eine Art Haupt­probe.

    Evelyn Wilhelm will wissen, wie sich das anfühlen wird, wenn sie als Angehörige und Privat­klägerin im gleichen Saal sitzt wie der Mann, der ihren Bruder tötete. Vorne der Richter, links der angeklagte Polizist, rechts der Staatsanwalt, hinten zwei Dutzend Journalistinnen und nochmals so viele Zuschauer.

    Im Justizpalast von Renens beginnt an diesem Tag der zweit­instanzliche Prozess gegen sechs Polizisten, die 2018 am Einsatz beteiligt waren, bei dem der 39-jährige Familien­vater Mike Ben Peter starb.

    Das juristische Personal würde im Fall Nzoy ähnlich sein: derselbe Staatsanwalt, dieselbe Verteidigerin.

    Odile Pelet, die Anwältin, auf die die Polizisten zählen, vertrat in drei der vier Fälle tödlicher Polizei­gewalt in der Waadt jeweils einen beschuldigten Polizisten. Immer mit Erfolg.

    Evelyn Wilhelm zögert. «Soll ich wirklich rein?»

    Drei Stunden ist sie hergefahren, aber jetzt, wo es vor dem Gericht und im Gericht von Polizisten wimmelt, würde sie am liebsten umkehren.

    Die Zuschauerzahl ist beschränkt und der Saal eigentlich schon voll, aber ein Aktivist erkennt sie, die Schwester des getöteten Nzoy. Er drückt ihr einen weissen Zettel in die Hand, Nummer 32, steht darauf. Der Zettel gewährt ihr Eintritt in den Gerichtssaal.

    Drei Jahre sind seit dem Tod von Nzoy vergangen. Und während Evelyn Wilhelm vorher an Vernissagen oder in Galerien anzutreffen war, sass sie in den letzten drei Jahren häufig in muffigen Kellern, besetzten Häusern und selbst­verwalteten Ateliers. Sie verteilte Aufkleber und Flyer. Sie verkaufte T-Shirts und Pullover. «Justice 4 Nzoy» ist nicht nur eine Forderung, ein Slogan, er steht mittlerweile auch für ein politisches Bündnis und für eine Kommission zur Aufklärung der Wahrheit mit hochkarätigen Anwältinnen, Juristen, Wissenschaftlerinnen. Rechercheure durchforsten in ihrem Auftrag die Untersuchungs­akten und tun die Arbeit, die eigentlich der Staatsanwalt erledigen sollte. Evelyn Wilhelm trat auf in Lausanne, in Morges, in Zürich, in Basel, in Genf, in Paris. Sie war Gästin an Informations­anlässen wie an Fussball­turnieren. Sie sprach in Podcasts und in Fernseh­dokumentationen. Selbst ein UN-Gremium hörte sie an. Evelyn Wilhelm ist die zentrale Figur geworden, die das Andenken an ihren Bruder bewahrt.

    Aber ein Gedanke plagt sie seit dem Tod ihres Bruders: dass es kein faires Verfahren gibt, dass sie keine Gerechtigkeit findet.

    «Der Staatsanwalt hat uns von Anfang an schikaniert», sagt Evelyn Wilhelm.

    Er habe versucht, sie auf dem Rechtsweg vom Verfahren fernzuhalten, ihr den Zugang zu den Akten zu verwehren. Er wollte sie nicht als Privat­klägerin zulassen. Die ersten Tage nach dem Tod ihres Bruders verbrachte sie tatsächlich damit, dem Staats­anwalt zu beweisen, dass sie Nzoys Schwester war, dass die beiden eine enge Beziehung pflegten. Sie reichte Briefe ein, Chat­nachrichten, Anruflisten …

    «Schande über euch!», rufen die Aktivisten jetzt vor dem Gericht. «Justice raciste, police raciste!»

    Das Gericht hat soeben die Polizisten im Fall Mike Ben Peter freigesprochen. Der Polizei­kommandant spricht in eine Fernseh­kamera: «Ich bin hoch­zufrieden.»

    Evelyn Wilhelm setzt sich in ein von der Sonne überhitztes Auto und macht sich auf den Heimweg. Die Freisprüche haben sie aus der Fassung gebracht. Es ist, als wäre eine Welt zusammen­gefallen.

    Oder war es vielleicht schon immer nur ein Kartenhaus?

    «Alles ist den Polizisten erlaubt», sagt sie. «Sie machen immer alles richtig. Immer.» Sie schüttelt den Kopf.

    «Kein Rassismus, sagte der Richter! Hast du das gehört? Egal was die Polizisten tun, sie machen alles richtig. Es ist immer das Opfer, das aggressiv ist. Unglaublich.»

    Evelyn Wilhelm wusste, dass es schwierig ist vor Gericht. Sie wusste, dass Polizisten in der Schweiz so gut wie nie verurteilt werden. Aber vor Augen geführt zu bekommen, wie gnadenlos das Gericht die Anklage im Fall Mike Ben Peter versenkt – das löscht den kleinsten Funken Hoffnung in ihr.

    Wenige Monate später tritt ein, was Evelyn Wilhelm schon befürchtet hatte: Ende November 2024 stellt der Staatsanwalt Laurent Maye das Verfahren im Fall Nzoy eigenmächtig ein. Entgegen dem Anklage­prinzip in dubio pro duriore bringt er die Angelegenheit nicht einmal vor ein Gericht. Der beschuldigte Polizist sei einem so schweren Angriff ausgesetzt gewesen, dass er weder Zeit noch Mittel gehabt hätte, anders zu reagieren als mit der Schuss­waffe. Er habe gesetzes­konform gehandelt und die Verhältnis­mässigkeit gewahrt.

    Was jetzt?

    «Sie haben meinen Bruder tot­geschossen», sagt Evelyn Wilhelm. Was bleibt ihr anderes übrig, als weiter­zumachen. Ihr Anwalt hat die Einstellung angefochten. Er wird notfalls bis nach Strassburg gehen, um für einen Prozess zu kämpfen.

    Evelyn Wilhelm möchte bald nach Süd­afrika reisen. Sie will dort die Urne ihres Bruders beisetzen. «Ich habe ihm nach seinem Tod versprochen, dass er Frieden finden könne.»

    Sie will sich auch nach einem neuen Zuhause umsehen. «Ich kann nicht in einem Land alt werden, wo einfach nichts geschieht, wenn man jemanden tötet. Wie soll ich so je damit abschliessen können?», sagt sie. «Ich finde hier keine Ruhe und keine Gerechtigkeit.»

    https://www.republik.ch/2025/02/22/17-uhr-59-und-10-sekunden
    #violences_policières #Suisse #décès #Nzoy #justice #impunité #justice

    • #Homicide à la gare de Morges : le Ministère public retient la #légitime_défense et écarte l’#omission_de_porter_secours

      Lors du décès de #Roger_Michael_Wilhelm intervenu en 2021 à la gare de Morges, le policier auteur du tir mortel a agi en état de légitime défense ; l’omission de prêter secours ne peut être retenue ni contre cet agent, ni contre ses trois collègues : telles sont les conclusions de l’instruction menée par le Ministère public, qui a rendu une ordonnance de classement et de non-entrée en matière le 25 novembre 2024.

      Au terme d’une instruction débutée le jour du décès de M. Roger Michael Wilhelm, le lundi 30 août 2021 vers 18h sur un quai de la gare de Morges, le Ministère public vient de rendre une ordonnance de classement et de non-entrée en matière.

      Cette décision se base sur les différents éléments mis à jour par les actes d’instruction ordonnés par le procureur ou requis par les parties (auditions, vidéos, autopsie, rapports techniques, notamment), ainsi que la jurisprudence fédérale. À noter que le rapport de Border Forensics, fourni par la partie plaignante dans le cadre de l’avis de prochaine clôture du Ministère public du 10 octobre 2023, a été examiné et en partie exploité dans le cadre de l’enquête.
      Usage de l’arme proportionné

      Le Ministère public considère ainsi, compte tenu des circonstances, que le policier s’est trouvé confronté à une attaque grave et ne disposait ni du temps ni d’autres moyens raisonnablement exigibles de parer cette attaque au couteau autrement qu’en engageant son arme à feu.

      Le Ministère public retient en outre que l’agent a agi conformément à la pratique professionnelle enseignée et au principe de proportionnalité imposé par la jurisprudence ; la légitime défense, au sens de l’art. 15 du Code pénal, doit ainsi être retenue.
      Soins prodigués une fois la sécurité des lieux et des personnes assurée

      Immédiatement après les tirs, les agents se sont réparti les tâches visant notamment à assurer la sécurité des lieux et des personnes, ainsi qu’à prendre en charge le blessé, lequel ne présentait aucune trace d’hémorragie visible avant le massage cardiaque prodigué par un infirmier. Le rapport d’autopsie relève que les blessures causées par le troisième tir étaient « nécessairement mortelles à très brève échéance », expliquant ainsi les raisons du décès. Pour ces motifs, le Ministère public considère que l’omission de prêter secours n’est pas réalisée.

      Cette décision a été notifiée ce jour aux parties à la procédure et peut faire l’objet d’un recours auprès de la Chambre des recours pénale du Tribunal cantonal dans un délai de 10 jours.

      https://www.vd.ch/actualites/communiques-de-presse-de-letat-de-vaud/detail/communique/homicide-a-la-gare-de-morges-le-ministere-public-retient-la-legitime-defense-et-e

    • Morges : un homme mortellement blessé par la #police

      Lundi vers 18h, deux patrouilles de police sont intervenues en gare de Morges afin de prendre en charge une personne annoncée comme perturbée. Menacé par l’individu armé d’un couteau, un agent de Police Région Morges a fait usage de son arme. Malgré les soins prodigués par les policiers puis les secouristes appelés en renfort, la personne est décédée sur place. Le Ministère public a ouvert une instruction pénale.

      Vers 18h00, la centrale d’engagement et de transmissions (CET) de la Police cantonale vaudoise était avisée de la présence d’un homme annoncé comme agité sur l’un des quais de la gare de Morges. Deux patrouilles se sont rendues sur place afin d’entrer en contact avec l’individu et de le prendre en charge. D’après les premiers éléments de l’enquête, malgré la sommation d’usage d’un des agents, l’individu aurait exhibé un couteau se montrant menaçant.

      Un agent de la Police Région Morges a fait usage de son arme de service à plusieurs reprises. Blessé, l’homme a été immédiatement pris en charge par les policiers qui ont fait appel aux services sanitaires. Les policiers ont commencé un massage cardiaque qui a été poursuivi par les ambulanciers et le médecin du Service mobile d’urgence et de réanimation (SMUR). Il est décédé sur place des suites de ses blessures. Il s’agit d’un Suisse âgé de 37 ans, domicilié dans le canton de Zürich.

      Le Procureur de permanence de la Division des affaires spéciales du Ministère public central s’est rendu sur les lieux et a ouvert une instruction pénale afin d’établir les circonstances du décès. Les intervenants ont été entendus. Les investigations sont confiées au Détachement d’investigations spéciales policières (DISPO), et menées par les inspecteurs de la police de sûreté, avec l’appui des médecins légistes du CURML et des spécialistes de la police scientifique. Plusieurs patrouilles de la gendarmerie sont également intervenues sur les lieux pour prendre les premières mesures d’enquête.

      http://web.archive.org/web/20220516131031/https:/www.vd.ch/toutes-les-autorites/departements/departement-de-lenvironnement-et-de-la-securite-des/police-cantonale-vaudoise-polcant/medias/communiques-de-presse/news/14888i-morges-un-homme-mortellement-blesse-par-la-police

    • Joint statement and release of a preliminary analysis on the death of Roger ‘Nzoy’ Wilhelm

      For several months, Border Forensics has been investigating the death of Roger ‘Nzoy’ Wilhelm, a Swiss man of South-African descent, who was killed by the police in Morges Station (Switzerland) on August 30th, 2021. More than two years after his death, and whereas the exact unfolding of events remains unclear, the Public prosecutor’s office recently announced its will to close the case.

      While our investigation on Roger ‘Nzoy’ Wilhelm’s death is still ongoing, and in contribution to the demand for truth and justice of the Independent Commission of Inquiry on the Death of Roger Nzoy Wilhelm, today the preliminary analysis Border Forensics has produced of a sequence of the events has been submitted the Public prosecutor’s office. It will be made public in time.

      Press release: Independent Commission and Border Forensics criticize prosecution in Roger Nzoy Wilhelm homicide case and release overlooked evidence.

      Zuricher Roger Wilhelm, aged 37, was shot dead by a police officer on August 30th 2021, at Morges train station. Wilhelm was left on his stomach for six and a half minutes, without the other police officers involved providing him with first aid. Despite this, on October 10th, 2023, the Public Prosecutor’s Office of the canton of Vaud announced that it would not prosecute either the homicide or the failure to render aid.

      Switzerland does not have an independent institution to investigate incidents of police violence, so an independent civil society review and investigation into this death case is urgent. An independent commission made up of scientists from the fields of medicine, psychology, law and social sciences as well as the scientific research organization Border Forensics are now examining the case themselves. The provisional results of this research were presented today in Lausanne in the presence of Evelyn Wilhelm and lawyer Ludovic Tirelli, in charge of the case. This work shows that the decision of the Public Prosecutor’s Office must be urgently questioned.

      Elio Panese, member of the Border Forensics research team, reconstructed down to the second the course of the homicide in Morges using a film. This film shows that Roger Wilhelm remained on the ground handcuffed for six and a half minutes while he had a gunshot wound to the back and made no movement other than breathing. This proves that the police officers involved neglected to take vital rescue and resuscitation measures. Dr. Martin Herrmann, who is one of the medical experts of the commission (FMH specialist in general surgery and traumatology), confirmed in his analysis that the necessary first aid measures had not been taken, although Roger Wilhelm, lying on his stomach, represented no threat to the police officers and that he was still making respiratory movements. The question to be clarified in court is: Could Roger Wilhelm’s life have been saved by immediate first-aid measures taken by the police?

      Udo Rauchfleisch, professor emeritus of clinical psychology and member of the commission, wrote a report based on psychiatric records, interviews with relatives, witness statements and video footage of the homicide of Roger Wilhelm. According to this report, the Vaud police were called to help a Black man who showed symptoms of psychosis. According to the expertise of Prof. Rauchfleisch, Roger Wilhelm was not in any way or at any time aggressive, but he was stressed and would have needed psychological help. Instead of helping, the four police officers increased Roger Wilhelm’s psychological stress. He was considered a threat and was eventually shot dead. This is why another decisive question arises, which must be clarified in court: was the behaviour of the police officers adequate and was the use of firearms necessary and by the law?

      The death of Roger Wilhelm must be placed in the context of other homicides of Black people by the police in Switzerland. In the case of Mike Ben Peter, who died on February 28, 2018 following a police intervention, the prosecutor in charge of the investigation, who is also handling the case of Roger Nzoy Wilhelm, surprisingly requested the acquittal of the police officers involved during the trial. Me Brigitte Lembwadio Kanyama, member of the

      Commission’s legal group, severely criticized the treatment of deaths occurring following police interventions in the canton of Vaud. In all cases, the people killed were Black people. Lawyer Philipp Stolkin, a member of the Commission’s legal group, stressed that the public prosecutor’s office should be able to carry out its investigation regardless of the skin colour of the victim and the fact that a person suspected of having committed an offence is used by a public law entity.

      According to another member of the commission group, lawyer David Mühlemann, from a human rights perspective, the public prosecutor’s office is obliged to investigate such exceptional deaths independently, effectively, and comprehensively: “What is at stake is nothing less than public confidence in the state’s monopoly on violence.” By wanting to close the case, the public prosecutor is preventing the possibility of an investigation that complies with human rights. This is why the Commission urges the Vaud Public Prosecutor’s Office to open an investigation into the Roger Nzoy Wilhelm affair and bring the matter to court.

      https://www.borderforensics.org/news/20231110-pr-roger-nzoy-wilhelm

      #border_forensics

    • Wieder stirbt ein Schwarzer Mann in den Händen der Schweizer Polizei

      Am 30. August 2021 fährt der 37-jährige Zürcher Roger Nzoy in die Westschweiz. Am Bahnhof Morges steigt er aus. Er betet. Er spaziert über die Gleise. Ein Bahnarbeiter beobachtet Nzoy und versucht ihn davon abzuhalten, zur Rush Hour über die Gleise zu gehen. Er ruft die Polizei um Hilfe. Doch als die Polizei eintrifft, eskaliert die Situation. Nzoy zieht laut Polizei ein Messer. Ein Polizist feuert drei Mal auf Nzoy, der zusammenbricht und liegen bleibt. Rund vier Minuten stehen die Polizisten tatenlos da, ehe ein Passant Erste Hilfe leistet. Zu spät. Roger Nzoy ist die vierte Schwarze Person, die innerhalb von viereinhalb Jahren im Kanton Waadt in den Händen der Polizei stirbt. Seine Schwester Evelyn Wilhelm spricht mit Carlos Hanimann über Leben und Tod ihres Bruders, über dessen Erfahrungen mit Rassismus – und wie sie ihren Bruder gerne in Erinnerung behalten will. Text & Interview: Carlos Hanimann. Sound-Design: Christina Baron.

      Die Familie von Roger Nzoy stellt sich auf eine lange juristische Auseinandersetzung ein. Wer Evelyn Wilhelm und weitere Angehörige in ihrem Kampf für Gerechtigkeit für Nzoy unterstützen will, kann sie auch finanziell unterstützen. Spendenkonto: Justice4Nzoy Raiffeisenbank 8001 Zürich IBAN: CH30 8080 8007 4333 9949 7 🙏🏽

      https://diasboah.podigee.io/2-leben-und-tod-des-roger-nzoy

    • 30 août 2021

      Sur la voie 14 de la gare centrale de Zurich, Roger Nzoy monte à bord du train à destination de Genève à 13h04. Le même jour – sur le chemin du retour vers Zurich – il descend du train à 16h42 en gare de Morges. Il ne va pas bien. Il est en état de crise.

      Nzoy s’accroupit entre des trains immobilisés, cherche des forces dans une prière. Un employé de la voie ferrée lui demande de quitter les rails. Il appelle ensuite la police et signale la présence d’un homme désorienté près des voies.

      A leur arrivée, deux policiers s’approchent de Nzoy. Nzoy reste calme et attend. Soudain, deux autres policiers se précipitent vers lui – l’un d’eux brandit une arme. Nzoy se sent menacé, veut se défendre et se dirige vers le policier.

      Le policier tire deux coups de feu – Nzoy est à terre.

      Mais Nzoy se redresse et tente à nouveau de se défendre contre la supériorité des policiers armés. Il se réfugie derrière son sac de gym.

      Le policier tire à nouveau – Roger Nzoy reste couché.

      Pour toujours !

      Pendant plus de quatre minutes, les policiers laissent Nzoy allongé.

      Ils examinent Nzoy, qui est à terre, blessé par balle, avec leurs pieds. Ils l’attachent pendant une minute avec des menottes. Ils courent dans tous les sens. Enlèvent et remettent leurs gants. Ils tournent en rond.

      Les policiers appellent une ambulance. Aucune information n’est transmise sur l’état de santé de Nzoy. Pas un mot sur la question de savoir s’il respire encore ou où il est blessé. Le message envoyé aux ambulanciers est qu’il s’agit d’un « homme de couleur ».

      Roger Nzoy ne reçoit donc pas les premiers soins médicaux de la part des policiers présents. Après qu’il soit resté allongé sur le sol pendant quatre minutes, un infirmier qui passait par là lui a prodigué les premiers soins et a commencé à lui faire un massage cardiaque. Ce n’est qu’à ce moment-là que les policiers peuvent se résoudre à toucher Nzoy avec leurs mains et à participer à la réanimation. Il est trop tard.

  • Communiqué commun et publication d’une analyse préliminaire sur la mort de Roger ‘#Nzoy’ Wilhelm

    Depuis plusieurs mois, Border Forensics enquête sur la mort de Roger ‘Nzoy’ Wilhelm, un Suisse d’origine sud-africaine, tué par la #police à la gare de #Morges (Suisse) le 30 août 2021. Plus de deux ans après sa mort, alors que le déroulement exact des événements reste flou, le #Ministère_public du Canton de Vaud a récemment annoncé sa volonté de rendre une #ordonnance_de_classement et une #ordonnance_de_non-entrée_en_matière.

    Alors que notre enquête sur la mort de Roger ‘Nzoy’ Wilhelm est toujours en cours, et en contribution à la demande de vérité et de justice de la Commission d’enquête indépendante sur la mort de Roger Nzoy Wilhelm, aujourd’hui une analyse préliminaire produite par Border Forensics concernant une partie des événements a été soumise au Ministère public du Canton de Vaud. Cette analyse sera rendu public prochainement.

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    Communiqué de presse : La Commission indépendante et Border Forensics critiquent le ministère public dans l’affaire de l’homicide de Roger Nzoy Wilhelm et publient des preuves ignorées

    Le Zurichois Roger Wilhelm, âgé de 38 ans, a été abattu par un policier le 30 août 2021 à la gare de Morges. Wilhelm a été laissé sur le ventre pendant six minutes et demie, sans que les autres policiers impliqués ne lui prodiguent les premiers soins. Malgré cela, le 10 octobre 2023, le Ministère public du canton de Vaud a annoncé qu’il ne poursuivrait ni l’#homicide ni l’#omission_de_prêter_secours.

    La Suisse ne dispose pas d’une institution indépendante pour enquêter sur les incidents de violence policière, c’est pourquoi un examen et une enquête indépendants de la société civile sur ce cas de décès s’avèrent urgents. Une commission indépendante composée de scientifiques issus des domaines de la médecine, de la psychologie, du droit et des sciences sociales ainsi que l’organisation de recherche scientifique Border Forensics examinent désormais le cas eux- mêmes. Les résultats provisoires de ces recherches ont été présentés aujourd’hui [vendredi 10.11.23] à Lausanne en présence d’Evelyn Wilhelm et de l’avocat Me Ludovic Tirelli, chargé de l’affaire. Ces travaux montrent que la décision du Ministère public doit être remise en question de toute urgence.

    Elio Panese, membre de l’équipe de recherche Border Forensics, a reconstitué à la seconde près le déroulement de l’#homicide à Morges au moyen d’un film. Ce film montre que Roger Wilhelm est resté au sol menotté pendant six minutes et demie alors qu’il avait une blessure par balle et qu’il n’a pas fait d’autres mouvements que de respirer. Cela prouve que les policières/policiers impliqué·es ont négligé de prendre les mesures de #sauvetage et de #réanimation vitales. Le Dr Martin Herrmann, qui fait partie des experts médicaux de la commission (spécialiste FMH en chirurgie générale et traumatologie), a confirmé dans son analyse que les mesures de #premiers_secours nécessaires n’avaient pas été prises, bien que Roger Wilhelm, allongé sur le ventre, ne représentait aucune menace pour les policières/policiers et qu’il effectuait encore des mouvements respiratoires. La question à clarifier devant le tribunal est la suivante : la vie de Roger Wilhelm aurait-elle pu être sauvée par des mesures de premiers secours immédiates prises par la police ?

    Udo Rauchfleisch, professeur émérite de psychologie clinique et membre de la commission, a rédigé un rapport basé sur des dossiers psychiatriques, des entretiens avec des proches, des déclarations de témoins et des séquences vidéo de l’homicide de Roger Wilhelm. Selon ce rapport, la police vaudoise a été appelée pour venir en aide à un homme Noir qui présentait des symptômes de psychose. Selon l’expertise du Prof. Rauchfleisch, Roger Wilhelm n’était en aucune manière et à aucun moment agressif, mais il était stressé et aurait eu besoin d’une #aide_psychologique. Au lieu d’apporter leur aide, les quatre policières/policiers ont accru le #stress_psychologique de Roger Wilhelm. Celui-ci a été considéré comme une menace et a finalement été abattu. C’est pourquoi une autre question décisive se pose, qui doit être clarifiée devant le tribunal : le comportement des policières/policiers était-il adéquat et l’utilisation d’#armes_à_feu était-elle nécessaire et conforme à la loi ?

    La mort de Roger Wilhelm doit être replacée dans le contexte d’autres homicides de personnes Noires par la police en Suisse. Dans le cas de #Mike_Ben_Peter, décédé le 28 février 2018 à la suite d’une intervention policière, le procureur chargé de l’enquête, qui gère également le cas de Roger Nzoy Wilhelm, a demandé à la surprise générale l’acquittement des policiers impliqués lors du procès. Me Brigitte Lembwadio Kanyama, membre du groupe juridique de la Commission, a sévèrement critiqué le traitement des décès survenus à la suite d’interventions policières dans le canton de Vaud. Dans tous les cas, les personnes tuées étaient des personnes Noires. L’avocat Me Philipp Stolkin, membre du groupe juridique de la Commission, a souligné que le #ministère_public devrait être en mesure de mener son enquête indépendamment de la #couleur_de_peau de la victime et du fait qu’une personne soupçonnée d’avoir commis une infraction soit employée par une entité de droit public.

    Selon un autre membre du groupe de la commission, le juriste David Mühlemann, du point de vue des #droits_humains, le ministère public est tenu d’enquêter de manière indépendante, efficace et complète sur de tels décès exceptionnels : « Ce qui est en jeu, ce n’est rien de moins que la confiance du public dans le monopole de la violence de l’État. » En voulant classer l’affaire, le ministère public empêche la possibilité d’une enquête conforme aux droits humains. C’est pourquoi la Commission demande instamment au Ministère public vaudois d’ouvrir une enquête sur l’affaire Roger Nzoy Wilhelm et de porter l’affaire devant le tribunal.

    Vous trouverez plus d’informations sur : https://nzoycommission.org

    https://www.borderforensics.org/fr/actualites/20231110-pr-roger-nzoy-wilhelm

    #border_forensics #architecture_forensique #violences_policières #Suisse #Roger_Wilhelm #justice #impunité

    • Commission d’enquête indépendante sur la mort de Roger Nzoy Wilhelm

      Roger Nzoy Wilhelm a été abattu le 30 août 2021 par un policier de la police régionale à la gare de Morges. Une commission indépendante s’est constituée le 31 mai 2023 pour faire la lumière sur les circonstances de sa mort.

      En Suisse, des agressions policières sont régulièrement commises contre des personnes de couleur, des migrants et des personnes socialement défavorisées. Certaines de ces agressions ont une issue fatale, comme dans le cas de Roger Nzoy Wilhelm. La commission estime qu’il est urgent de faire toute la lumière sur ces décès et de mettre en place un contrôle de l’action de la police par la société civile. C’est pourquoi nous avons décidé de commencer à travailler sur les points suivants :

      - l’élucidation complète des circonstances qui ont conduit à la mort de Roger Nzoy Wilhelm à la gare de Morges le 30 août 2021.
      – l’examen complet de la procédure juridique et policière, des dossiers d’enquête et de l’administration des preuves par la justice. Il s’agit d’examiner si l’enquête a satisfait aux exigences de la procédure pénale en matière d’enquête sur les décès ou dans quelle mesure l’enquête a été déficiente : Comment la scène de crime a-t-elle été sécurisée ? Les témoins ont-ils été correctement interrogés ou ont-ils subi des pressions ? Comment s’est déroulé l’examen médico-légal ?
      - Il s’agit d’examiner si les enquêtes menées dans le cas de Roger Nzoy répondent aux exigences des droits de l’homme en matière d’enquête efficace et indépendante en cas de décès exceptionnel et quels sont les obstacles structurels à l’élucidation des violences policières.
      - la mise en perspective des circonstances qui ont conduit à la mort de Roger Nzoy Wilhelm dans le contexte historique et social en Suisse.

      https://www.nzoycommission.org/fr

  • Activités et nouvelles du #Squat de #Morges
    https://www.lereveil.ch/contrib/activites-et-nouvelles-du-squat-de
    « Depuis quatre mois nous occupons une grande maison, début du 19e, entre les voies ferrées et l’autoroute, à l’avenue de Peyrolaz 3 à Morges. Il est nécessaire pour les habitants de se loger, mais également de proposer des activités ouvertes et des ateliers : ainsi, une pièce-où-prend-ou-amène-ce-que-tu-veux (un magasin gratuit en somme) a été inauguré le 24 juin, une bibliothèque, spécialisée sur le sujet de l’autonomie mais également fournie en revues et BD, s’est mise en place dès les premières semaines. Un labo photo et un atelier de peinture (c.f. les murs de la maison) ont également fait leur apparition. Chaque mardi soir, nous accueillons nos amis, les amis de leurs amis, des visiteurs et des curieux à manger ou assister à une (ou des) projection(s) dans notre salon (voir le programme du mois de septembre). »