#oranienstraße

  • Museum der Dinge in Berlin: Gentrifizierung schlägt zu – Immobilienfonds kündigt Kreuzberger Institution
    https://www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/museum-der-dinge-in-berlin-gentrifizierung-schlaegt-zu-immobilienfo

    2.11.2023 von Timo Feldhaus - Dem Museum der Dinge wurde von einem Immobilienfonds gekündigt. Tipp: Bis Sonntag kann man es noch in Kreuzberg besuchen. Und was geschieht danach?

    In diesem Jahr feierte die kleine, aber sehr feine Ikone des guten Geschmacks noch ihr 50-jähriges Jubiläum. Nun muss die Kreuzberger Institution mit dem immer leicht umständlichen Namen „Werkbundarchiv – Museum der Dinge“ raus. Ein Imobilienfonds aus Luxemburg hat das Haus auf der Oranienstraße, in dem auch die legendäre Buchhandlung Kisch & Co. einst Mieter war, gekauft. Jetzt müssen sie im Eiltempo ihre Sachen packen.

    Eine Interimslösung wurde im letzten Moment gefunden: Im Mai kann das Museum der Dinge auf der Leipziger Straße in Mitte wieder öffnen. So viel Platz wie in Kreuzberg wird dort allerdings nicht sein, sagt die Museumsleiterin Florentine Nadolni bei einem Besuch, um die etwa 20.000 Objekte und mehr als 45.000 Dokumente vom Archiv des Werkbunds zu zeigen – jene 1907 von Künstlern, Industriellen und Kulturpolitikern gegründete Vereinigung, deren revolutionär schlichte und mehrheitlich wunderschöne Produkte den Kern der Sammlung ausmachen. In Berlin, so die Leiterin, sei es das einzige Museum mit Gestaltungsschwerpunkt, das Design- und Alltagsgegenstände aus West- und Ostdeutschland gleichwertig zeigt und in Zusammenhang bringt.

    Die Welt in Ordnung im Museum der Dinge

    Bis zum Sonntag kann man sich die gesammelte Herrlichkeit der Produktkultur des 20. und 21. Jahrhunderts noch ansehen, von denen einige schon aus den Vitrinen in Kartons geräumt sind. Sie stehen abfahrbereit an der Wand. Zudem gibt es noch eine Sonderausstellung zu sehen: „Die Röhre“ des Architekten Günther L. Eckert. Seine Pläne für eine oberirdische, die Erdkugel umspannende Röhre, in der die gesamte Menschheit leben sollte. Ein furioser, utopischer Entwurf, der gut ins Heute passt. Als Eckert ihn Anfang der 1980er entwarf, war die Weltbevölkerung erst halb so groß wie heute. Am Sonntag um 19 Uhr, bevor hier die Lichter ausgehen, wird noch etwas Musik gespielt und Wein gereicht. Bis dahin sollte man unbedingt noch einmal vorbeischauen.

    #Berlin #Kreuzberg #Oranienstraße #Gentrifizierung #Museum

  • Jazzsängerin Lisa Bassenge: „Das wilde, schöne Kreuzberg ist vorbei“
    https://www.berliner-zeitung.de/mensch-metropole/berlin-stadtbild-jazzsaengerin-lisa-bassenge-das-wilde-schoene-kreu

    So siehts aus. Trotzdem liegt der Zig Zag Jazz Club in der Hauptstraße 98 in 12159 Berlin-Friedenau und nicht in Schöneberg. Aber wie kann eine Lokalredaktöse sowas auch wissen.

    https://m.kauperts.de/Strassen/Hauptstrasse-10827-12159-Berlin

    15.10.2023 von Susanne Dübber - Fast 30 Jahre lang wohnte Jazzsängerin Lisa Bassenge gern in Kreuzberg. Doch die wilden, schönen Zeiten sind vorbei, klagt sie.

    Raus aus Kreuzberg, ran an den Wannsee in Zehlendorf – beschaulicher Vorort oder quirlige Innenstadt, in welchem Berliner Stadtteil lebt es sich besser? Darüber und über ihr Konzert am Freitag, 20. Oktober, im Schöneberger Zig Zag Jazz Club sprach ich mit der Sängerin Lisa Bassenge, während wir aus dem Wohnzimmerfenster den Segelbooten auf dem Wannsee zuschauten.

    „Das wilde, schöne Kreuzberg ist vorbei“, meint sie, „der Stadtteil hat seine besten Zeiten hinter sich.“ Mitte der 1990er-Jahre war die geborene Berlinerin dorthin gezogen. „Bis in die 2000er-Jahre war es ein gemütlicher Bezirk. Alles war im Guten, türkische und deutsche Familien kamen miteinander aus. Ein bisschen Drogenprobleme, ein paar Leute mit Geld, aber das machte sich nicht bemerkbar.“

    Der Kipppunkt des Bezirks kam ab den 2010er-Jahren

    Wobei – Mitte bis Ende der 90er war der Görlitzer Park bereits ein unwirtlicher Ort. „Nachts bin ich da nicht durch. Das war eine ziemlich dunkle Ecke, ältere Männer hingen da rum und machten einen dumm an.“

    Der Kipppunkt von Kreuzberg kam ab den 2010er-Jahren, „da hat sich total was geändert. Es begann der große Ausverkauf. Spekulanten gehörten plötzlich ganze Straßenzüge, seitdem steigen die Mieten ständig, es gibt keine Kitaplätze mehr, niemand findet eine Wohnung.“

    Es wurde ihr „von allem zu viel, vor allem viel zu laut, der Trubel auf den Straßen nahm zu“. Die Oranienstraße hat Lisa Bassenge mit vielen kleinen netten Geschäften in Erinnerung. „Heute ist es eine einzige Touristenmeile, die Cafés verschwinden, Spätis eröffnen. Das Flair ist verloren.“

    Während der Pandemie, mit drei Kindern reduziert auf die Wohnung, sehnte sie sich immer mehr weg aus der Enge, nach einer ruhigeren Ecke in Berlin, mit viel Natur, Wald, Weite für den Blick. So traf sie vor bald zwei Jahren die Entscheidung „raus hier!“, als sich die Gelegenheit ergab, weil zur Tätigkeit ihres Mannes als Hausmeister eine Dienstwohnung am Wannsee gehört.

    Seitdem hat sie vom Klavier aus direkten Blick auf den Wannsee, das neue Album „Wildflowers“ konzipierte sie hier. Sie wohnt nun in beiden Stadtteilen zugleich. „Ich genieße das Beste beider Welten.“ Ist sie in der Wohnung in der Innenstadt, wo immer was los ist, trifft sie auf der Straße sofort Bekannte. Am stillen Wannsee besucht sie oft die abgelegene Pfaueninsel, „der schönste Ort in Berlin“.

    Von fast fünf Jahrzehnten Großstadt Berlin ist Lisa Bassenge Zeugin. Auf ihre musikalische Vergangenheit mit den deutschen Liedern aus den Alben „Nur fort“ und „Wolke 8“ schaut sie beim Konzert im Zig Zag Club zurück.

    #Berlin #Kreuzberg #Friedenau #Wannsee #Hauptstraße #Oranienstraße #Gentrifizierung #Jazz #Gaststätte #Club

  • Bruder von Rio Reiser: „Es hat Rio krank gemacht, dass wir die DDR überfallen“
    https://www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/berlin-kreuzberg-bruder-von-rio-reiser-es-hat-rio-krank-gemacht-das

    21.08.2022 Interview von Susanne Lenz

    Gert Möbius, geboren 1943, ist der mittlere Bruder von Peter und Ralph (Rio Reiser, 1950–1996). Nach einer Kaufmannslehre studierte er Malerei und arbeitete mit seinen Brüdern an Theaterproduktionen. Er managte die Band Ton Steine Scherben, arbeitete als Drehbuchautor für Film- und Fernsehproduktionen und war Mitbegründer des Berliner Tempodroms. Nach dem Tod seines Bruders Rio Reiser im Jahr 1996 baute er das Rio-Reiser-Archiv auf.
    An das Leben seines Bruders erinnert er sich in dem Buch „Halt dich an deiner Liebe fest. Rio Reiser“ (Aufbau Berlin 2017, 352 S., 14 Euro)

    Rio Reiser (1950–1996) war Mitbegründer und von 1970 bis 1985 Sänger und Haupttexter der Band Ton Steine Scherben. Zu seinen bekanntesten Liedern gehören „Macht kaputt, was euch kaputt macht“, „Keine Macht für Niemand“ und der „Rauch-Haus-Song“ mit Ton Steine Scherben sowie „König von Deutschland“, „Alles Lüge“ und „Junimond“ aus seiner Solozeit. Der Rauch-Haus-Song ist zur Hausbesetzer-und Kreuzberg-Hymne geworden. Das Georg-von-Rauch-Haus auf dem Kreuzberger Bethanien-Gelände, zu dessen Besetzung Rio Reiser 1971 bei einem Konzert in der Mensa der Berliner TU aufgerufen hatte, ist bis heute ein selbstverwaltetes Jugendzentrum.

    Gert Möbius und sein kleiner Bruder Rio Reiser wohnten in der Oranienstraße, rauchten gemeinsam den ersten Joint. Auch sein Outing hatte Rio Reiser bei ihm.

    Wir besuchen Gert Möbius in seinem Haus in Berlin-Zehlendorf, eine alte Villa mit Garten. Dass er mal in dieser ruhigen Wohngegend landen würde, habe er sich früher nicht vorstellen können, sagt er. Gerade arbeitet Gert Möbius an einer kleinen Ansprache, die er am 21. August halten wird. An diesem Tag wird bei einem Festakt ab 17 Uhr der Heinrichplatz in Berlin-Kreuzberg nach seinem kleinen Bruder benannt: Rio Reiser.

    Herr Möbius, wie sind Sie und Rio Reiser damals nach Berlin gekommen?

    Wir haben vorher in Frankfurt am Main gewohnt, haben dort Theater gemacht. Rio wusste nicht so richtig, was er machen sollte, in der Schule hatte er Probleme. Meine Mutter ist immer hingerannt, aber mit den Sprachen klappte es nicht. Das war schon im Melanchthon-Gymnasium in Nürnberg so, wir sind viel umgezogen. Musik hat er aber damals schon gemacht. Er hat dann in Nürnberg ein Krippenspiel geschrieben, das in der Schule aufgeführt wurde und ein Riesenerfolg wurde. Dann hat er auch bessere Noten bekommen. Weil mein Vater so ein begeisterter Fotograf war, hat Rio dann gesagt, er mache statt Schule eine Fotolehre. Unser ältester Bruder Peter ist nach Berlin gezogen und ich dann auch. Wir hatten eine schöne Wohnung über dem Literarischen Colloquium, und dann kamen wir auf die Idee, eine Beat-Oper zu machen. Rio sollte die Musik machen, deshalb haben wir ihn nach Berlin geholt, und wir haben dann auch zusammen gewohnt.

    Wo denn?

    Erst am Kaiserdamm, später in der Uhlandstraße. Und Rio hat dann die Lieder für „Robinson 2000“ geschrieben. Wir sind damit zum Theater des Westens gegangen, der Intendant hieß Karl-Heinz Stracke, der war aus dem Handwerker-Milieu, hat das ganze Theater tyrannisiert und auch selber gespielt. Rio hatte die Gitarre dabei und hat ihm ein paar Songs vorgespielt, die Stracke gefielen. Aber er wollte Stars haben. Zuerst haben wir selber rumtelefoniert, dann sind wir zum Arbeitsamt. Die haben dann überall rumtelefoniert. Sogar bei Ringo Starr haben die angerufen.

    Das Arbeitsamt?

    Ja. Und dann hat Eric Burdon gesagt, er macht es. Eine Woche später hat er wieder abgesagt, er musste nach San Francisco. Wir konnten dann die Sängerin Marion Maerz verpflichten. Und den Sohn von dem Tiefseetaucher Hans Hass, Hans Hass junior. Der konnte auch singen. Der Star dieser Beat-Oper war aber der der Engländer David Garrick. Von ihm stammt der Song „Dear Mrs. Applebee“.

    War das ein Erfolg?

    Ein Erfolg war das nicht. Der Regisseur hatte keine Lust. Außerdem hat er sich beim Proben in den Hauptdarsteller verliebt, aber der sich nicht in ihn. Er hat irgendwann einfach aufgehört, die Regie zu machen. Der komplizierte Handlungsablauf von Peters Libretto war auch nicht einfach zu inszenieren. Ich hab das ja selber nicht verstanden. Und dem Stracke war die Musik zu laut.

    Also, Rio Reiser kam für diese Beat-Oper nach Berlin und nicht, weil er hier keinen Wehrdienst machen musste, was ja damals für viele ein Motiv war?

    Das war auch ein Grund. Aber am wichtigsten war für ihn, dass es in Berlin eine andere Atmosphäre gab, dass man hier andere Leute kennenlernen konnte als in dem Kaff, in dem er damals lebte.

    Hat er vielleicht auch gehofft, in Berlin seine Sexualität besser ausleben zu können?

    Das war damals noch gar nicht so entwickelt. In Offenbach hatte er noch eine Freundin. Er wusste damals wohl noch gar nicht, dass er schwul ist. Er hat sich erst in Berlin bei mir geoutet.

    War er da selbstbewusst, auch wenn die Gesellschaft Homosexualität weit weniger akzeptierte als heute?

    Das war ja verboten. Es gab den Paragraphen 175 noch. Rio hat sich sehr gut mit den Lehrlingen angefreundet, mit denen wir damals Theater gemacht haben, da ist auch was gelaufen. Aber die haben sich nicht getraut, sich öffentlich zu zeigen. Das ging damals nicht. Das hätten auch die Jugendlichen nicht gewollt. Und unsere Eltern durften das schon gar nicht wissen.

    Wo in Kreuzberg haben Sie damals gewohnt?

    Erst in der Oranienstraße 45, dann in der 43, gegenüber von dem Lokal „Max und Moritz“.

    War die Oranienstraße damals schon so voller Kneipen wie heute?

    Kreuzberg war damals anders. Die Wohnungen waren nicht saniert, man lebte mit dem Klo auf halber Treppe. Kreuzberg sah genauso aus wie Ost-Berlin. Als wir da 1968 hingezogen sind, kamen die ersten Türken. Es wohnten da vor allem Familien mit Kindern. All die, die es nicht geschafft hatten, nach Gropiusstadt zu ziehen, wo sie hinsollten. Denn die wollten ja Kreuzberg abreißen und eine Autobahn bauen. Die wollten die ganze Kreuzberger Szene vernichten, die Jugendlichen und die Leute, die kein Geld hatten. Auch Rentner waren dabei. Das haben wir mit verhindert.

    Wie sah es in Ihrer Wohnung aus?

    In der Oranienstraße 43 wohnten wir in einem Fabrikgebäude im Hinterhaus. Wir hatten das als Gewerberaum gemietet, es kostete eine Mark pro Quadratmeter, und wir hatten hundert Quadratmeter. Da war gar nichts drin, auch keine Toilette. Ich habe dann erstmal einen Ölofen gekauft. Wir haben da auch geprobt. Das war ein großer Raum. Erst als wir später ans Tempelhofer Ufer gezogen sind, hatte Rio ein eigenes kleines Zimmer. Früher war man nicht so anspruchsvoll. Es gab auch keine Betten, wir hatten nur Matratzen. Der Freundeskreis in Kreuzberg wurde immer größer. Und es gab da Leute, die nicht zu Hause wohnen wollten, aber nichts hatten.

    Ging es so mit den Hausbesetzungen los?

    Ja. Ich habe dann mit meinem Freund Lothar Binger gegenüber vom alten Krankenhaus Bethanien ein Fabrikgebäude entdeckt. Da war keiner drin, und da haben wir überlegt, ob wir das nicht besetzen können. Damals gab es die Stadtteilarbeit in Kreuzberg, die haben Mieterberatung und so was gemacht, mit denen haben wir uns besprochen. Wir waren dann 20, 30 Leute, und dann spielten die Scherben in der Alten Mensa der TU. Und da hat Rio die Durchsage gemacht: Wir fahren jetzt alle zum Mariannenplatz. Wir waren 80 Leute, sind da rein, saßen bei Kerzenlicht, Strom gab es nicht. Plötzlich haben wir gemerkt: Wir können ja die ganze Nacht hier sitzen, aber besetzt ist es deswegen noch nicht. Da muss ja erst die Polizei kommen.

    Und die kam nicht?

    Erstmal nicht. Es gibt das Gerücht, dass jemand von der CDU, der spät vom Skatspielen nach Hause kam, das Licht da oben gesehen hat. Und dann kam die Polizei doch. Die wussten aber gar nichts mit uns anzufangen. Gut, die haben uns mitgenommen auf die Wache. Wir waren Lehrlinge und Studenten, es war nichts geklaut und nichts kaputt gemacht worden. Es war nichts passiert. Deshalb haben sie uns wieder laufen lassen. Wir haben den damaligen Jugend-Stadtrat von Kreuzberg angerufen, Erwin Beck, ein alter SPD-Genosse. Der hat uns das legalisiert. Wir haben Veranstaltungen gemacht, Musik, Filmvorführungen, alle möglichen Gruppen haben da was veranstaltet. Nur wohnen konnte man da nicht, aber unsere Jugendlichen wollten ja irgendwo wohnen.

    Wie ging es weiter?

    Wir haben überlegt: Gegenüber das Krankenhaus Bethanien, das steht doch auch leer. Mal sehen, was da so los ist. Aber es war Winter, und uns war klar, dass wir auf jeden Fall Heizung brauchen. Und dann haben wir beim Rumlaufen zufällig den Hausmeister getroffen. Wir haben ihm erzählt, was wir so planen, und er sagte, er sei früher bei der Roten Hilfe gewesen, in den 20er-Jahren. Dabei kam heraus, dass er wie ich halbblind ist. Er sagte: Ich mach euch auf und stell die Heizung an. Ihr könnt kommen. Das war 1971.

    Unglaublich!

    Ich bin mit Lothar Binger dahin gefahren und habe die Zäune aufgeschnitten. Und dann haben die Scherben wieder an der TU gespielt und Rio sagte: So Freunde, jetzt fahren wir nach Kreuzberg und gucken, was es da zu sehen gibt. Ein paar Tage vorher war Georg von Rauch erschossen worden, der in der Studentenbewegung aktiv war. Deshalb haben wir mehr Leute zusammenbekommen als beim ersten Mal. Und wir hatten auch gleich angekündigt, dass wir das Haus Georg-von-Rauch-Haus nennen. Wir waren dann über 100 Leute, aber es kam auch viel Polizei.

    Daher die Zeile in dem Rauch-Haus-Song: „Der Mariannenplatz war blau, so viel Bullen waren da“.

    Klar. Wir sind aber trotzdem rein und wussten nicht so richtig, wie wir uns verhalten sollen. Mich hat dann noch so ein Polizeihund ins Bein gebissen. Wir haben sofort den Beck angerufen, er kam auch und hat der Polizei gesagt, sie sollen nach Hause gehen, er würde es regeln. 74 Leute sind am Ende da wohnen geblieben.

    Was für Leute waren das?

    Ganz verschiedene. Es waren die Jugendlichen von unserer Theatergruppe, aber es waren auch viele, die ich gar nicht kannte. Leute, die bei dem Scherben-Konzert gewesen waren, aber auch Leute, die mit Rauschgift zu tun hatten. Es waren 74 Leute, die ganz verschiedene Interessen hatten. Das wurde dann auch für uns zum Problem.

    Rio Reiser und Sie haben da nicht gewohnt?

    Nein, aber ich hab das Geld aufgetrieben und für alle gekocht. Ich bin später vom Senat als Kontaktperson zwischen dem Haus und dem Senat angestellt worden, zusammen mit Irene Mössinger, die später das Tempodrom gegründet hat. Ein paar Lehrlinge waren die einzigen, die gemerkt haben, dass da Ordnung reinkommen muss. Das hieß für die: Arbeiten gehen, in die Schule gehen. Andere haben gesagt: Nee, wir wollen Revolution machen. Aber wir wollten, dass das Haus sich selber erhalten kann, und wenn man arbeitet, kriegt man Geld und als Schüler und Student auch. Da bildete sich eine Lehrlingsschicht heraus, Leute aus dem Proletariat, die realistischer drauf waren, die dann später auch beim KBW waren, dem Kommunistischen Bund Westdeutschland. Das passte den Leuten von unserer Theatergruppe „Roten Steine“ nicht, die sind dann fast alle zu uns ans T-Ufer gezogen. Die wollten nicht mehr in dem reaktionären Rauch-Haus wohnen.

    Mit wem hat sich Rio Reiser denn besser verstanden, mit den Lehrlingen oder mit den Studenten?

    Nur mit den Lehrlingen. Mit Studenten wollte er gar nichts zu tun haben, das war nicht seine Welt. Die haben ihm zu viel theoretisiert.

    Was hat ihn inspiriert?

    Er war ein sehr engagierter Christ, hat jeden Tag die Bibel gelesen. Die kannte er fast auswendig. Und er war Karl-May-Fan. Er hatte alle Bände.

    Was hat ihn an Karl May fasziniert?

    Der Gerechtigkeitssinn. Man kann jemanden in den Fuß schießen, aber nicht ins Herz. Dass er Christ ist, hat er aber nicht jedem auf die Nase gebunden. Die Scherben konnten damit nichts anfangen. Lanrue kam aus Frankreich und war katholisch. Und Kai Sichtermann kam aus Norddeutschland, der Vater war Bankdirektor. Die haben sich für sein Christentum nicht interessiert.

    Und für die linke Studentenbewegung war Religion Opium fürs Volk.

    Opium des Volkes. Das ist ein Unterschied. Aber das Christentum war Rios Welt, auch an seinen Texten merkt man seine humanistische Grundhaltung. Das kam von unseren Eltern, die waren im Dritten Reich keine Nazis, sondern Mitglieder der Bekennenden Kirche. Wie Niemöller und Bonhoeffer. Mein Vater war kein Soldat, er hat sich versteckt, als er einberufen werden sollte. Später ist er in die CDU eingetreten, aber das war eine andere CDU damals. Später ist er wieder ausgetreten.

    Und Rio Reiser ist nach der Wende in die PDS eingetreten, oder?

    Es hat ihn total krank gemacht, dass wir die DDR überfallen.

    Überfallen?

    Er hat sich darüber aufgeregt, dass wir Westler die DDR vereinnahmen wollen. Er sagte immer: Die haben mich nicht gefragt, ob ich die Wiedervereinigung in der Form will. Der ist richtig krank geworden und hat sich an Gysi gewandt, die kannten sich bereits. Und dann hat ihm Gysi am 11.11.1990 das Parteibuch überreicht.

    Wie war Ihr Verhältnis? Rio Reiser war ja Ihr kleiner Bruder, war das so ein Beschützerverhältnis?

    Wir waren immer zusammen, haben uns immer geholfen. Wir waren die besten Freunde. Als er gestorben ist, habe ich das gar nicht fassen können. Ich habe oft Angst um ihn gehabt, aber mehr in der Zeit in Kreuzberg. Er ging oft mit Leuten weg, die Trips genommen haben. Ich habe nichts gegen Trips, habe selber auch welche genommen und auch Shit geraucht. Rio und ich haben auch zusammen den ersten Joint geraucht und danach haben wir gesagt: Nie wieder Bier.

    Weil das einfach so viel besser war?

    Ja! Wir haben Musik ganz anders gehört, anders gesehen. Für mich war das ganz wichtig. Und auch das Menschenbild hat sich für mich verändert, zum Positiven hin. Dass man auch hinter die Fassade gucken kann. Aber man wusste nicht, wo die Schwelle überschritten wird und man auch andere Sachen nimmt. Einige Freunde von ihm sind an Heroin gestorben. Er hat sich Gott sei Dank da rausgehalten. Aber ich konnte manchmal nachts gar nicht schlafen. Als ob er mein Sohn wäre.

    Würde es ihn freuen, dass nun ein Platz in Kreuzberg nach ihm benannt wird?

    Klar, warum nicht. Ich finde es ganz gut, dass mal ein Platz nach jemand anderem benannt wird als nach Nazis und Generälen. Dass mal jemand anderes drankommt als die, die immer schon dran waren. Für Rio ist das im Nachhinein ein Geschenk.

    #Berlin #Kreuzberg #Oranienstraße #Mariannenplatz #Heinrichplatz #Rio-Reiser-Platz #Straßenumbenennung #Rauch-Haus-Lied #TSS #Geschichte
    #Hausbesetzung

  • Kreuzberg S.O. 36 (nosing around) | Hier spricht der Aushilfshausmeister!
    http://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2010/01/19/kreuzberg_so_36_nosing_around


    Die Oranienstraße hat seit diesem Interview vom 19.01.2010 mehrere Metamorphosen erlebt. Dennoch ist der Text sehr lesenswert, weil er einen guten Einblick in die Geschichte der palestinensichen Immigtration vermittelt.

    Bis in die Siebzigerjahre gab es in Kreuzberg 36 nur zwei Restaurants: die „Stiege“ und das „Samira“ – jeweils am einen und am anderen Ende des Amüsierabschnitts der Oranienstraße gelegen. Die Oranienstraße wird oft nur kurz „O“ genannt, vor allem von den mit Becksflaschen in der Hand Rumlaufenden, weswegen ein amerikanischer Amüsierkonzern seine neue Vergnügungshalle auf der anderen Spreeseite jetzt auch „O2“ („-World“) nannte. Die „Stiege“ und das „Samira“ gehörten und gehören den palästinensischen Brüdern Seoud. Nachdem wir jahrzehntelang dort eingekehrt waren, baten wir Mahmoud Seoud um ein Interview.

    Claudia Basrawi/Helmut Höge: Was hat sich verändert in all den Jahren in Kreuzberg?

    Mahmoud Seoud: Viel, aber der Kiez ist noch da. „S.O. 36 bleibt!“ wie es heißt. Dass sich McDonald’s hierher gewagt hat, finden wir allerdings unglaublich. In unseren Lokalen haben wir eine Menge Stammgäste seit der Wende verloren, dafür kommen nun vor allem spanische Touristen, aber auch Schweden und Dänen. Einer unserer Kellner, der aus dem selben palästinensischen Dorf stammt wie wir, aber dann in Dänemark gelebt hat, freut sich immer, wenn er mal wieder dänisch sprechen kann. Den wahren Unterschied zu früher hat neulich Leila, eine halbe Palästinenserin, auf den Punkt gebracht. Ihr gehört der „Jodelkeller“ in der Adalbertstraße. In der Kneipe trafen sich früher immer die Hells Angels. Die Rocker sind jetzt 60 oder 70 – und kommen, wenn überhaupt noch, nicht mehr mit ihren Motorrädern, sondern mit Fahrrädern vorgefahren. Da stehen manchmal 20 Fahrräder vor dem „Jodelkeller“. Um mit der Zeit zu gehen, hat Leila ihre Kneipe nun radikal umgestaltet. Das machen wir natürlich nicht. Unsere Einrichtung der „Stiege“ hat fast Denkmalschutz. Das war früher ein Schokoladen-Laden mit eigener Herstellung im Keller. Ich habe dann bei Trödlern noch viele alte Sachen und auch Bilder dazugekauft.

    #Berlin #Kreuzberg #Oranienstraße #Geschichte #Immigration #Restaurant

  • O 159 - Alles für die Partei
    http://www.stadtentwicklung.berlin.de/denkmal/liste_karte_datenbank/de/denkmaldatenbank/daobj.php?obj_dok_nr=09030779


    Seine Brandmauer mit wechselnden mehr oder weniger lustigen politischen Parolen begrüßt bis in die Neunziger jeden Kreuzberger Neuankömmling. Nach der rumpelnden Durchquerung der Ostberliner Geisterbahnhöfe blickt das KBW-Haus aus der Oranienstraße herunter, Orientierungshilfe weniger politischer als kneipentechnischer Art. Das erste Bier wartet zuverlässig unten im Max & Moritz oder gegenüber in der palästinensischen Pizzeria mit dem urdeutschen Namen Stiege . Heute grinst der Opelneubau über die Prinzessinnengärten hinweg auf den staugeplagten Moritzplatz, und ob der geneigte Neu-Kreuzberger es noch von der U-Bahn bis zur Traditionskneipe schafft ist offen, denn die trinkende Jugend der Welt wird schon auf den ersten Metern nach der U-Bahn vom Alkangebot in hell leuchtenden Spätis angelockt.

    Liste, Karte, Datenbank / Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt - Berlin
    Bürohaus & Geschäftshaus Oranienstraße 159
    Obj.-Dok.-Nr.: 09030779
    Bezirk: Friedrichshain-Kreuzberg
    Ortsteil: Kreuzberg
    Strasse: Oranienstraße
    Hausnummer: 159
    Denkmalart: Baudenkmal
    Sachbegriff: Bürohaus & Geschäftshaus
    Entwurf: 1911
    Datierung: 1912-1913
    Entwurf: Weile, Siegfried (Architekt)
    Bauherr: Heitinger, Isidor (Kaufmann)
    Ausführung: Keppich-Eisenbetonbau (Baufirma)
    Literatur: Dehio, Berlin, 1994 / Seite 285; Wohnungskunst 11 (1919) / Seite 53ff.

    Stadtplan: Oranienstraße 159
    http://www.openstreetmap.org/way/37896254#map=18/52.50281/13.41440

    Der Spiegel berichtet im Jahr des Untergangs der Pahlewi-Dikatatur dem westdeutschen Normalverbraucher, was das linke Berlin seit langem weiß: Das Torhaus nach Kreuzberg gehört der Maosekte KBW, deren Oberguru JoSCHa Schmierer später eine erstaunliche Karriere unter dem anderen Ex-Mao namens JoschKa machen wird.

    KOMMUNISTEN: Prinzip Geld - DER SPIEGEL 50/1979
    http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-39685743.html

    Der Kühl KG gehören mittlerweile neben dem KBW-Zentralbau in Frankfurt (Kaufpreis: 2,7 Millionen Mark) Immobilien in der Berliner Oranienstraße 159, der Gröpelinger Heerstraße 261 a und 263 in Bremen und in Hamburgs Kleiner Rainstraße 21. KBW-Firmen erwarben Druckereien, nachrichtentechnische Anlagen und einen aufwendigen Fuhrpark inklusive Unimog — und alles wurde bar bezahlt.

    Gute Geschäftslage und Millionenvermögen verdankt das Unternehmen einem Gewinnstreben, das eklatant gegen die eigene Ideologie verstößt: Die „Interessen der werktätigen Massen“ kommen dabei zu kurz; das „Proletariat“ muß Profit abwerfen. Ein hoher westdeutscher Verfassungsschützer: „Der KBW beutet seine Mitglieder aus!“
    "Die Zellen", sagt Funktionär Schmierer, „formulieren die Bedürfnisse der Organisation“ und „diskutieren“, was der einzelne von seinem Verdienst behalten darf. Dabei dienen die Bezüge von Sekretär Schmierer, monatlich 1000 Mark, als „Richtlinie“.

    Den Rest und mehr schöpft die Partei ab. Da werden schon mal 430 Mark pro Mitglied „Sonderumlage“ fällig, wenn, wie kürzlich in Hamburg, die Kühl KG ein zweistöckiges Gelbklinkerhaus ersteht. Da führt — um „alle Brücken zur Bourgeoisie“ (KBW) einzureißen — die Frankfurter Zentrale Bausparverträge, Bankguthaben, Lebensversicherungen, Grundbesitz und Erbschaften von KBW-Mitgliedern in Parteieigentum über. „Richtig ist“, bestätigt Schmierer, „daß verschiedene Mitglieder Vermögen, das ererbt ist oder sonst was, der Organisation zur Verfügung stellen“ — „alles freiwillig“, versteht sich.

    Was Schmierer unter freiwillig versteht, liest sich in der „KVZ“ so:
    Durch die Notwendigkeit dieses Kampfes und dieser Kampfmethode ist auch der Zeitpunkt festgelegt, an welchem der Besitz, der einige Genossen noch mit ihrer Herkunft aus der Bourgeoisie verbindet, in Eigentum der Organisation und damit der Arbeiterklasse verwandelt werden muß ... Die Beseitigung von Erbschaften und dementsprechend die Verwandlung von Erben in gewöhnliche Lohnabhängige ist dann ein unumgängliches Erfordernis wenn diese Erben Mitglieder des KBW sind.

    Was echte Linke von der Entwicklung des kleinen Joschka halten, weiß Indymedia.

    Ein Nationalrevolutionär im Auswärtigen Amt: Hans-Gerhart ’Joscha’ Sch
    https://de.indymedia.org/2002/10/30902.shtml

    Für die Öffentlichkeit war er nur kurzzeitig ein Thema, als er Anfang 2001 zum Kollateralschaden der Debatte um Joseph Fischers 68er-Vergangenheit wurde. Details seiner politischen Rolle innerhalb des antikapitalistischen Spektrums spielten dabei kaum eine Rolle - man sah nur den ehemaligen „Linksextremisten“ und „Steinewerfer“ und wollte lediglich wissen, ob seine späte Staatsräson auch glaubhaft sei. Sie war es, personalpolitische Folgen blieben aus. Peter Gauweiler sieht in seinem beflissenen Renegatentum „Stimmungs-Parallelen zur deutschen Generationsidee der zwanziger und dreißiger Jahre“ und attestierte seinen europapolitischen Konzepten "gute Chancen bei jedem Aufsatzwettbewerb der Jungen Union.

    Joscha Schmierer | Heinrich-Böll-Stiftung
    https://www.boell.de/de/person/joscha-schmierer
    Die Grünen-Stiftung findet milde Worte für die militante Vergangenheit des Außeministerberaters.

    Joscha Schmierer ist freier Publizist und war von 1999 – 2007 Mitarbeiter im Planungsstab des Auswärtigen Amts.
    1942: geboren in Stuttgart
    1961 – 1969: Studium der Geschichte, Philosophie und Germanistik in Tübingen, Heidelberg, Berlin und wieder Heidelberg
    Seit 1967: politisch und publizistisch tätig

    Joscha Schmierer – Wikipedia
    https://de.wikipedia.org/wiki/Joscha_Schmierer
    Libertärchens Lieblingslexikon wird da schon deutlicher.

    Als Publizist - z.B. in der taz, aber auch in bürgerlich-konservativ orientierten Zeitungen wie der Welt und der FAZ - wie auch als Referent der Denkfabrik des Außenministeriums hat er sich in den letzten Jahren mit einer dezidiert realpolitischen Position profiliert. So befürwortete er u.a. die westlichen Militäreinsätze im Irak 1991, Serbien/Kosovo (seit 1999) und Afghanistan (seit 2001), plädierte für eine pragmatische Zusammenarbeit der EU mit den USA, aber auch mit Russland und äußerte während des Irakkriegs 2003 Verständnis für George W. Bushs Außenpolitik als „konsequente Weltinnenpolitik“ und bezeichnete dessen „extensive Auslegung des Selbstverteidigungsrechts“ als Konsequenz aus einem Versagen der Vereinten Nationen.

    Des Maoisten Weg führt in gerader Linie vom Klassenkrieg zum war on terror und was ist mit seiner Bude? Wem gehört die jetzt, wer hat beim Verkauf die Hand aufgehalten? Ganz so schlimm scheint es bei der Auflösung der freundlichen Schlägertruppe dann doch nicht gewesen zu sein, denn im Haus residieren heute noch ein paar soziale Organisationen, der Übergang von Revolution zu Information ist wohl besser geglückt als die Umwandlung des ersten sozialisten Staats auf deutschem Boden.

    Ich schaue mir das bald mal vor Ort genauer an.

    #Berlin #Kreuzberg #Oranienstraße #Geschichte #Politik