20.07.2024 aktualisiert am 26.7.2024 von Ernst Volland - Er hatte die sowjetische Flagge auf dem Berliner Reichstag fotografiert und war international anerkannt. Doch heute stößt der berühmte Kriegsreporter auf Ablehnung.
Es gibt ein berühmtes Foto, Sie kennen es sicher: Es zeigt, wie am 2. Mai 1945 auf dem Berliner Reichstag die sowjetische Flagge gehisst wird. Aber wissen Sie auch, wer es geschossen hat? Der Fotograf hieß Jewgeni Chaldej, geboren 1917 in der heutigen Ukraine in Donezk, gestorben 1997 in Russland in Moskau. Er war sowjetischer Kriegsreporter.
Anfang der 90er-Jahre lernte ich Jewgeni Chaldej in Moskau kennen. Dieser lebte mit einer sehr kleinen Rente am Rande der Stadt. Wir freundeten uns an, und ich organisierte eine erste Ausstellung im Westen nach dem Mauerfall in Deutschland.
Ein Jahr später veröffentlichte der Nicolai-Verlag die erste deutsche Publikation, ein Überblick über das Gesamtwerk des Fotografen: „Von Moskau nach Berlin – Bilder des russischen Fotografen Jewgeni Chaldej“.
Als Sammler und Liebhaber von Fotografien ist es mir und meinem Agenturpartner Heinz Krimmer von der Agentur „Voller Ernst“ gelungen, über die Jahre eine Sammlung speziell des Werkes von Jewgeni Chaldej aufzubauen. Es ist die größte Sammlung dieser Art weltweit. Zu den Prints, alle vom Fotografen signiert und zum Teil beschriftet, beinhaltet die Sammlung einen ausführlichen Anteil Sekundärmaterial: Publikationen, Zeitungsartikel, Persönliches und seltene Bücher.
Im Jahr 2008 wurde im Gropius-Bau in Berlin eine lang vorbereitete Retrospektive mit dem Titel „Der bedeutende Augenblick“ gezeigt, die vorwiegend mit Beständen aus unserer eigenen Sammlung bestückt wurde. Die Ausstellung übertraf alle Erwartungen. Zur Pressekonferenz erschienen mehr als 100 Journalisten, viele Besucher strömten in den zweiten Stock des imposanten Gebäudes. Dort lag am Ausgang ein umfangreiches Gästebuch aus, das später Teil unserer Sammlung wurde.
Das wohl bekannteste Bild Chaldejs: Soldaten der Roten Armee hissen auf dem Reichstagsgebäude die sowjetische Flagge, 1945 Chadlej/akgÜberwältigende Reaktion auf Chaldej-Ausstellung 2008
Schlägt man willkürlich eine Seite auf, so liest man Zeilen wie die der Besucherin Therese Wiskott: „Eine wunderbare Ausstellung voller ausdrucksstarker Bilder. Der Schrecken des Krieges und die Gefühle der Menschen werden deutlich, eine bewegende Ausstellung. Danke Chaldej, daß du den Mut und das Können besaßest, diese Bilder zu machen, danke an die Organisatoren, uns diese Bilder sichtbar gemacht zu haben.“
Unter dem Kürzel EMS schreibt jemand: „Ich bin tief beeindruckt von dem menschlichen Blick, den jedes einzelne Foto einnimmt. Obwohl Chaldej als offizieller sowjetischer Chronist reiste, habe ich kein einziges Stereotyp gesehen. Die Bilder haben mich zudem erneut daran erinnert, wie sadistisch die deutsche Kriegsführung war. Danke für diese beeindruckende Ausstellung.“
In den unterschiedlichsten Sprachen beschreiben die internationalen Besucher ihre Eindrücke, mal sehr ausführlich, aber auch kurz: „Very impressive. Take the exhibition to Barcelona one day.“
Ein letzter Eintrag sei gestattet: „Wir haben diese Ausstellung besucht. Wir bedanken uns für diese Ausstellung, unser Eindruck ist sehr traurig, weil wir sind Kinder, die diesen Krieg überlebten. Wir hoffen, daß dieser Krieg war letzte in europäische Geschichte. S. Zhukowa und G. Schenina aus der Ukraine.“
Auch die Presse feierte die Ausstellung als ungewöhnliches Ereignis. Die Tageszeitung schrieb unter der Headline „Das Auge der Geschichte“: „Es gibt hier kaum ein Bild, das sich, selbst nach flüchtigem Betrachten, nicht tief in die Erinnerung eingräbt. Soldaten, die durch die weiße Nacht in ein ungewisses Schicksal schreiten, eine alte Frau, die sich in Murmansk über verbrannte Erde schleppt, der Selbstmord eines Wiener Nazis, die erschütternden Ansichten aus dem Budapester Ghetto. Es ist eine unerträgliche, riesige Anhäufung von Waffen, Leichen, Trümmern, Leiden und Zerstörung; aber inmitten des Wahnsinns gibt es anrührende Augenblicke, wo sich vor dem mitfühlenden Objektiv Chaldejs Geschichtliches und Privates kreuzen.“
Jewgeni Chaldej im Jahr 1990 dpaJewgeni Chaldej, einer der wichtigsten Fotografen des 20. Jahrhunderts
Der Weserkurier notierte: „Jewgeni Chaldej ist wohl der bedeutendste Fotograf der Sowjetära – vergleichbar im Westen mit dem Amerikaner Robert Capa.“
Robert Capa war ein ungarisch-amerikanischer Fotograf und Kriegsreporter. Er und Chaldej lernten sich auf der Potsdamer Konferenz kennen und schätzen. Von Capa erhielt Chaldej die technisch perfekte Speed Kamera als Geschenk. Mit dieser Kamera konnte man durch das aufgesteckte Blitzlicht gute Bilder in Innenräumen machen. Chaldej schoss einzigartige Bilder von den angeklagten deutschen Kriegsverbrechern während der Nürnberger Prozesse. Ein besonderes Augenmerk legte er auf Göring. Dieser war der ranghöchste noch lebende Nationalsozialist.
Die Retrospektive bestätigte in toto die Bedeutung des Fotografen. Jewgeni Chaldej ist einer der wichtigsten Fotografen des 20. Jahrhunderts. Das sieht auch Klaus Honnef, einer der kompetentesten deutschen Fotospezialisten so. In seinem 1992 veröffentlichten Text zum Werk von Jewgeni Chaldej im Katalog zur Ausstellung „Pantheon der Photographie im XX. Jahrhundert“ schrieb er:
„Die Aufnahmen sind frei von jeglicher Maschinenseligkeit, sie zeigen den Menschen als Handelnde und Opfer des Krieges, als Kämpfer, Sieger und Verlierer. Es ist diese humanistische Komponente, die seine Kriegsbilder von denen der offiziellen deutschen Kriegspropaganda prinzipiell unterscheidet. Das Bildepos von Jewgeni Chaldej stellt einen völlig eigenständigen und stilistisch geschlossenen Beitrag zum Photojournalismus dar.“
Heinz Krimmer und ich verfolgten aufmerksam im Zuschauerraum die Eröffnungsreden der Ausstellung im Gropius-Bau 2008. Ein russischer Redner meinte, es sei für ihn beschämend, dass deutsche Sammler das Werk von Chaldej bewahren und dies nicht russische Institutionen übernommen hatten. Völlig zu Recht wurde Chaldej damals internationale Anerkennung zuteil.
Doch was einmal war, scheint nicht mehr zu sein.
Spätestens seit dem Regierungswechsel 2014 auf dem Maidan in Kiew, der zur Annexion der Krim führte und schließlich in den russisch-ukrainischen Krieg mündete, ist alles Russische verdächtig, Aktuelles und Historisches. Unter dieses unausgesprochene Verdikt fällt auch das Lebenswerk des sowjetisch-ukrainischen und jüdischen Jahrhundertfotografen Jewgeni Chaldej.
Seit der erfolgreichen Retrospektive waren wir daran interessiert, das komplette einmalige Konvolut, inklusive etlicher Vintageprints an eines der Berliner Museen zu veräußern. Alle Angesprochenen lehnten ab, einige kauften eine kleine Anzahl Prints, das Konvolut blieb zurück.
Erst kürzlich nahm ich erneut Kontakt auf mit einem hochrangigen Parteimitglied einer der im Bundestag vertretenen Parteien. 1997 hatte diese Partei in einer Kulturveranstaltung Chaldej aus Moskau zu einer Ausstellung in Berlin eingeladen. Die Kuratorin für die Ausstellung kam auf die Idee, sowohl seine Fotos als auch Arbeiten des amerikanischen Fotografen Toni Vaccaro zu zeigen. Vaccaro hatte als junger Fotograf und Soldat 1945 mit der U.S. Army in der Normandie und anschließend in Deutschland das Ende des Kriegsgeschehens fotografiert.
Tatsächlich kamen beide Männer zur Eröffnung. Die Besucher konnten einen selten bewegenden Augenblick miterleben, der amerikanische Fotograf Toni Vaccaro Arm in Arm, in großer Verbundenheit und Zuneigung mit dem Fotografen Jewgeni Chaldej. Für Chaldej war es die letzte Ausstellung, die er besuchen konnte, bevor er im selben Jahr an einem Schlaganfall starb.
Der Generalstabschef des deutschen Heeres, Hans Krebs (r), kommt am 1. Mai 1945 zu Verhandlungen über die Bedingungen für einen Waffenstillstand mit der sowjetischen Armeeführung in Berlin-Tempelhof zusammen. Das Foto erschienen 2008 in dem Bildband „Der bedeutende Augenblick“. Chaldej/dpaBereits damals bestand das Interesse, die Fotos von Chaldej in die Sammlung der Partei zu integrieren. Die Idee wurde jedoch nicht intensiv verfolgt, man ging ohne Ergebnis auseinander.
Ich knüpfte gut zehn Jahre nach der Retrospektive im Gropius-Bau 2008 erneut den Kontakt und machte auf die Sammlung aufmerksam. Das Interesse sei wiederum groß, versicherte man mir, Chaldej ein „Weltfotograf“. Es gelang in einem längeren Prozess, hochrangige Parteimitglieder einzubinden, grünes Licht allerseits.
Auktionshaus lehnt Chaldejs Flaggenmotiv ab, aus Solidarität mit der Ukraine
Doch dann kam der 24. Februar 2022. Die zusammengezogenen russischen Truppen blieben nicht an der Grenze zur Ukraine stehen, Putin entschloss sich zum Angriff. In der Partei war ab diesem Zeitpunkt die Chaldej-Sammlung kein Thema mehr.
Am 8. Mai, zum Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges, tauchte hin und wieder das Flaggenfoto vom Reichstag in einigen Medien auf, doch seit dem russischen Überfall wird es kaum noch veröffentlicht. Nachfragen bei Agenturen, die das Foto vertreiben, fallen durchweg negativ aus. „Auf dem Flaggenfoto ist das Symbol von Hammer und Sichel deutlich zu sehen. Es ist ein Siegerfoto der Sowjets, das schreckt viele ab.“
Ein bekanntes Auktionshaus lehnt das sonst gern ins Programm genommene Flaggenmotiv als Print seit zwei Jahren kategorisch ab, aus Solidarität mit der Ukraine. Zu meiner Überraschung entdeckte ich einige Motive Chaldejs in der diesjährigen Frühjahrsauktion, eines davon ist die Chaldej-Flagge, die aus unserer Sammlung mehrmals abgelehnt wurde. Auf Nachfrage erfuhr ich, dass das Auktionshaus einen weiteren, signierten Print des Flaggenmotivs nicht ablehnen konnte, da der andere einreichende Fotoliebhaber eine breit gestreute hochkarätige Sammlung besitze, an der man langfristig interessiert sei. Mit zwar gemischten Gefühlen habe man daher schließlich den signierten Print ins Programm genommen. Hier scheint die Solidarität dem finanziellen Interesse zum Opfer gefallen zu sein, dachte ich, und bot freundlich zur nächsten Auktion im Herbst vorsorglich meinen Print des Flaggenfotos erneut an.
Ressentiments und Ablehnung zum Thema Chaldej häufen sich. Der Versuch, außerhalb Berlins andere Museen in Deutschland für unsere umfangreiche Sammlung zu interessieren, scheiterte wiederholt: „Oh, Chaldej! Heikel, heikel“; „Chaldej? Das passt zurzeit gar nicht!“; „Bitte keine Russen.“; „Dafür bekommen wir nie Gelder bewilligt.“ Alle Türen scheinen geschlossen.
Der Vorschlag, das Ende des Zweiten Weltkrieges, den 80. Jahrestag 2025, für eine Chaldej-Ausstellung zu nutzen, wurde in einem bundesrepublikanischen Museum mit der Begründung abgelehnt, man wolle keine russische Propaganda betreiben. In einem anderen Museum wurde ein Plausch bei einer Tasse Kaffee in Aussicht gestellt, mit der Bemerkung, man sei aber an einer Ausstellung von Chaldej-Fotos oder sogar an einem Ankauf in keinem Fall interessiert. Man hatte freundlich abgelehnt, ohne auch nur einen Blick auf die Arbeiten von Chaldej zu werfen.
Der Dichter Jewgeni Dolmatowski mit Trophäe, Berlin, am 2. Mai 1945 Chaldej/voller Ernst„Für Ihr Material aus dem Osten sehe ich überhaupt keine Chance.“
Völlig desillusioniert hat mich die Begegnung mit einem Leiter der Fotografie-Abteilung eines Museums. „Wenn unser Oberkurator ein paar farbige Holzlatten auf dem Boden liegend als Skulptur und herausragend empfindet und die Plastik für unser Museum kaufen möchte, stehen umgehend Millionen bereit. Wenn ich aber eine hochkarätige Fotosammlung kaufen möchte, dauert das Jahre bis zur Genehmigung, wenn überhaupt. Für Ihr Material aus dem Osten sehe ich überhaupt keine Chance.“
Ich überlege, einen weiteren Teil der Sammlung, etwa dreihundert Originalprints mit Alltagsmotiven der Sowjetunion aus den 60er- und 70er-Jahren, als Ausstellung anzubieten. Diese Fotos wurden noch nie gezeigt. Ich betrachte die wunderbaren, teils skurrilen Szenen mit Festen, Badeszenen, Trinkgelagen und spielenden Kindern, die sicherlich breites Interesse finden würden, da sie eine ganz andere Seite Russlands zeigen.
Doch dann resigniere ich: Alltag in Russland während des Kalten Krieges als Ausstellung? Unmöglich, jemanden dafür zu begeistern. Es sind zu viele demütigende Ablehnungen, die mich allmählich mürbe machen. Wie kann es sein, frage ich mich, dass ein Jahrhundertfotograf mit einem den Krieg anklagenden, einmaligen Werk so missachtet wird? Vor nicht langer Zeit hochgeschätzt, sowohl im In- und Ausland, schauen hier jetzt alle weg, wenn ich die Sammlung anbiete.
Wie wäre es, denke ich, den sowjetisch-russischen Aspekt aus dem Œuvre Chaldejs zu streichen und nur noch vom ukrainischen Fotografen zu sprechen? Aber das würde der Historie widersprechen. Dem entgegen steht auch die allgemeine Kenntnis des Jahrhundertfotos mit den Symbolen Hammer und Sichel auf der Flagge. Das Foto hat früh Eingang in die Schulbücher gefunden, es ist eines der wenigen Fotos, die sich weltweit ins kollektive Gedächtnis eingebrannt haben.
Ich versuche erneut einen Kontakt mit einem Museum einer großen deutschen Stadt. Das Museum besitzt eine respektable Fotosammlung. Ich stelle die Chaldej-Sammlung vor, nenne die Stückzahl von vierhundert Fotografien plus Sekundärmaterial, zeige einige Originalabzüge, die ich zur weiteren Begutachtung vor Ort lasse. Die Atmosphäre ist freundlich.
Die Siegesparade am 24. Juni 1945 auf dem Roten Platz in MoskauChaldej/voller ErnstWieder zurück in Berlin, kommt aus dem Museum eine erste Reaktion, eine E-Mail. Man sei sich noch nicht einig, ob man die Schenkung annehmen könne, es müssen noch weitere Experten im Haus zugezogen werden, dann werde man eine Entscheidung treffen. Ich bin verblüfft, von einer Schenkung war nie die Rede.
Eine Schenkung für das Land der Täter?
Es hat Schweiß und viel Herzblut gekostet, die Sammlung Stück für Stück mit Chaldej zusammen aufzubauen. Viele Reisen nach Moskau unter teilweise schwierigsten Umständen waren notwendig, um das Gesamtwerk in der kleinen Wohnung in Moskau zu erfassen. Lange Wege, viel Wodka und keine offizielle Förderung. Chaldej sprach nur russisch, befreundete Dolmetscher zeigten sich von ihren großzügigsten Seiten, sowohl aus dem Bekanntenkreis von Chaldej als auch von meiner Seite. Insgesamt war diese Annäherung für mich eine besondere Herausforderung.
Die Eltern meiner Generation waren am Mord von Millionen russischen Menschen, Soldaten, Zivilisten, Frauen und Kindern direkt beteiligt oder unterstützten die nationalsozialistische, faschistische Politik. In diesem Licht erscheint mir eine Schenkung mit einmaligen Kriegsfotos von einem jüdisch-ukrainisch-sowjetischen Fotografen, der sich selbst als Soldat verstand und täglich sein Leben riskierte, für das Land der Täter unpassend.
Die Gräben scheinen heute fast wieder tiefer als nach dem Zweiten Weltkrieg. Vor einigen Jahren war ich in Paris bei einem Treffen der berühmten Fotoagentur „Magnum“. Dort waren sich alle einig, dass die Gründer der Agentur – darunter Henri Cartier-Bresson und Robert Capa – Jewgeni Chaldej 1947 sofort als Mitglied aufgenommen hätten. So ändern sich die Zeiten.
Ernst Volland ist kritischer Künstler und lebt seit 1968 in Berlin.