• Große Erwartungen an neue Comicgewerkschaft: „Wir verlangen zu wenig und arbeiten zu viel“
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    30.11.2022 von Rilana Kubassa - Comics und vor allem Graphic Novels – also längere Comicerzählungen in Buchform – werden in der Kulturwirtschaft immer sichtbarer. Der Zeitschrift „Buchreport“ zufolge verzeichneten sie auf dem deutschen Buchmarkt im vergangenen Jahr ein zweistelliges Umsatzplus. Trotzdem können bislang hierzulande nur wenige Comicschaffende von ihrer Arbeit leben.

    Ein Grund dafür könnte die mangelhafte Comic-Infrastruktur in Deutschland sein. Förderungen ausschließlich für Comicprojekte sind rar. Berlin lobt als einziges Bundesland seit 2017 explizit Stipendien für Comiczeichner:innen aus. Verglichen mit den zahlreichen Förderungsmöglichkeiten für Literaturprojekte ist dies wenig. Comicschaffende sind jedoch auf Förderungen angewiesen. 

    Um die Arbeitsbedingungen zu verbessern, hat jetzt eine Gruppe Comicschaffender eine Gewerkschaft gegründet. Anlass dafür war die Einladung des Comickünstlers Nino Bulling zur Documenta 15 im Sommer. Er nutzte sein Budget und lud andere Comicschaffende dazu ein, die 2021 entstandene Idee einer Gewerkschaft gemeinsam weiterzuentwickeln.

    Worum es der Gewerkschaft geht, macht ihr Manifest deutlich: „Mit der Gewerkschaft wollen wir eine Struktur schaffen, an die sich Comicarbeiter*innen mit beruflichen Themen wenden können. Unsere Lebensumstände und Werdegänge sind unterschiedlich, die prekäre Lage von selbstständigen Kulturarbeiter*innen teilen wir jedoch alle.“

    Zum Kernteam gehören die Comickünstlerinnen Jul Gordon aus Hamburg und Sheree Domingo aus Berlin. „Für Comicarbeiter:innen gibt es in Deutschland noch immer kaum Fördermöglichkeiten und Aufenthaltsstipendien“, begründet Gordon ihr Engagement.

    „In der Regel arbeiten wir vereinzelt. Viele von uns fühlen sich allein mit Fragen zu Entlohnung, Bild- und Nutzungsrechten und sozialer Absicherung“, sagt Sheree Domingo. „Unser Traum ist eine Gewerkschaft, die wie eine organische Struktur funktioniert und horizontal strukturiert ist – wie ein Kollektiv mit politischen Forderungen.“
    Geplant sind ein Forum für offenen Austausch und das Aufstellen von Honorartabellen

    Konkret bedeute das etwa, sich in einem Forum offen über das Thema Bezahlung auszutauschen, Informationspools für ausländische Künstler:innen anzubieten und Honorartabellen aufzustellen. „Wir können ja nicht streiken“, so Sheree Domingo. „Aber wenn wir uns vernetzen, können wir Mindestsätze fordern.“

    Eine erste Orientierung in diese Richtung bietet auch der Deutsche Comicverein auf seiner Webseite. Dort ist eine Liste mit empfohlenen Mindesthonoraren angegeben. In der Realität werden diese jedoch oft unterboten.

    Hamed Eshrat, der kürzlich seine Graphic Novel „Coming of H“ veröffentlicht hat, kennt das. „Auftraggebern ist oft nicht bewusst, wie zeitaufwendig und komplex das Zeichnen und Schreiben eines Comics ist. Oft sind es Institutionen oder Vereine, die Themen vorgeben und sagen: ‚illustriert das mal schnell!‘ Das haut so nicht hin. Allein das Verdichten und Reduzieren von Themen und Geschichten, damit sie überhaupt als Comic funktionieren, ist sehr zeitintensiv“, sagt er.

    Wie lange es dauert, einen Comic fertigzustellen, zeigte er unter anderem im September im Anschluss an seine Lesung von „Coming of H“ in der Berliner Bibliothek am Luisenbad – mit Ausschnitten aus seiner Arbeit, vom ersten Entwurf über das Storyboard bis zum fertigen Buch, an dem er rund vier Jahre gearbeitet hat.

    „Auftraggeber holen sich Preise ein, die schon vor 20 Jahren ausbeuterisch waren“, so Eshrat. „Oder sie fragen Student:innen, die in der Regel weniger Geld nehmen. Deren Preise haben aber mit der Realität nichts zu tun.“ Die Aufgabe einer Comic-Gewerkschaft würde für ihn deshalb auch darin bestehen, zu zeigen, dass Arbeit und zeitlicher Aufwand der Comicschaffenden entlohnt werden müssen.

    Seit Anfang September ist die Webseite der Comic-Gewerkschaft online und findet viel Zuspruch in der Szene. Eine empirische Studie soll die Grundlage für zukünftige Forderungen und Arbeitsfelder bilden. Dazu können Comicschaffende noch bis zum 30. November einen Fragebogen auf der Webseite ausfüllen. Zu Redaktionsschluss haben 722 Menschen teilgenommen.
    Menschen, die Carearbeit leisten, werden bei Förderungen und Stipendien benachteiligt

    Die in München lebende Comicautorin Barbara Yelin („Aber ich lebe“) ist gespannt, wie sich die Gewerkschaft entwickelt. „Wir verlangen alle immer zu wenig und arbeiten viel zu viel – und machen dann Auftragsarbeiten, um das auszugleichen“, sagt sie. „Viele Comicschaffende sind am Rande ihrer Kräfte. Die Arbeit noch mit der Familie zu vereinbaren, bedeutet noch mehr Aufgaben. Das bringt mich manchmal zur Verzweiflung.“

    Für Yelin sind deshalb Austausch, Empowerment und Netzwerkarbeit schon lange wichtig. „In Berlin gab es vor 15 Jahren eine Art Wohnzimmersalon, den Ulli Lust und Kai Pfeiffer organisiert haben“, erinnert sie sich. „Das war ein guter Ort für Austausch.“ Auch das 2004 gegründete Illustratorinnen-Kollektiv „Spring“, das jährlich eine Anthologie verschiedener Künstlerinnen herausbringt, nennt sie als wichtiges Netzwerk in ihrer Laufbahn, auch um sich über die Vereinbarkeit von künstlerischer Tätigkeit und Carearbeit auszutauschen.

    Neben Angaben zum Einkommen und zur Ausbildung finden sich im Fragebogen der Comic-Gewerkschaft auch Fragen zur Lebenssituation. „Viele Förderungen haben eine Altersbeschränkung bis 30 Jahre – das ist ungerecht, wenn man Carearbeit geleistet hat oder berufliche Umwege gegangen ist“, findet Jul Gordon. Bei den meisten
    Aufenthaltsstipendien – nicht nur im Bereich Comic – sind zudem Kinder nicht vorgesehen.

    Das erlebt auch Barbara Yelin. „Seitdem ich ein Kind habe, kann ich mich auf viele Stipendien nicht mehr bewerben. Halbtags Comics zu zeichnen ist zudem eine riesige Herausforderung. Und was mache ich bei einem Arbeitsausfall?“ zählt sie einige der Problematiken auf.

    Im aktuellen Koalitionsvertrag der Ampel-Parteien ist zwar erstmalig auch der Comic als zu förderndes Kulturgut genannt. „Aber die Frage ist, wie die Politik versteht, was wir wirklich brauchen“, gibt Yelin zu bedenken. „Nachwuchsförderung muss niedrigschwelliger und offener ansetzen. Traditionelle Stipendien hingegen sind oft altersbegrenzt, da wird angenommen, dass man als erfahrene:r Künstler:in keine Förderung mehr braucht. Dabei ist Förderung bitter nötig, gerade in teuren Städten wie München.“

    Barbara Yelin ist in München derzeit selbst aktiv für eine stärkere Vernetzung von Comicschaffenden. Das „Comicnetzwerk in Bayern“ wird mit einer strukturellen Förderung des Ministeriums für Wissenschaft und Kunst unterstützt. Als Mitglied der Illustratoren Organisation (IO) wünscht sie sich, dass die einzelnen Interessenvertretungen mehr miteinander arbeiten.

    Die in Hamburg lebende Comicautorin Birgit Weyhe ist ebenfalls Mitglied der IO. Sie schätzt die Honorartabellen und Informationen zu rechtlichen Fragen, die die Organisation für ihre Mitglieder bereitstellt. „Anhand dessen kann man leichter berechnen, was man verlangen kann“, sagt sie. Das wünscht Weyhe sich auch für Comicschaffende.

    Weyhe gehört wie Barbara Yelin zu den erfolgreichsten Comickünstlerinnen in Deutschland. Gerade war sie mit „Rude Girl“ im Rahmen der Hamburger Literaturpreise als erste Comicschaffende überhaupt für das „Buch des Jahres“ nominiert. „Ich sollte kürzlich eine Freundin in einem Comicworkshop vertreten“, erzählt sie. „Als sie mir sagte, was dafür bezahlt wird, dachte ich, ich falle vom Stuhl. Da wäre ich ins Minus gegangen.“

    Trotzdem kennt sie auch Unsicherheiten. „Wenn ich eine Anfrage absage, habe ich ein schlechtes Gewissen, weil ich nicht weiß, wann die nächste Anfrage kommt. Und ich weiß, dass sicher jemand anders kommen wird, der diesen Auftrag annimmt“, erzählt sie. Eine Gewerkschaft sollte ihrer Meinung nach solche Unsicherheiten ausräumen, indem über angemessene Honorare informiert wird und ein transparenter Austausch stattfindet. „Es ist so wichtig, dass jemand sagt: ‚Nein, mach das nicht! Rechne dir mal den Stundenlohn aus!’“

    Die Gründung einer Interessenvertretung für Comicschaffende könnte für den Comic in Deutschland auch ein weiterer wichtiger Schritt zu dessen Sichtbarmachung als eigenständiges künstlerisches Medium und Kulturgut sein. Zuletzt formulierten Comicschaffende 2013 auf dem Internationalen Literaturfestival Berlin so deutlich ihre Bedarfe in einem Manifest. Entstanden ist daraus etwa der Deutsche Comicverein. Eine zentrale Forderung war schon damals die stärkere Förderung von Comicprojekten.

    Öffentlich verlesen wurde das Manifest 2013 von der Comicautorin Ulli Lust, die seit 2013 Professorin für Illustrative Gestaltung und Comic an der Hochschule Hannover ist. Auch sie findet die Gründung der Gewerkschaft sinnvoll. „Je besser wir vernetzt sind, desto sicherer sind wir in den Forderungen. Ich brauche gar nicht so viel Unterstützung, aber die Jüngeren sind noch unsicher. Mit einer Rechtsberatung tritt man sicherer auf“, sagt sie.

    Comiczeichner Flix („Das Humboldt-Tier“) findet eine Gewerkschaft grundsätzlich gut. Das Manifest von 2013 unterzeichnete er nicht. „Ein guter Comic entsteht daraus, dass er das Herzensprojekt eines Einzelnen ist“, sagte damals dem Tagesspiegel. Auch jetzt äußert er sich skeptisch: „Da die meisten Zeichner:innen ja soloselbständig sind und keinen gemeinsamen Arbeitgeber haben, ist es sicher nicht leicht, Ansatzpunkte zu finden“, gibt er zu bedenken.

    Ab Februar 2023 sollen voraussichtlich erste Mitglieder in die Gewerkschaft aufgenommen werden. Ob Beiträge gezahlt werden sollen, in welcher Form und unter welchem Namen sie läuft und ob sie sich möglicherweise der Freien Arbeiter Union anschließt, ist noch unklar. „Wir sind da bei weitem noch nicht fertig“, so Sheree Domingo. „Eigentlich brauchen wir dabei noch Unterstützung, zum Beispiel Helfer:innen für den Aufbau und finanzielle Mittel, um zum Beispiel die Studie auszuwerten.“

    https://www.comicgewerkschaft.org
    http://www.european-illustrators-forum.com/associations/io-illustratoren-organisation-e-v
    https://illustratoren-organisation.de

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