Harmonie statt Klassenkampf ?
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Lange Tradition : Die „Halle der Höchsten Harmonie“ in der „Verbotenen Stadt“ in Peking wurde 1421 gebaut und erhielt ihren Namen 1645. (Foto : public domain)
Voilà un exemple typique de la pensée communiste qui se veut dialectique mais demeure enfermée dans une logique binaire de cause et effet. Nous nous sommés éloignés de ce monde clos depuis la publication de "Dialektik ohne Dogma" de Robert Havemann. Les communistes othodoxes n’ont jamais dépassé ce cadre. Dommage.
11.7.2025 von Hannes A. Fellner - Zur ideologischen Bedeutung des Harmoniebegriffs für den Sozialismus chinesischer Prägung
Sowohl der chinesische Begriff „hé“ (vermutlich aus einer sino-tibetischen Wurzel mit der Bedeutung „zusammenfügen“) als auch das griechisch-lateinisch vermittelte Wort „Harmonie“ (von griechisch harmonía, zurückgehend auf eine indogermanische Wurzel mit der Bedeutung „zusammenfügen“) sind in den frühesten Texten des philosophischen Denkens in China und Griechenland eng mit Musik verbunden.
Dàodéjing 2:
„Deshalb: Sein und Nichtsein erzeugen einander, schwierig und leicht vervollständigen einander, lang und kurz bestimmen sich wechselseitig, hoch und niedrig neigen sich einander zu, Klang und Ton harmonieren miteinander, vorn und hinten folgen einander.“
Lúnyu 13.23:
„Der Edle sucht Harmonie, nicht Gleichförmigkeit.“
Heraklit B 8:
„Das Gegensätzliche fügt sich, aus dem Verschiedenen entsteht die schönste Harmonie.“
Heraklit B 51:
„Sie verstehen nicht, wie das mit sich selbst im Streit Liegende sich dennoch selbst entspricht: eine sich umwendende Harmonie – wie die von Bogen und Leier.“
Eine weitere, in hohem Maß chinesische Verankerung des Begriffs „hé“ findet sich in folgendem kulinarischen Gleichnis:
Zuo Zhuàn (frühestes chinesisches Werk narrativer Geschichte – umfasst die Zeit von 722 bis 468 vor unserer Zeit), 10. Buch, Jahr 20:
„Harmonie gleicht der Zubereitung einer Suppe: Wasser, Feuer, Essig, Sauce, Salz und Pflaumen werden verwendet, um Fisch und Fleisch mit Feuerholz zu kochen, der Koch balanciert (hé) die Zutaten, bringt sie geschmacklich ins Gleichgewicht, ergänzt das Fehlende und mildert das Übermäßige.“
Seit diesen frühen Texten ist Harmonie ein sowohl metaphysischer als auch ethisch-praktischer Grundbegriff im chinesischen Denken.
„Harmonie gleicht der Zubereitung einer Suppe: Wasser, Feuer, Essig, Sauce, Salz und Pflaumen werden verwendet, um Fisch und Fleisch mit Feuerholz zu kochen, der Koch balanciert die Zutaten, bringt sie geschmacklich ins Gleichgewicht, ergänzt das Fehlende und mildert das Übermäßige.“Harmonie in der chinesischen Tradition
Im Verlauf der chinesischen Philosophie wurde Harmonie – wie so viele Begriffe – phasenweise konservativ gedeutet und zur Rechtfertigung sozialer Ungleichheit instrumentalisiert. Doch blieb ihr dialektischer Kern stets erhalten – und konnte in Phasen gesellschaftlicher Transformation produktiv gewendet werden.
Zentrale Merkmale der Harmonie im chinesischen Denken:
Vielfalt: Harmonie setzt die Koexistenz unterschiedlicher Entitäten mit je eigenen Charakteristika und Tendenzen voraus.
Spannung: Die Differenz zwischen diesen Elementen erzeugt natürliche Reibungen.
Zusammenwirken, Abstimmung, Kompossibilität (Koexistenz mehrerer Möglichkeiten): Aus der Spannung erwächst Energie zur wechselseitigen Anpassung und koordinierten Entwicklung.
Transformation und Entwicklung: Im Prozess kooperativer Interaktion werden Spannungen überwunden und Gegensätze aufeinander bezogen – so wird eine dynamische gegenseitige Entfaltung ermöglicht.
Kontinuität: Harmonie ist kein statischer Zustand, sondern ein Prozess ständiger Erneuerung und adaptiver Vermittlung.
Der britische Sinologe Joseph Needham fasst diesen Ansatz so zusammen: „Die harmonische Kooperation aller Wesen entspringt nicht dem Befehl einer äußeren Autorität, sondern aus dem Umstand, dass sie alle Teile einer Ganzheit in einer kosmischen Ordnung sind, und dass sie den inneren Gesetzen ihres eigenen Wesens folgen.“
Was zählt, ist das Beziehungsgefüge. Nichts existiert isoliert, sondern nur in Bezug zu anderem. Koexistenz ist Voraussetzung von Existenz. Der niedrigste Maßstab für ein Koexistenzverhältnis ist die Minimierung gegenseitigen Schadens. Der höchste Maßstab ist die Maximierung wechselseitigen Nutzens und die Begründung von Interdependenz (gegenseitiger Abhängigkeit).
Harmonie in der westlichen Tradition
Harmonie war – mit wenigen Ausnahmen – nie ein zentraler Begriff der westlichen Philosophie. Wo er auftauchte, bezeichnete er Übereinstimmung, Einklang, Eintracht, Ebenmaß. Doch gehört gerade die dialektische Tradition von Heraklit bis Hegel zu jenen Ausnahmen, die Lenin als „Quellen und Bestandteile“ des Marxismus bezeichnete. Besonders hervorzuheben ist Gottfried Wilhelm Leibniz, dessen Begriff der Harmonie in vieler Hinsicht dem chinesischen Denken nahesteht – was wohl auch seine große Faszination für China erklärt. „Harmonie ist Einheit in der Vielfalt (…) Wo keine Vielfalt ist, gibt es keine Harmonie. Umgekehrt: Wo Vielfalt ohne Ordnung und Proportion herrscht, gibt es ebenfalls keine Harmonie. Daraus folgt: Je größer die Vielfalt und je stärker die Einheit in dieser Vielfalt, desto größer ist der Grad an Harmonie.“
Für Leibniz ist die Welt ein lebendiges, sich entwickelndes Ganzes – eine Totalität von Bedingungen und Wechselwirkungen. Harmonie ist die Gesamtheit dieser Relationen. Jedes Element – sei es ein Mensch, ein Ding, ein Gedanke – steht auf verschiedenen Ebenen mit allem anderen in Beziehung.
Jede Veränderung in einem Teil wirkt auf das Ganze. Jede Monade (Ureinheit), wie Leibniz sagt, spiegelt den Kosmos aus ihrer jeweiligen Perspektive – eine Idee, die Hans Heinz Holz im dialektischen Sinn weiterentwickelt hat: „Die Welt besteht aus einer unendlichen Anzahl individueller Substanzen, die durch ein System wechselseitiger Vermittlung eine Einheit bilden, da jede einzelne durch Rückkopplung mit allen anderen ein besonderes Verhältnis zur Totalität ausdrückt.“
Diese Welt ist ein System kompossibler (verträglicher) Relationen – nicht statisch, sondern spannungsvoll, widersprüchlich und beweglich. Harmonie ist in diesem Sinn der organisierte systematische Zusammenhang des Verschiedenen, in dem das Einzelne (sich) durch dessen Ort im bewegten Ganzen bestimmt (wird).
Dialektik der Harmonie
Die Analyse sowohl der langen chinesischen als auch der verkürzten westlichen Tradition des Harmoniebegriffs zeigt, dass sich darin zentrale Komplexe dialektischen Denkens abbilden, wie sie Holz als Grundstruktur der Dia-
lektik herausgearbeitet hat:
Totalität – Gesamtkontext – universelle Vermittlung
Selbstbewegung – Wandel – Entwicklung durch Negation
Diskontinuität – Sprung – Übergang von Quantität zu Qualität
Identität und Nicht-Identität – Widerspruch – Einheit der Gegensätze.
Harmonie und Sozialismus chinesischer Prägung
Mit den um die Jahreswende 1939/40 verfassten Schriften von Mao Zedong „Die chinesische Revolution und die KP Chinas“ und „Über die neue Demokratie“ wurde die entscheidende Grundlage für eine eigenständige, an die historischen, ökonomischen und sozialen Verhältnisse Chinas angepasste kommunistische Politik gelegt, die sich von den sowjetischen Vorgaben emanzipierte. Diese berücksichtigt insbesondere Chinas Charakter als abhängiges Land und beinhaltet damit auch allgemeine Einsichten. Diese Linie war Ausdruck einer Analyse der ungleichen Entwicklung im imperialistischen Weltsystem (Lenin) – mit der Folge, dass sozialistische Umwälzungen besonders an dessen Peripherien entstehen konnten.
Nach erfolgreichen Revolutionen waren diese Länder mit ähnlichen strukturellen Problemen konfrontiert: ökonomische Rückständigkeit, wissenschaftlich-technologisches Defizit, schwache politische Institutionen, externe Bedrohungen. Die Harmonisierung dieser Spannungen erforderte – so die chinesische Lösung – die dialektische Koordination von Klassenkampf, nationaler Souveränität und kultureller Transformation in einer Harmonischen Gesellschaft.
Harmonische Gesellschaft
Der Begriff der „sozialistischen harmonischen Gesellschaft“ wurde auf der 4. Plenartagung des 16. Parteitags der KP Chinas im Jahr 2004 vorgestellt. Nach außen hin – das war der Hintergrund der Einführung dieses Konzepts – geht es um eine „harmonische Welt“, also eine Welt, in der angesichts der Bedrohung Chinas durch den westlichen Imperialismus auf internationalen Frieden und die Entwicklung und Zusammenarbeit – also Multilateralität statt verschärfter Systemkonkurrenz – gesetzt wird, um eine „sozialistische harmonische Gesellschaft“ im Inneren zu garantieren. Der Begriff bezeichnet ein gesellschaftliches Ideal, in dem jeder Mensch seiner Tätigkeit nachgehen und in guten Beziehungen zu anderen leben kann. Voraussetzung dafür sind Gerechtigkeit, Rechtsstaatlichkeit, Partizipation, Aufrichtigkeit. Fehlen diese Grundlagen, entsteht soziale Disharmonie, die sich in Ungleichheit, Instabilität und gewaltsamen Konflikten äußert.
Darüber hinaus umfasst das Konzept auch die Harmonie zwischen Mensch und Natur: Es fordert einen sparsamen Umgang mit Ressourcen und eine umweltfreundliche Lebensweise. Ziel ist eine nachhaltige Entwicklung, in der wirtschaftliches Wachstum mit ökologischem Schutz und gesellschaftlichem Zusammenhalt in Einklang gebracht wird.
Die dialektische Aufhebung des traditionellen Harmoniebegriffs – im Sinn von Bewahrung, Überwindung und Neubestimmung – ist bei der Konzeption der harmonischen Gesellschaft ein zentrales Moment.
Fehlende Harmonie
In Teilen der westlichen Marxismen – wie Domenico Losurdo betont – gab und gibt es messianisch-eschatologische Vorstellungen (Erlösungs- beziehungsweise Endzeitvorstellungen), wonach im Sozialismus alle Widersprüche verschwinden müssten. Diese Vorstellung ist nicht nur religiös inspiriert, sondern auch eine verständliche Reaktion auf jahrzehntelange Kriegserfahrungen.
Doch ein statischer Endzustand, in dem „alles gut“ ist, widerspricht der dialektischen Logik. Holz schreibt über das mangelnde Widerspruchsbewusstsein und falsche Harmoniebedürfnis im europäischen Sozialismus in „Niederlage und Zukunft des Sozialismus“: „Die Widersprüche der eigenen Gesellschaft und ihre ideologische Widerspiegelung wurden so wenig untersucht, wie die realen Grundlagen in Gesellschaftsprozessen, die in bürgerlichen Ideologemen ihren weltanschaulichen Ausdruck fanden. So entfernte sich die Philosophie von der Wirklichkeit, schloss sich in einen Elfenbeinturm wohlgehüteter Doktrinen ein und verlor die Fähigkeit, neue Entwicklungen und Konstellationen, Kategorien und Erklärungsmuster auszuarbeiten, die einer Orientierung der Menschen in einer sich verändernden Welt hätten dienen können.“
Harmonie und Dialektik
Die Rückgewinnung des dialektischen Harmoniebegriffs in der westlichen Tradition und seine Verbindung mit dem chinesischen Denken kann das Verständnis Chinas im Westen verbessern. Der Beweis, dass dies möglich ist, liegt in der Rezeption durch Leibniz und ihrer Fortführung durch Holz.
Diese Verbindung soll jedoch nicht bloß dem kulturellen Austausch dienen, sondern der gemeinsamen politischen Orientierung: Harmonie als dialektisches Prinzip ist ein Schlüssel zur marxistischen Konzeption von Sozialismus – und im Modell des Sozialismus chinesischer Prägung bereits konkret verwirklicht.
Dialektik Ohne Dogma ? Naturwissenschaft und Weltanschauung, von Robert Havemann, Rowohlt, Hamburg, 1964
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