Historiker nach einer Ukraine-Reise: Ein „Land der erfundenen Geschichte“
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27.5.2025 von Maritta Adam-Tkalec - Was Omer Bartov in der Heimat seiner Mutter fand: „Eine Generation von Ukrainern, deren Köpfe mit Lügen gefüllt sind.“
„Das alles hat eine Vorgeschichte.“ Dieser Satz taucht unweigerlich auf, wenn Menschen mit unterschiedlichen Meinungen über den Ukrainekrieg und seine Genese reden. Er fällt meist dann, wenn man versucht, zu tieferen Ursachen für den russischen Überfall auf die Ukraine vorzudringen.
Meist verlieren sich solche Gespräche im ukrainisch-russischen Geschichtslabyrinth zwischen Hitler, Stalin und Bandera, zwischen der Orangen Revolution und Putins Großrussentum, zwischen den Bestrebungen ukrainischer Nationalisten, das Russische in der Ukraine zu tilgen, denen russischer Imperialisten, eine unabhängige Ukraine zu beseitigen und der überaus berechtigte Wunsch der Mehrheit der Ukrainer, die Souveränität zu wahren.
Viele Länder der Welt sind politisch extrem polarisiert, so wie die USA oder Israel. Die Ukraine gehört ganz gewiss dazu. Doch mit Kriegsbeginn verschwand die innere Zerrissenheit hinter einem geschichtsbegradigenden Schleier. Auch in westlichen Medien ist seit Februar 2022, eigentlich schon seit der russischen Annexion der Krim 2014, kaum mehr von den historischen Tiefenströmungen die Rede. Doch sie gehören zum Ukraine-Bild dazu.
Freie Wahlen 2007: Prorussisch im Osten
Im Jahr 2007 druckte die Berliner Zeitung einen großen Text des amerikanisch Historikers Omer Bartov, Professor für Holocaust- und Völkermordstudien an der Brown University in Providence, Rhode Island. Bartov, der 1954 in Israel geboren wurde, gehört zu den weltweit führenden Holocaust-Forschern und ist ein maßgebender Experte für Völkermordstudien. Seine Familie stammte aus Galizien, gelegen im Westen der heutigen Ukraine, südöstlich von Lwiw (Lemberg).
Dreimal hatte er die Gegend bereist. Nach einem Besuch 2007 in Buczacz, der Heimatstadt seiner Mutter, schrieb er die Reportage, in der er die dunklen Stellen der Geschichte ins Licht rückt. Er begann seine Reise in Berlin. Dort, am Wannsee, hatten, wie er schreibt, „einige junge Männer am 20. Januar 1942 beschlossen, meine Familie in Buczacz zu vernichten – zusammen mit Millionen von anderen Menschen“. Bartovs Beobachtungen blieben aktuell.
Im Jahr der Reise, drei Jahre nach der prowestlichen Bewegung, Orange Revolution genannt, verschoben sich die politischen Verhältnisse in der Ukraine. Bei den krisenbedingt vorgezogenen Parlamentswahlen am 30. September 2007 rutschte die Partei des Präsidenten Juschtschenko ab; er strebte in EU und Nato und wollte die russische Sprache zurückdrängen. Mit 34,4 Prozent wurde die so bezeichnete Partei der Regionen stärkste Kraft, die – noch in Putins erster Präsidentschaftszeit – den Dialog mit Moskau suchte und Russisch als zweite offizielle Amtssprache zulassen wollte. Nicht zuletzt führten russische Fehler dazu, dass Juschtschenko immer weiter in westliche Arme getrieben wurde.
Das Wahlergebnis wird noch interessanter, wenn man auf die regionale Verteilung schaut: Im Osten triumphierte die russlandfreundliche Partei der Regionen, in Donezk holte sie 76 Prozent der Stimmen, in Luhansk 73,6, auf der Krim 61. Wohlgemerkt: in freien Wahlen, nicht in einem unter russischer Fuchtel anberaumten Referendum. In der Westukraine blieb selbige Partei der Regionen klein: Kiew 15 Prozent, Lwiw 4,2, Ternopil 3,0.
Trotz dieser Ergebnisse bildete ein prowestlicher Block (Timoschenko/Juschtschenko) noch einmal die Regierung. Bei den Präsidentschaftswahlen 2010 kam die Partei des Nationalisten Juschtschenko noch auf 5,5 Prozent; Präsident wurde für die Partei der Regionen Wiktor Janukowytsch. Als 2019 Wolodymyr Selenskyj, ein Mann jüdischer Herkunft, mit 73,22 Prozent zum Präsidenten gewählt wurde, zeigte sich der Wunsch, die alten Machtspiele korrupter Cliquen zu beenden. Der russische Überfall unterbrach diese Bemühungen.
In seinem Text beschrieb Bartov die Folgen nationalistischer, antisemitischer, rassistischer Politik der wechselnden polnischen, ukrainischen, sowjetischen und deutschen Mächte im 20. Jahrhundert. Als Hitler-Deutschland die Sowjetunion 1941 überfiel, hatten ukrainische Nationalisten gehofft, mit nationalsozialistischer Hilfe einen unabhängigen Staat zu erlangen. Sie arbeiteten – heute würde man sagen proaktiv – mit daran, die Ukraine „judenfrei“ zu machen und veranstalteten Pogrome gegen Polen.
Im Sowjetreich war all das, so Bartov, „mit Tabus belegt“. Laut sowjetischer Interpretation hätten die deutschen Faschisten und ihre ukrainischen Kollaborateure unschuldige sowjetische Bürger ermordet, während die meisten Ukrainer mutig im Großen Vaterländischen Krieg an vorderster Front gegen den Faschismus gekämpft hätten – so klingt heute auch die offizielle ukrainische Version der Geschichte. Mit der Gründung der unabhängigen Ukraine 1991 sind, wie es Bartov formulierte „die Patrioten der Vergangenheit“ wieder auferstanden. Wer einst als Kollaborateur galt, wurde fortan als „Gründer der Nation“ gefeiert, vor allem in der westlichen Ukraine. (Maritta Tkalec)
Anm. d. Red.: In einem Interview mit der taz gab Bartov an, dass sich die Ukraine verändert habe, dazu habe auch seine Arbeit als Historiker in der Ukraine beigetragen. Er sagte 2022: „Bandera ist auch heute ein großer Held, besonders in der Westukraine. Das ist ein Teil der heutigen Wirklichkeit. Auf der anderen Seite hat sich die Ukraine verändert. (...) Bei der letzten Wahl hat ein Präsidentschaftskandidat gewonnen, der nicht nur Jude ist. Vielmehr, und darauf kommt es an, seine persönliche Identität war keine Sache! Man hat darüber nicht gesprochen. Er hat mehr als die Hälfte der Stimmen gewonnen, und das heißt was. (...)“ Die Ukraine habe nun eine Selbstahnung von sich als einem diversen Land. „Wo Religion und ethnischer Ursprung nicht so wichtig sind. Ich will nicht sagen, dass es keine Extremistengruppen gibt. Es gibt sie, und zwar mehr in der West- als in der Ostukraine. Einige davon sind jetzt in der Ukraine, weil sie kämpfende Gruppen sind, die extrem radikal-rechts sind. Aber das sind marginale Gruppen. Sie hatten keine politische Repräsentation im Parlament. Sie stehen nicht für alle.“
In den folgenden Absätzen lesen Sie eine der eindrücklichsten Passage aus Omer Bartovs Reportage aus dem Jahr 2007 in nur leicht gekürztem Wortlaut.
Das jüdische Buczacz ist getilgt
„Wenn man heute die Städte und Dörfer in Ost-Galizien besucht, findet man sehr viele Anzeichen von willentlicher Amnesie und streng selektierte, manchmal sogar erfundene Erinnerungen. Die westliche Ukraine schafft sich eine Vergangenheit, die sie nie hatte, indem sie die letzten Spuren eines reichen multikulturellen Erbes auslöscht. Sie führt damit eine zweite ethnische Säuberung durch, nicht von Menschen, sondern von der Erinnerung. Es droht eine neue Generation von Ukrainern heranzuwachsen, deren Köpfe mit Lügen gefüllt sind, und deren Verständnis von der Vergangenheit so falsch ist, dass es schwer sein wird, eine bessere Gesellschaft zu entwickeln.
[…]
Zurück zu Buczacz. Vor dem 1. Weltkrieg war das eine der schönsten Städte in dieser Region. Aber Generationen von Bewohnern, Besetzern, von Stadträten und Bürgermeistern, Architekten und Künstlern haben ihr Bestes getan, sie zu verschandeln und zu ruinieren. […] Was die beiden Kriege nicht zerstörten und die Sowjets nicht mit ihren grauenhaften Wohnsiedlungen und Geschäftsgebäuden bedeckten, wird jetzt von der Stadtregierung neu bebaut. Der letzte Überrest von jüdischem Leben, die beeindruckende Talmud-Schule, wurde im Jahre 2000 niedergewalzt. Sie wurde von einem abstoßenden knallgelben Gebäude ersetzt, das auch noch die Aussicht auf den Platz mit dem wunderschönen Rathaus aus dem 18. Jahrhundert versperrt.
Oben auf dem Fedir-Hügel, wo Tausende der jüdischen Bewohner ermordet und in Massengräbern begraben wurden, gibt es ein Denkmal für die Ukrainischen Nationalisten, die von den Sowjets getötet wurden. Nicht ein einziges Wort über die Ausrottung der Juden. Man muss ganz tief in den Wald gehen, um einen einzigen Stein zu finden, der gleich nach dem Krieg dort aufgestellt wurde, und der an die ersten Massenexekutionen von rund 400 Juden erinnert.
Der jüdische Friedhof auf dem Bashty-Hügel auf der anderen Seite der Stadt wird von den Bewohnern als Müllhalde benutzt. Es gibt dort keinen Zaun, und viele der Grabsteine sind einfach weggekarrt worden. […] Kürzlich wurde von den Überlebenden der jüdischen Gemeinde eine bescheidene Gedenkstätte am Rande des Friedhofs errichtet (nur 100 Juden überlebten den Krieg). Hinter Büschen versteckt, gedenkt diese leicht erhobene Plattform all derer, die in Massengräbern auf den Hügeln, die sich zum Strypa-Fluss hinziehen, verscharrt sind. Es ist ein schäbiges Denkmal und beginnt bereits auseinanderzufallen.
Judenmörder ehren statt ethnische Vielfalt
Das Gedenken an die ukrainischen Nationalhelden dagegen ist der Stadt sehr wichtig. Sie hat jetzt ein Museum, in dem die Mitglieder der aufständischen ukrainischen Armee – die stark am Mord an den Juden beteiligt waren – gefeiert werden. Und jetzt wird auch noch eine riesige Gedenkstätte für Stepan Bandera, den Kopf der radikalen Fraktion der ukrainischen Nationalisten gebaut. Aber es gibt nicht eine einzige Referenz an die multiethnische Vergangenheit und kulturelle Vielfalt der Stadt. Selbst die Appelle einiger Bürger, den Zustand der Massengräber auf dem Fedor-Hügel zu verbessern, wo bei starkem Regen Knochen angeschwemmt werden, stieß bisher auf taube Ohren.
Buczacz ist jetzt ein Kaff in einer vergessenen Welt. Vor einem Jahrhundert bot die Stadt, wie so viele andere in Ost-Galizien, weit mehr Hotels, Restaurants, kulturelle und bildungsfördernde Aktivitäten als heute. Lemberg, das wichtigste urbane Zentrum in dieser Region, ist noch deprimierender. Hier gibt es zwar ein paar mehr Gedenkstätten für die Juden der Stadt, die einst in einer großen und wohlhabenden Gemeinde vereint waren. Aber sie wurden alle von der jüdischen Gemeinde in der Ukraine initiiert und mit Unterstützung von ausländischen Organisationen – ohne Hilfe der örtlichen Regierung. Dafür feiert die Stadt ihre eigenen Helden, obwohl einige von ihnen maßgeblich in den Holocaust involviert waren.
Das fällt besonders an zwei Orten auf. Der erste ist ein Denkmal, das neben dem früheren NKWD-Gefängnis für die Opfer der Sowjets errichtet wurde und zumindest erkennbar macht, dass zu ihnen auch Ukrainer, Polen und Juden zählten. Aber die Skulptur ist ganz eindeutig eine christlich inspirierte Darstellung eines Mannes am Kreuz, der von Stacheldraht umgeben ist. Darüber hinaus wird nirgendwo erwähnt, dass außer den getöteten Gefängnisinsassen auch Tausende von Juden abgeschlachtet wurden – und zwar nicht von den Sowjets oder den Nazis, sondern von ihren ukrainischen Nachbarn mitten auf der Straße. Indem das Denkmal versucht, alle miteinzubeziehen, vertuscht es das wahre Schicksal der Juden von Lemberg.
Noch schlimmer ist das neue Denkmal, das auf dem Friedhof von Lyczaków errichtet wird. Während der alte jüdische Friedhof von den Nazis zerstört, von den Sowjets dem Erdboden gleichgemacht wurde und nun von den Ukrainern als Marktplatz genutzt wird, ist dieser christliche Friedhof ein wunderschöner Platz, mit alten Bäumen und vielen Blumen, auf dem berühmte Bürger der Stadt begraben sind.
Nach der Besetzung durch die Polen am Ende des 1. Weltkrieges baute die neue Regierung ein großes Denkmal, um der Gefallenen zu gedenken und den Sieg zu feiern. Seit der Unabhängigkeit der Ukraine ist die neue Regierung nun dabei, ein Denkmal für die ukrainischen Nationalisten genau neben dem polnischen als Symbol für den Endsieg der Ukrainer über die angeblichen polnischen Unterdrücker zu errichten. Die Division der galizischen SS ist hier als Symbol des nationalen Heldentums dargestellt.
Große Summen sind in diese Monumente der Unterdrückung und der Verfälschung investiert worden. Aber während man eine der immer noch eleganten Straßen dieser einst so schönen Stadt entlanggeht, sieht man überall die Zeichen der Verwahrlosung und des Verfalls.“
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