• Plattform-Urbanismus | sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung
    https://zeitschrift-suburban.de/sys/index.php/suburban/article/view/605

    Arbeit, Migration und die Transformation des urbanen Raums
    Moritz Altenried
    , Stefania Animento , Manuela Bojadžijev
    Abstract

    Der Beitrag analysiert, wie digitale Plattformen urbanes Arbeiten und Leben ebenso verändern wie die gelebte Räumlichkeit und die materielle Architektur der Stadt. Davon sind nicht nur Arbeitsverhältnisse berührt, sondern auch alltägliche Formen und Praktiken von Mobilität, Konsum oder Reproduktion. Basierend auf umfassenden ethnografischen Forschungen beschreiben wir erstens den Aufstieg der Plattformarbeit in Berlin, insbesondere am Beispiel von Uber, Deliveroo und Helpling. Wir nehmen neue Formen algorithmischer Organisation, Kontrolle und Überwachung von Arbeit im Stadtraum in den Blick und zeigen, dass Plattformarbeit primär migrantisch ist. Davon ausgehend skizzieren wir zweitens die Umrisse eines entstehenden Plattform-Urbanismus. Das umfasst sowohl ein Verständnis der Räume und Geografien digitaler Plattformen als auch eine theoretische Perspektivierung des Begriffs. Drittens betonen wir, dass kritische Analysen des emergenten Plattform-Urbanismus zeigen können, wie Plattformen darauf abzielen, unverzichtbare urbane Infrastrukturen zu werden. Allerdings zeigt sich, dass diese Infrastrukturwerdung urbaner Plattformen kein reibungsloser Prozess ist, sondern politisch und ökonomisch umkämpft.
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    Veröffentlicht:
    23. April 2021
    DOI
    https://doi.org/10.36900/suburban.v9i1/2.605
    Schlagworte:
    Platform-Urbanismus, Plattformen, Stadt, Digitalisierung, Arbeit, Migration, Gig Economy, Infrstruktur, Logistik Platform urbanism, platforms, city, digitisation, labour, migration, gig economy, infrstructure, logistics
    In Ausgabe
    Bd. 9 Nr. 1/2 (2021)
    digital war besser

    Rubrik: Aufsätze aus dem Schwerpunkt

    73-91
    Autor/innen-Biografien
    Moritz Altenried

    Moritz Altenried arbeitet empirisch und theoretisch unter anderem zu Digitalisierung, Arbeit, Migration, Plattformen und Logistik im globalen Kapitalismus.
    Stefania Animento

    Stefania Animento hat ihre Schwerpunkte im Bereich Mobilität, Migration und Klasse sowie Stadt- und Gentrifizierungsforschung.
    Manuela Bojadžijev

    Manuela Bojadžijev interessiert sich für gegenwärtige Transformationsprozesse von Mobilität und Migration sowie von Rassismus, im Zusammenspiel mit Veränderungen von Arbeit und Alltag durch Digitalisierung und Logistik, vorwiegend in urbanen Räumen.
    Förderung

    Dieser Artikel wurde durch Publikationsmittel im Forschungsprojekt Plattform Labour in Urban Spaces (PLUS) gefördert, finanziert durch die Europäische Kommission im Rahmen des Programms Horizon 2020 (Grant agreement No. 822638).

    Volltext

    Plattform-Urbanismus (Moritz Altenried, Stefania Animento, Manuela Bojadžijev) | In: sub\urban, Bd. 9 Nr. 1/2 (2021): digital war besser | sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung
    https://zeitschrift-suburban.de/sys/index.php/suburban/article/view/605/911#content

    Arbeit, Migration und die Transformation des urbanen Raums

    Moritz Altenried, Stefania Animento, Manuela Bojadžijev

    1. Einleitung: Berlin, Juli 2019

    Ein diskreter Klingelton seines Smartphones weist den Fahrradkurier auf einen neuen Auftrag hin. Er bremst am Straßenrand und öffnet die App der Essenslieferplattform Deliveroo. Eine kurze Lieferung aus Berlin-Kreuzberg zum Neuköllner Hermannplatz für eine Entlohnung von Euro 4,20 wird ihm angeboten. Schnell kalkuliert er Entfernung, potenzielle Wartezeiten und die momentane Auftragssituation: könnte sich lohnen. Er akzeptiert den Auftrag mit einem Wisch auf dem Smartphone und macht sich auf den Weg zum Restaurant.

    Das Restaurant entpuppt sich als eine unauffällige Küche im Hinterhof eines Kreuzberger Altbaus: ein virtuelles Restaurant, eigentlich nur eine Küche, in der ausschließlich zur Bestellung über verschiedene Essenslieferplattformen gekocht wird. Dementsprechend sind die Abläufe optimiert. Es gibt keine Laufkundschaft, nur die Kurier_innen der verschiedenen Lieferdienste gehen ein und aus. Der Kurier betritt die Küche gemeinsam mit zwei Kolleginnen, die für dieselbe Plattform arbeiten. Er stellt zufrieden fest, dass die Bestellung bereits in braunen Pappbehältern auf ihn wartet. Um nicht aus Versehen mit einer falschen Lieferung loszufahren, vergleicht er die Liefernummer in seiner App genau mit der Nummer auf der Papiertüte und markiert die Bestellung – koreanische Burger und eine japanische Bowl – in der App als abgeholt. Eilig packt er die Bestellung in seinem Rucksack und macht sich auf den Weg zum Ziel in Neukölln.

    Dort angekommen, bestätigt der Deliveroo-Rider in seiner App die Ankunft bei der Kundschaft und klingelt dann an der Tür. Mehrere mit Zahlencodes gesicherte Boxen unterhalb der Klingeln und Klingelschilder, auf denen statt Namen nur die Nummern der einzelnen Wohnungen stehen, lassen darauf schließen, dass es sich um Ferienwohnungen handelt. Niemand antwortet. Er klingelt erneut. Die beiden jungen Frauen aus London, die sich hier für ein paar Tage ein Appartement über Airbnb gemietet haben, um Berlin zu besuchen, sind noch nicht da. Sie haben das Essen über ihr Smartphone aus dem Uber-Taxi bestellt, dabei jedoch die Dauer der Fahrt zurück zu ihrem Appartement unterschätzt. Die Apps des Lieferdienstes Deliveroo, der Wohnungsplattform Airbnb und des Fahrdienstes Uber befanden sich bereits vor der Berlinreise auf ihrem Handy. All diese Dienste stehen ihnen auch in ihrer Londoner Heimat zur Verfügung – genauso wie in vielen anderen Städten der Welt.

    Während der Kurier ungeduldig wartet, öffnet sich die Tür und eine Frau mit Putzsachen tritt heraus. Sie hat die Zeit, während die beiden Londonerinnen beim Sightseeing waren, genutzt, um die Wohnung sauber zu machen. Wie der Deliveroo-Kurier und die Uber-Fahrerin arbeitet auch sie über eine digitale Plattform: Das deutsche Unternehmen Helpling vermittelt unbürokratisch und stundenweise solo-selbstständige Putzkräfte, perfekt für die Besitzer_innen der mindestens fünf Airbnb-Wohnungen in diesem Haus. Diese können so aus der Distanz ihre Wohnungen sauber halten und vermieten. Der Deliveroo-Fahrer nickt der Helpling-Arbeiterin zu und nutzt die Chance, um in den Hausflur zu treten. Er ist selbstständig und wird für die Lieferstrecke bezahlt, nicht für die Zeit, die er für die Auslieferung benötigt. Wartezeiten senken also seinen Stundenlohn. Er überlegt, die Lieferung vor die Wohnungstür zu stellen und dann weiterzufahren, um heute noch sein selbst gestecktes Einkommensziel zu erreichen. Während er noch das Risiko einer verschwundenen Bestellung und den potenziellen Ärger mit der Plattform abwägt, kommen die beiden Londonerinnen zur Tür hinein und freuen sich, dass ihr Mittagessen bereits da ist.
    Plattform-Urbanismus

    Diese nur leicht fiktionalisierte Szene aus unserer ethnografischen Forschung vom Sommer 2019 veranschaulicht etwas, das sich als Plattform-Urbanismus bezeichnen lässt. Dies zeigt ein Blick auf die Smartphones von Menschen aus besonders mobilen Bevölkerungsgruppen, wie den beiden erwähnten Touristinnen oder die der meist migrantischen Arbeiter_innen von Plattformen wie Uber, Deliveroo oder Helpling besonders deutlich. Die verschiedenen Apps spielen im Leben dieser oft neuen oder temporären Berliner_innen häufig eine elementare Rolle. Doch auch ein Blick auf das Smartphone einer beliebigen langjährigen Berlinerin wird mit großer Wahrscheinlichkeit die Apps vieler solcher Plattformen aufweisen, die das urbane Leben in allen Dimensionen zu durchdringen beginnen. Google Maps leitet die Menschen durch die Stadt und modifiziert dabei ihre Geografie; Amazon beeinflusst den Konsum und die Liefervans verstopfen die Straßen. Praktiken und Räume des Datings und Ausgehens verändern sich durch Apps wie Tinder und Grindr. ShareNow, Lime, und viele andere vermieten über ihre Apps Elektroroller, Fahrräder und Autos und wollen so die urbane Mobilität revolutionieren. Airbnb bietet Ferienappartements, Uber Taxifahrten, TaskRabbit Aufbauhilfen für die neuen Ikea-Möbel, Deliveroo das Mittagessen, Helpling die Reinigung der Wohnung, Care.com die Kinderbetreuung und so weiter. Es gibt kaum noch einen Bereich von Arbeit und Leben, in denen digitale Plattformen keine Rolle spielen. Das datengetriebene Geschäftsmodell der meisten Plattformen basiert darauf, dass sie sich über die Smartphones in den Alltag der Nutzer_innen einflechten und zu einem unverzichtbaren Teil der Infrastruktur im alltäglichen Leben werden. Städte sind das primäre Aktionsfeld dieser digitalen Plattformen und werden so zu einem Laboratorium gesellschaftlicher Veränderung. Mit ihnen verändert sich auch die Stadt selbst und wird, wie die Architektin und Urbanistin Clare Lyster schreibt, immer mehr zu einer „integrierten Serviceplattform“ (Lyster 2016: 13).

    Wie digitale Plattformen urbanes Arbeiten und Leben, aber auch gelebte Räumlichkeit und sogar die materielle Architektur der Stadt verändern, ist die zentrale Fragestellung dieses Aufsatzes. Dabei liegt unser Fokus zunächst auf der Analyse von Plattformarbeit in urbanen Räumen (hier konkret in Berlin). Im zweiten Teil des Aufsatzes erweitern wir dann unseren Fokus und fragen, wie Plattformen nicht nur Arbeit, sondern zunehmend auch urbane Räume zu verändern und zu prägen beginnen.

    Wir beginnen unsere Analyse mit einer kurzen Eingrenzung des Begriffs Plattform und skizzieren kurz die Geschichte und Relevanz der Plattformarbeit bzw. Gig Economy. Anschließend analysieren wir auf der Grundlage unserer ethnografischen Forschung in Berlin, die ihren Schwerpunkt auf die Plattformen Uber, Deliveroo und Helpling legt, Prozesse und Logik der App-basierten Plattformarbeit im Stadtraum. Dabei untersuchen wir auch den in der Forschung bislang weitgehend vernachlässigten Aspekt, dass es sich bei dieser Arbeit vorwiegend um migrantische Arbeit handelt. Ausgehend von der Analyse dieses spezifischen Feldes erweitern wir dann unseren Blick auf weitere Fragen des urbanen Lebens, wie die gelebte Geografie oder die urbane Verräumlichung digitaler Plattformen. Zum Schluss erlaubt uns eine kurze Diskussion des Begriffs Plattform-Urbanismus, die gegenwärtigen Transformationen als Infrastrukturwerdung von Plattformen im Urbanen zu charakterisieren. Abschließend wagen wir einen Ausblick auf die Rolle von Plattformen im Kontext der aktuellen Covid-19-Krise.
    Forschungsperspektive: Plattformen, Arbeit, Stadt

    Wir verstehen digitale Plattformen sowohl als konkreten und wichtigen Faktor der Transformation urbaner Arbeits- und Lebensverhältnisse, als auch als radikalen Ausdruck breiterer gesellschaftlicher Veränderungen. Zu diesen gehören die Flexibilisierung von Arbeit, die Logistifizierung von Produktion und Alltag sowie das datengestützte und zunehmend automatisierte Management von Arbeit und urbanem Leben. In diesem Text geht es uns nicht um die Behauptung, die Stadt von morgen würde nach dem Prinzip von Uber und Airbnb regiert (auch wenn uns diese These nicht ganz unplausibel erscheint) oder um die Ausarbeitung einer fertigen Groß-Theorie zum Plattform-Urbanismus. Stattdessen nutzen wir den Begriff heuristisch. Wir setzen unsere Forschung zum Einfluss digitaler Plattformen auf städtische Arbeit und städtischen Alltag ein, um eine kritische Perspektive auf die Stadt von heute zu gewinnen. Diese Perspektive auf die digitalisierte Stadt steht aus unserer Sicht im Dialog mit anderen Forschungsperspektiven. Dazu zählen wir etwa kritische Perspektiven auf den Diskurs und die Materialität von Smart Cities oder die Finanzialisierung der Stadt (Halpern et al. 2013; Harvey 2013; Beverungen/Sprenger 2017).

    Unsere Analyse digitaler Plattformen im städtischen Raum entwickeln wir primär aus der Perspektive der Arbeit und aus einer Untersuchung von Plattformen, bei denen die Organisation und Ausbeutung lebendiger Arbeit im Zentrum des Geschäftsmodells steht. Unsere Forschung folgt auch deshalb diesen arbeitsvermittelnden Plattformen, weil wir Arbeit und politische Ökonomie für zentrale (wenn auch bei Weitem nicht die einzigen) Faktoren in der Produktion des urbanen Raums halten (Harvey 2010; Briken 2018). Dabei ist uns bewusst, dass wir bei der Analyse von Plattformen im Stadtraum auch andere räumliche Praktiken und Akkumulationsformen in den Vordergrund stellen könnten. Der schillernde Begriff der Plattform umfasst viele verschiedene ökonomische Formationen, die sich teilweise sehr stark von den hier untersuchten Plattformen wie Uber oder Deliveroo unterscheiden (Gillespie 2010; Srnicek 2016). Deren Einfluss und deren Rolle im urbanen Raum ist wiederum jeweils sehr unterschiedlich – man denke an die sehr unterschiedlichen Auswirkungen auf das urbane Leben durch die bereits genannten Apps Grindr und Tinder (Miles 2017), Google Maps (Luque-Ayala/Neves Maia 2019), Airbnb (Wachsmuth/Weisler 2018) oder städtische Datenplattformen (Barns 2018). Diese sehr willkürliche Auswahl zeigt auch, dass die Subsumption unterschiedlicher Applikationen und Unternehmen unter den Begriff der Plattform (und des Plattform-Urbanismus) zwar zu dessen Attraktivität, aber auch zu dessen Problematik beiträgt. Schließlich erlaubt es der Begriff, sehr unterschiedliche Unternehmen und Konstellationen zu vereinheitlichen und droht dadurch, an analytischer Schärfe zu verlieren. Andererseits erlauben Begriffe wie Plattform und Plattform-Urbanismus eine breitere Perspektive, die sehr hilfreich dabei sein kann, die tiefgreifenden Transformationsprozesse zu begreifen, zu deren Resultaten etwa die ungeheure globale Macht von Unternehmen wie Amazon oder Facebook gehört. Die Frage, welche Logik diese unterschiedlichen Unternehmen miteinander verbindet, lassen wir im Folgenden jedoch weitgehend offen. Stattdessen entwickeln wir unseren Beitrag primär aus der Perspektive der auch als Gig Economy bezeichneten Plattformarbeit. Damit konzentrieren wir uns auf einen bestimmten Typus von Plattformen sowie auf einen spezifischen Aspekt der Plattformisierung des Urbanen.

    Wir entwickeln unsere Argumentation vor dem Hintergrund zweier laufender Forschungsprojekte zu Plattformarbeit, Stadt und Migration.[1] Diese Projekte verbinden Ansätze und Perspektiven aus Anthropologie, Sozialwissenschaften, Migrationsforschung, Geografie und Stadtforschung sowie Politischer Ökonomie. Methodisch verfolgen wir schwerpunktmäßig einen qualitativen und ethnografischen Forschungsansatz. Die primäre Grundlage für diesen Artikel liefert uns unsere empirische Forschung in Berlin. Dazu gehören umfangreiche ethnografische Untersuchungen (on- und offline), über 40 Interviews mit Plattformarbeiter_innen von Deliveroo, Helpling und Uber sowie Interviews mit Gewerkschafter_innen, Aktivist_innen, Verwaltungsmitarbeiter_innen, Abgeordneten und weiteren Akteur_innen. Diese Forschung in Berlin steht im Kontext eines zweiten, transnationalen Forschungsprojektes zu Plattformarbeit in verschiedenen europäischen Städten, das uns die Kontextualisierung der besonderen Berliner Situation erlaubt.

    2. Plattformarbeit in der digitalisierten Stadt

    „I was told that it was an application and that I was going to get a job right away. They told me that you register and you get offers through the application, it was strange to me, but it was like that, you register and you get offers, cleaning offers from different houses, from different areas, either two hours or four hours, but Helpling gets a pretty high commission. That’s basically it.“ Camila, Berliner Plattformarbeiterin aus Argentinien (Interview, Januar 2020)[2]

    Plattformarbeit ist heute ein globales Phänomen. Millionen Menschen arbeiten in urbanen Zentren auf der ganzen Welt über digitale Plattformen. „Everybody is talking about the gig economy“, schreiben die britischen Wissenschaftler Jamie Woodcock und Mark Graham in ihrer kritischen Einführung zum Thema (Woodcock/Graham 2019: 1). Während sich der Begriff in Deutschland eher langsam verbreitet, hat „Gig Economy“ in anderen Ländern bereits Einzug in die Umgangssprache gehalten. In Großbritannien etwa, wo Woodcock und Graham zufolge die Zahl der Plattformarbeiter_innen inzwischen der Zahl der Beschäftigten im öffentlichen Gesundheitssektor entspricht, entwickeln sich seit einigen Jahren breite öffentliche Diskussionen über das Phänomen und dessen Auswirkungen auf die Welt der Arbeit. Die Aufmerksamkeit für die Gig Economy speist sich hier, aber auch anderswo in Europa, nicht zuletzt aus einer Welle von Protesten von Plattformarbeiter_innen (Animento et al. 2017; Cant 2019). Vermittelt durch diese Kämpfe gewinnt der Begriff inzwischen auch in der deutschsprachigen Debatte an Bedeutung, vor allem im Bereich der Essenslieferung.

    Zur Größe der Gig Economy gibt es wenig belastbare Zahlen und kontroverse Diskussionen. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass Plattformarbeit oft aus dem Raster üblicher Erhebungsmethoden zu Arbeitsmärkten fällt, teilweise nicht statistisch erfasst wird bzw. werden kann, häufig ein Zweit- oder Drittjob ist und zudem nur schwer von ähnlichen Formen flexibler und kontingenter Arbeit abgrenzbar ist. Die Plattform Helpling etwa, deren Geschäftsmodell das Eingangszitat prägnant beschreibt, vermittelt in über 200 Städten weltweit Putzkräfte. Die selbstständigen Kuriere von Deliveroo liefern Essen in über 500 Städten aus und die Taxiplattform Uber hat über 100 Millionen Kund_innen in über 900 Städten auf der ganzen Welt. Grob geschätzt dürften es zusammen mit Tausenden weiterer Plattformen insgesamt an die 50 Millionen Plattformarbeiter_innen sein (Heeks 2019).

    Eine umfangreiche Studie in 13 europäischen Ländern, die den Begriff Gig Economy relativ breit definiert und auch digitale Arbeit auf Onlineplattformen wie Amazon Mechanical Turk miteinschließt, resümiert, die Plattformarbeit spiele in allen untersuchten Ländern eine bedeutende Rolle. Allerdings sei sie in den meisten Fällen nicht die Haupteinnahmequelle, sondern eine wichtige Ergänzung anderer Einkommensquellen. Interessant ist die geografische Verteilung: Die höchsten Anteile regelmäßiger (wöchentlicher) Plattformarbeit wurden in Zentral- und Osteuropa gemessen. So waren es in Tschechien 2019 etwa 28,5 Prozent der arbeitenden Bevölkerung, während die Werte in Nord- und Westeuropa geringer sind. In Deutschland gingen der Studie zufolge 2016 etwa 6,2 Prozent der arbeitenden Bevölkerung mindestens einmal wöchentlich unterschiedlichen Formen von Plattformarbeit nach (Huws et al. 2019). Eine Untersuchung der Europäischen Kommission kommt mit einer anderen Methode auf ähnliche Zahlen für Deutschland (Pesole et al. 2018). Andere Erhebungen kommen zu etwas niedrigeren Zahlen. Plattformarbeit macht also bisher – darauf deuten die vorliegenden Zahlen hin – einen eher kleinen Anteil an den jeweiligen nationalen Arbeitsmärkten aus. Dieser Anteil scheint jedoch stark zu wachsen. Der Studie von Ursula Huws (2019: 1) zufolge hat sich etwa die Zahl der Plattformarbeiter_innen in Großbritannien zwischen 2016 und 2019 verdoppelt.

    Die Gig Economy ist ein globaler Arbeitsmarkt mit primär urbanen Effekten. Daher ist seine genaue Größe in einzelnen nationalen Ökonomien vielleicht auch nicht der springende Punkt. Ihre qualitative Relevanz erhält sie zumindest auch durch ihre Eigenschaft als zentrales Experimentierfeld für neue Formen digital vermittelter, organisierter und kontrollierter Arbeit. So deutet vieles darauf hin, dass die Covid-19-Krise und die daraus hervorgehenden, schon vorauszusehenden wirtschaftlichen Verwerfungen die Bedeutung der Plattformarbeit noch einmal verstärken werden. Bereits in ihrer heutigen Form ist die Gig Economy ein Produkt der letzten großen Finanz- und Schuldenkrise. Zwar steht die Gig Economy historisch betrachtet in einer langen Genealogie kontingenter Arbeit, sie ist aber in ihrer heutigen Form ein Produkt der globalen Krise ab 2007. In dieser trafen insbesondere in den USA Arbeitskräfte, die aufgrund von Entlassungen und Rezession freigesetzt worden waren, auf großzügig mit Risikokapital ausgestattete Plattformunternehmen und begründeten so einen neuen Kreislauf kontingenter Arbeit.

    Die 2009 gegründete Taxi-Plattform Uber lieferte dafür eine Art Blaupause: Wie die meisten Plattformen versteht sich Uber primär als Technologieunternehmen, das zwischen Kund_innen und selbstständigen Taxiunternehmer_innen vermittelt. Dementsprechend hat das Unternehmen selbst nur wenige festangestellte Mitarbeiterinnen. Es organisiert eine große Menge Arbeitskraft on demand, um flexibel auf sie zugreifen zu können. Den etwa 20.000 fest angestellten Mitarbeiter_innen bei Uber stehen weltweit über drei Millionen formell selbstständige Fahrer_innen gegenüber. Diese führen mit ihren eigenen Autos einzelne Taxifahrten durch, die ihnen über die Uber-App vermittelt und durch diese einzeln abgerechnet werden. Dieses Modell – die Auslagerung einzelner, zeitlich befristeter Aufträge (der sogenannten Gigs) an formell selbstständige Arbeiter_innen mittels einer digitalen Plattform – bildet die Grundlage der heutigen Gig Economy. Inzwischen dringen solche Plattformmodelle in fast alle Bereiche vor.

    Uber verbindet sein schlankes Geschäftsmodell (Srnicek 2016), das Fixkosten für Arbeit und Autos weitgehend vermeidet, mit einer kapitalintensiven Disruptionsstrategie. Diese zielt darauf ab, herkömmliche Taxidienste zu unterbieten und so vom Markt zu verdrängen. Zudem lässt sich eine oftmals aggressive Strategie zur Umgehung nationaler und munizipaler Gesetze und Reglungen im Bereich des Personentransports beobachten. Diese führt vielerorts – wie aktuell auch in Deutschland – zu erbitterten Konfrontationen mit Taxiverbänden und Stadtregierungen. Diese Auseinandersetzungen sorgen immer wieder für Rückschläge in der globalen Expansionsstrategie von Uber. Auch das Modell der solo-selbstständigen Fahrer_innen ist rechtlich wie politisch an vielen Orten umkämpft.
    Plattformarbeit in Berlin: Kontingenz und Kontrolle

    Auch in Berlin ist das Geschäft von Uber rechtlich und politisch umstritten. Ein Effekt dieser Auseinandersetzungen ist, dass die Beschäftigungsverhältnisse bei Uber hier heterogener ausfallen als an anderen Standorten. In Berlin stehen zwischen Plattform und Fahrer_in oft noch verschiedene Subunternehmen. Zugleich ist Uber für viele Fahrer_innen tatsächlich ein Vollzeitjob, auf dessen Einkünfte sie nicht verzichten können (für die Situation in den USA und Kanada: Rosenblat 2018). Verschärft wird diese Situation oft durch Schulden oder Leasinggebühren, mit denen die Fahrer_innen die Autos für ihre Arbeit finanziert haben und die sie regelmäßig bedienen müssen – nicht selten bei Uber selbst. Petra, eine Berliner Uber-Fahrerin, die mit dieser Tätigkeit ihre Rente aufbessert, beschreibt die Situation so: „Die Leasing-Autos, die müssen ja immer bezahlt werden. Da ist das Leasing, die Versicherung und das Geld muss natürlich irgendwie reinkommen. Deshalb darf ein Auto auch nicht stillstehen.“ (Interview März, 2020) Petra erzählt, dass sich manchmal zwei Fahrer_innen ein Auto teilen, um es 24 Stunden am Tag zu nutzen und so rentabel zu machen. Ihr Arbeitsalltag wird dabei komplett von der Uber-App auf ihrem Smartphone organisiert. Durch diese bekommt sie ihre Aufträge für die einzelnen Fahrten, die Routen und eine Reihe weitere Informationen. Mit den angestellten Mitarbeiter_innen von Uber im Berliner Büro hat Petra nur in Ausnahmefällen zu tun.

    Wie eingangs beschrieben, werden auch die Fahrer_innen der Essenslieferplattform Deliveroo per App durch die Stadt dirigiert. Der hohe Grad an Kontrolle über den Arbeitsprozess, den viele Plattformen über ihre Apps ausüben, lässt die Argumentation der Plattformen, lediglich Aufträge für Selbstständige zu vermitteln, zumindest fragwürdig erscheinen. Komplexe Algorithmen verteilen die Aufträge an die Fahrer_innen und versuchen diese mit Anreizsystemen in Zonen mit hoher Nachfrage zu locken. Gleichzeitig dient die App zur Schichtplanung und zur automatisierten kleinteiligen Organisation jeder einzelnen Lieferung oder Taxifahrt. Dabei werden verschiedenste Daten erhoben wie Fehlzeiten, Verspätungen, Geschwindigkeit, Routen, abgelehnte Aufträge oder Bewertungen der Kundschaft. Diese Daten werden sowohl genutzt, um die Algorithmen zu optimieren als auch um die Arbeit der einzelnen Fahrer_innen umfassend zu vermessen und gegebenenfalls zu sanktionieren.

    Teil dieses integrativen Systems „algorithmischen Managements“ (Beverungen 2017) sind verschiedene Bewertungssysteme. Oft strukturieren diese den Zugang zu zukünftigen Aufträgen und dienen so als Disziplinierungsmechanismen für die formell selbstständigen Plattformarbeiter_innen. Bei Uber und Helpling sind darüber hinaus die Bewertungen der Kundschaft enorm wichtig für den Zugang zu zukünftigen Aufträgen. Sie bringen oftmals die Arbeiter_innen in schwierige Situationen gegenüber ihren Kund_innen, etwa wenn diese unbezahlte zusätzliche Leistungen verlangen oder sich übergriffig verhalten. Bei Deliveroo bilden vor allem die individuellen Statistiken zu Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit sowie die Bereitschaft, abends und am Wochenende zu arbeiten, die Grundlage für den Zugang zu neuen Schichten und Aufträgen. Chris, ein US-amerikanischer IT-Arbeiter, der auf der Suche nach einem Job in Berlin bei Deliveroo gelandet ist, erklärt: „When you want shifts, it’s annoying if you have bad statistics.“ (Interview, August 2019) Im Falle von kurzfristigen Terminen, Krankheit oder schlechtem Wetter steht Chris vor der Wahl, entweder trotzdem zu arbeiten oder in der folgenden Woche seinen Zugang zu Aufträgen zu gefährden: „A couple of weeks ago it was […] really bad. I was working, and it was really raining, really hard and it was kind of like a storm. And it wasn’t even safe to ride. So I went home early and it still affected my statistics.“ (ebd.) Sowohl das Zurückgreifen auf die Kundschaft als ‚Ko-Management‘ als auch das Management über Apps und Algorithmen zielen auf ein System, das weitgehend automatisiert funktioniert und daher kaum angestelltes Personal für Betreuung und Management von Arbeiter_innen und Kundschaft verlangt. Digitale Technologie erlaubt dabei die präzise Organisation, Kontrolle und Vermessung der Arbeit der im Stadtraum verteilten Fahrradkurier_innen, Taxifahrer_innen und Paketlieferant_innen in einer Weise, die vorher nur in der disziplinären Architektur einer Fabrik denkbar war. Nun erfolgt sie aus der Ferne und weitgehend automatisiert – die Plattform als „digitale Fabrik“ (Altenried i. E).

    Das generelle Ziel von Plattformunternehmen ist es, ihre Fixkosten (für Arbeit und Produktionsmittel) möglichst weit zu senken. Der Rückgriff auf solo-selbstständige Arbeiter_innen, die mit ihren eigenen Fahrrädern oder Autos unterwegs sind, führt im Zuge der Digitalisierung der Arbeitsorganisation zur Renaissance einer eigentlich als weitgehend historisch betrachteten Lohnform: dem Stücklohn. In der Geschichte des Kapitalismus an den Rand gedrängt, wenn auch nie ausgestorben, sind Stücklöhne in der heutigen Gig Economy ein zentrales Mittel, das einerseits unternehmerische Risiken auf die Arbeiter_innen abwälzt und andererseits deren Leistungskontrolle und Disziplinierung dient. Die Arbeiter_innen werden nur für die einzelnen Aufträge bezahlt, nicht für eine festgesetzte Arbeitszeit. So verursachen sie bei Auftragsflauten keinerlei Kosten für die Unternehmen. Gleichzeitig werden auch die Kosten für Schichtplanung und Arbeitswege auf die Arbeiter_innen abgewälzt. Dies ist zum Beispiel ein Problem für Helpling-Arbeiter_innen, deren Arbeitsorte in der ganzen Stadt verteilt sein können, wie die bereits zitierte Camila erklärt: „A lot of time is lost between transfers, in the train, in the bus […] Today from seven in the morning to three in the afternoon, I didn’t stop. And at the end of the day, the second house for two hours paid me 15 euros, and the first one, I think, was 19.“ (Interview, Januar 2020)

    Stücklöhne funktionieren zugleich als Disziplinierungsinstrument und können so die direkte Kontrolle über den Arbeitsprozess ersetzen. So wirkt sich etwa die Geschwindigkeit eines Deliveroo-Kuriers direkt auf seinen Stundenlohn aus. Die Stücklöhne sind meist flexibel, das heißt sie ändern sich häufig, werden vielfach in Echtzeit an Nachfrage und verfügbare Arbeiter_innen angepasst. Bei Deliveroo ist die Distanz zwischen Abholort und Lieferziel ein zentraler Faktor der Entlohnung. In der Folge müssen die Fahrer_innen jedes Mal, wenn ihnen in der App ein Auftrag angeboten wird, mehrere Faktoren (generelle Nachfrage, potenzielle Wartezeit im Restaurant, Schwierigkeit des Anfahrtsweges, Endpunkt der Lieferung etc.) abwägen, um zu entscheiden, ob es sich für sie lohnt, den Auftrag anzunehmen. Jeder einzelne Auftrag ist stets eine kleine Wette darauf, dass es sich lohnen wird.

    Die Plattform Helpling erlaubt es den darauf angemeldeten Putzkräften, ihren Stundenlohn innerhalb einer vorgegebenen Spanne selbst festzulegen. Von diesem Lohn zieht Helpling dann etwa 30 Prozent Vermittlungsgebühr ab. Dadurch stehen die Arbeiter_innen der Plattform in direkter Konkurrenz zueinander um die begrenzten Putzaufträge. Insbesondere Arbeiter_innen mit wenigen oder schlechteren Kund_innenbewertungen können es sich nicht erlauben, ihre Stundenlöhne zu hoch anzusetzen, da sie sonst keine Aufträge mehr erhalten und im Niemandsland der Plattform verschwinden. Natalia, eine weitere Helpling-Arbeiterin aus Argentinien, beschreibt diese Problematik so: „I started to raise [the price] because it doesn’t give me enough money to survive, actually. So, I started to upgrade. And then there was a time when it was too high, and I didn’t get any offers, so I lowered it once again. Now I have a new model: first more clients, and then I upgrade again.“ (Interview, Januar 2020) Die Gestaltung des Profilfotos, der Klang von Namen und vergeschlechtlichte Zuordnungen sind weitere Faktoren, die bei dieser Konkurrenz eine Rolle spielen.

    Die Konkurrenz um volatile Aufträge ist in der Plattformökonomie ein globales Problem. Da selbstständige Arbeiter_innen kaum Fixkosten verursachen, gibt es für die Plattformen selbst kaum Anreize, die Zahl der bei ihnen angemeldeten Arbeiter_innen zu begrenzen, ganz im Gegenteil: Eine hohe Zahl an Arbeiter_innen bietet Plattformen wie Uber und Deliveroo die Möglichkeit, im ganzen Stadtgebiet schnellen Service anzubieten, wie Tommaso, ein Berliner Deliveroo-Fahrer analysiert: „So, their ideal condition would be to have a lot of workers, and then couriers doing just one delivery per hour, and the rest of the time doing nothing.“ (Interview, Juli 2019). Tommaso ist klar, dass sich seine Auftragslage aufgrund einer Zunahme an latenten Arbeitskräften jederzeit verschlechtern kann. In den meisten Ländern ist das Angebot an Arbeiter_innen größer als die Zahl der vorhandenen Aufträge. Plattformen sind meist nicht gewillt, den Arbeiter_innen eine bestimmte Anzahl an Aufträgen zuzusichern. Um der volatilen Auftragslage besser begegnen zu können, sind viele Arbeiter_innen bei mehreren Plattformen gleichzeitig angemeldet. Sie versuchen so, ein ausreichendes Einkommen zusammenzubringen. Selbst wenn die Auftragslage, wie bei Tommaso gut ist, ist das noch keine Garantie für die Zukunft. Der Fahrer reflektiert darüber:

    „The problem was actually, there was no guarantee actually for, no protection as a worker, let’s say. So, also there was no guarantee actually, the company would keep the same level of average of deliveries per hour. And there was no control actually over how many people were employed. And basically, I could be fired for overnight. The same thing, flexibility, also in their case, so like the dark side of flexibility.“ (Interview, Juli 2019)

    Im selben Interview betont der 38-jährige Fahrer aber auch die „hellen“ Seiten der Flexibilität. Seit er vor über zehn Jahren aus Norditalien nach Berlin gekommen ist, arbeitet er als selbstständiger Stadtführer. Seine vier Jahre bei Deliveroo erlaubten ihm ein gutes Zusatzeinkommen, besonders im Winter, wenn weniger Besucher_innen nach Berlin kommen. Wie Tommaso kritisieren viele Plattformarbeiter_innen die Prekarität dieser Existenzweise. Gleichzeitig betonen sie aber, dass diese Arbeit auch ihnen eine flexible Arbeitszeitplanung ermöglicht. Digital organisierte Plattformarbeit funktioniert in diesem Sinne für manche auch als Ergänzung zu anderen Einkommen oder als Zwischenlösung. Doch niemand möchte langfristig oder ausschließlich davon abhängig sein. Während für den italienischen Stadtführer Deliveroo als Zusatzeinkommen funktioniert hat, haben viele andere Plattformarbeiter_innen häufig weniger Alternativen und sind vollständig auf bestimmte Plattformen angewiesen.

    Krankheit oder Unfälle stellen eine zusätzliche ständige Bedrohung dieser prekären Kalkulation dar. In den meisten Fällen bedeuten sie einen hundertprozentigen Verdienstausfall. Dem stehen in der Regel kaum Ersparnisse gegenüber. Joaquín, ein Helpling-Arbeiter aus Chile, erläutert: „I would not like to get sick because you practically lose money, you cannot work, there is no security. It is a problem to get sick and it is a problem that you have to solve.“ (Interview, Dezember 2019) Arbeitsunfälle stellen dabei ein besonderes Problem dar, da viele der Arbeiter_innen nur unzureichend versichert sind. Deswegen versuchen sie, Arbeitsunfälle als private Unfälle darzustellen oder sie suchen bewusst keine medizinische Hilfe, wie Sofía, eine spanische Deliveroo-Fahrerin, schildert:

    „I had a crash in November, a pretty big bad crash. I didn’t work for like three weeks. And I have like the European [health insurance] card, but yeah, of course, you have like nothing covered. I ride fixed, and I was going down a hill, and the chain came out of place. So yeah, it was pretty bad. And I was like: ‚I’m not calling an ambulance.‘“ (Interview, August 2019)

    Während einige Arbeiter_innen bewusst darauf verzichten, sich zu versichern, weil dies ihre Einkünfte schmälern würde, liegt es bei vielen häufig an mangelnden Kenntnissen der entsprechenden Gesetze und Regularien sowie ihrer eigenen Rechte. Dies gilt insbesondere für migrantische Arbeiter_innen, für die das deutsche Sozialsystem sowie gesetzliche Regelungen zu Anmeldung, Selbstständigkeit und Versicherung oft auch sprachlich kaum zugänglich sind.
    Migration: Plattform-Mobilitäten

    „But at the same time, this is the only option that the immigrants or people from Chile or people from India have. Like they cannot work anywhere else. So, even though the work conditions are shit, they – it’s the only thing people have, yeah, the only opportunity. So, for me, I was really happy with it. And as long as I didn’t get hit by a car, everything was going to be okay.“ Bastián, Deliveroo-Arbeiter aus Chile (Interview, August 2019)

    Plattformarbeit ist vorwiegend migrantische Arbeit. In unseren vorherigen Arbeiten haben wir stets betont, dass Arbeit grundsätzlich nicht ohne die sie konstituierende Mobilität gedacht werden kann (Altenried et al. 2017, Bojadžijev 2020). Dennoch ist die Verbindung zwischen Arbeit und Mobilität historisch unterschiedlich und muss folglich immer wieder neu bestimmt werden. Unsere aktuelle Untersuchung zeigt, dass sowohl in Berlin als auch in den meisten anderen europäischen Städten die deutliche Mehrheit der auf den verschiedenen Plattformen Arbeitenden (oft relativ frisch) zugezogen sind. Während dies bei Uber in Berlin viel mit der langen Migrationsgeschichte des Taxigewerbes in Deutschland zu tun hat, arbeiten bei Deliveroo und Helpling insbesondere junge Migrant_innen, die erst vor Kurzem in die Stadt gezogen sind, etwa aus Lateinamerika oder Südeuropa.

    Für viele jüngere Migrant_innen ist Plattformarbeit eine Möglichkeit, direkt nach der Ankunft in Berlin Geld zu verdienen. Die Plattformen verlangen nur ein Minimum an Papieren und da angemeldete Arbeiter_innen keine Fixkosten verursachen, nehmen Plattformen oft alle, die sich bewerben – weitgehend ohne Bewerbungsverfahren, meist ohne Qualifikationsanforderungen und ohne Anlernphase. Die größte Hürde, an andere Jobs zu kommen, sind für die meisten dieser Migrant_innen ihre fehlenden Deutschkenntnisse. Ohne diese verringert sich die Auswahl an verfügbaren Arbeitsmöglichkeiten deutlich; ohne gute Englischkenntnisse sind sie noch weiter eingeschränkt. Die Apps der Plattformunternehmen sind dagegen meistens mehrsprachig und erlauben so auch einen Arbeitseinstieg ohne englische oder deutsche Sprachkenntnisse.

    Insbesondere für junge Migrant_innen aus Südamerika, die meist mit einjährigen Visa einreisen, ist die Plattformarbeit eine gute Möglichkeit, den eigenen Lebensunterhalt „in der Migration“ zu verdienen. Für manche wird diese Arbeit zu einem eingeplanten Teil ihrer Migrationsprojekte und stellt so etwas wie eine „Migrationsinfrastruktur“ (Xiang/Lindquist 2014) für mobile Arbeiter_innen dar. Bastián, der bereits zitierte junge Chilene, antwortet auf die Frage, inwieweit Plattformen seine Entscheidung nach Berlin zu kommen, beeinflusst haben:

    „It’s quite known that both Helpling and Deliveroo are the easy jobs to apply to when you come with a visa, because you only have one year, and this is very immediately. You don’t need that much papers, and you don’t need to speak German. So, yeah, I always thought that it was an option working as Deliveroo, even when I was in Chile.“ (Interview, August 2019)

    Viele migrantische Berliner Plattformarbeiter_innen berichten, dass die Möglichkeit, über Plattformen einen schnellen Einstieg in den Arbeitsmarkt zu finden, ihnen bei ihren Migrationsplänen Zuversicht gegeben hat. Hinzu kommt, dass einige bereits in ihren Heimatländern für Plattformen gearbeitet haben, teilweise sogar für dieselben wie in Berlin. Sie wissen also bereits, wie diese funktionieren. Manche von ihnen haben mittlerweile sogar in mehreren Ländern für unterschiedliche Plattformen gearbeitet und organisieren so ihre transkontinentale Mobilität.

    Nicht wenige dieser migrantischen Plattformarbeiter_innen haben Universitätsabschlüsse und hoffen darauf, im Laufe der Zeit Arbeit in dem Bereich zu finden, in dem sie ausgebildet wurden. Gustavo, ein Stadtplaner aus Peru, der bei Helpling arbeitet, schildert dies so: „While I look for work in my master’s degree, to survive I am working, because, really, if you are fast, you earn more than in a café or restaurant.“ (Interview, Januar 2020) So wie Gustavo nennen die meisten jüngeren Plattformarbeiter_innen Jobs in Cafés oder Restaurants als mögliche Alternative zur Plattformarbeit. Die dortigen Arrangements sind meist ähnlich (schlecht) bezahlt und oftmals noch informeller und prekärer. Deswegen erscheint die per App vermittelte Arbeit ihnen oft als die bessere Option.

    Die wenigen Alternativen für migrantische Arbeiter_innen kontextualisieren deren ambivalente Bewertung von Plattformarbeit in den stratifizierten urbanen Arbeitsmärkten. Viele Sektoren, in denen Plattformen in den letzten Jahren eine Rolle zu spielen begannen – insbesondere im Dienstleistungsbereich –, sind historisch von flexibilisierten Arbeitsverhältnissen geprägt. In ihnen sind überdurchschnittlich häufig migrantische und weibliche Arbeiter_innen tätig. In ihrer Analyse der „Global City“ London, diagnostizieren Jane Wills und ihre Kolleg_innen eine Verstärkung, aber auch eine neue Qualität dieser Tendenz. Sie sprechen von einer „neuen migrantischen Arbeitsteilung“ und bezeichnen damit eine Stratifizierung des Arbeitsmarktes, bei der sich Migrant_innen vorwiegend am unteren Ende finden: „While migrants have long populated the lower echelons of the London labour market, supplying the workers who do the dirty, dangerous and difficult jobs, we posit that something new has been going on over the past two decades or so. Most clearly in relation to its rise to global-city status, London has become almost wholly reliant on foreign-born workers to do the city’s ‚bottom-end‘ jobs.“ (Wills et al. 2010: 1). In jüngerer Zeit spielen in dieser Dynamik digitale Plattformen eine wichtige Rolle. Nicht von ungefähr wurde Deliveroo 2013 in London gegründet. Aus der Perspektive nationaler Arbeitsmärkte mögen die Arbeitsverhältnisse bei digitalen Plattformen oft irregulär erscheinen. Aus der Perspektive migrantischer Arbeit sind sie jedoch Teil einer langen Geschichte hyper-flexibler, prekärer und durch Überausbeutung gekennzeichneter Arbeitsverhältnisse für mobile Bevölkerungen.

    Gerade für Berlin – kontinuierliches Ziel verschiedenster Migrationsbewegungen – kann die Rolle migrantischer Arbeit nicht nur im Bereich digitaler Plattformen nur schwer überschätzt werden. Plattformen profitieren von den jungen, oft hochqualifizierten migrantischen Arbeiter_innen und nehmen deren heterogene Mobilitätspraktiken auf. Auch wenn die individuellen Geschichten und Motive der Migration sehr verschieden sind, zeigt sich in vielen Städten ein ähnliches Bild wie in Berlin: Es sind Migrant_innen, die den Großteil der On-Demand-Arbeiter_innenschaft der Plattformen stellen. Das gilt auch über Europa hinaus. Auf die Frage, wie die Arbeit bei Essenslieferplattformen in seiner Heimatstadt Santiago de Chile funktioniert, analysiert Tomás, ein Berliner Deliveroo-Fahrer, eine ähnliche Form der migrantischen Arbeitsteilung:

    „You see in Chile, it has the same effect as here. A lot of people from Colombia and Venezuela are working there. So, it’s like a job that is accessible to them. It’s just like the same with us, like another country that is coming with difficulties in terms of economics and opportunities.“ (Interview, Juli 2019)

    Die von uns untersuchte Plattformarbeit in Berlin bietet als eine Art Mikrokosmos Einblicke in globale ökonomische und politische Krisen der jüngeren Vergangenheit. Von den Plattformarbeiter_innen kann man ebenso Geschichten über den Krieg in Syrien oder die Währungskrise in Argentinien hören wie über die Verwerfungen der Eurokrise und der Austeritätspolitik in Südeuropa. So berichtet etwa die 22-jährigen Gabriela, dass sie sich in Berlin mehr Chancen auf dem Arbeitsmarkt erhofft als in ihrer Heimat Barcelona:

    „To work in Spain is not good. You don’t get more than 10 euros per hour. You don’t get more. I was working in a restaurant by black. But I was working as dishwasher. But there was also the chef and the waitress. And we all win 5.50 euro per hour, we all.“ (Interview, Mai 2019)

    Gabriela arbeitet sowohl für Deliveroo als auch für Helpling. Um ihre Miete zu finanzieren, zieht sie gelegentlich zu ihrem Freund und vermietet ihre Wohnung unter der Hand für einige Tage über Airbnb: Leben unter Bedingungen des Plattform-Urbanismus.

    Digitale Plattformen verändern die Welt der urbanen Arbeit umfassend. Das gilt nicht nur, aber in besonderer Weise für Migrant_innen. Deren Mobilität, Prekarisierung und Flexibilisierung bildet die Grundlage derartiger Arbeitsverhältnisse in der digitalen Ökonomie. Während die Arbeit auf der Putzplattform Helpling unsichtbar und in privaten Räumen bleibt, sind die Fahrer_innen der Essenslieferdienste oder die inzwischen mehrere Tausend Uber-Taxis aus dem Stadtbild Berlins kaum noch wegzudenken. Das lässt wiederum darauf schließen, dass sich mit der Transformation der Arbeit auch Praktiken und Muster urbanen Konsums, transnationaler Mobilität und sozialer Reproduktion verändern – und damit der urbane Raum selbst. Neben den bisher genannten Plattformen müssen noch viele weitere als Teil dieser Veränderung berücksichtigt werden: von Airbnb bis Google, von TripAdvisor bis Amazon. Deswegen wollen wir im Folgenden unseren Blick über die Plattformarbeit hinaus richten und diesen emergenten Plattform-Urbanismus grob skizzieren.

    3. Plattform-Urbanismus: Geisterküchen und On-Demand-Geografien

    Kehren wir zurück zu dem virtuellen Restaurant in Berlin-Kreuzberg im Juni 2019, von dem der Deliveroo-Kurier die Bestellung abgeholt hat. Es liegt versteckt im zweiten Hinterhof. Wer sich hier nach einem konventionellen Restaurant umschaut, wird lange suchen müssen. So wie der Kurier, als er zum ersten Mal hier eine Bestellung abholte. Neben einer unscheinbaren schwarzen Tür hängt ein dezentes Schild mit dem Firmennamen und den Logos gleich mehrerer in Berlin tätiger Essenslieferdienste. Zahlreiche Fahrradkuriere gehen ein und aus. Hinter der Tür öffnen sich die Räume zur Küche. In diesen virtuellen Restaurants ist alles für die Auslieferung optimiert. Die üblichen kulturellen Insignien eines Restaurants fehlen vollständig, alles findet unter der Maßgabe von Hygiene und Effizienz statt. An einem Regal hängen zahlreiche Tablets, über die im Minutentakt Bestellungen eingehen, die irgendwo in der Stadt per App getätigt wurden. Einige der beliebtesten „Restaurants“ auf diesen Plattformen existieren tatsächlich nur in diesem Raum. In diesem Geisterrestaurant werden mexikanische Burritos, Thaicurry, vegane Hotdogs und hawaiianische Poke Bowls direkt nebeneinander gekocht. Den meisten Kund_innen wird das nicht auffallen: Die Kochstile und Nationalküchen, die hier von denselben Köch_innen zubereitet werden, treten in den Apps der Lieferdienste wie verschiedene Restaurants auf.

    Global entstehen in urbanen Kontexten immer mehr solcher Restaurants, in denen ausschließlich für die Lieferung gekocht wird. Oft werden sie als „dark kitchens“, „cloud kitchens“ oder „ghost kitchens“ bezeichnet. Weil die bestehenden Restaurants, die gleichzeitig Laufpublikum bedienen müssen, sich oft als zu ineffizient für die Anforderungen der Auslieferung erweisen und die beliebten Innenstadtlagen für solche Restaurants mit hohen Mietkosten verbunden sind, steigt die Zahl dieser Geisterrestaurants und damit die Bedeutung der sie begleitenden Geschäftsmodelle. So baute beispielsweise Travis Kalanick, der Mitgründer und ehemalige CEO von Uber, die Firma Cloud Kitchens auf, die auf die Auslieferung optimierte „virtuelle Küchen“ an bestehende Restaurants vermietet, damit sie diese von ihren Restaurantküchen trennen können. Kitchen United, ein von Google finanziertes Start-up, bietet neben Räumen und Küchenausstattung auch Software für Lieferküchen an und verspricht dabei eine Einsparung von 75 bis 80 Prozent des Personals im Vergleich zu herkömmlich organisierten gastronomischen Küchen.

    Auch die Lieferplattform Deliveroo hat auf die Erfahrung reagiert, dass viele Restaurants mit der Nachfrage nach Essenslieferungen überfordert sind und das Programm „Deliveroo Editions“ aufgesetzt. So stehen beispielsweise auf einem heruntergekommenen Parkplatz im Londoner Stadtteil Blackwell, der einst ein Umschlagplatz für Kleidung und Wolle war, zehn fensterlose Container in den Farben der Plattform. In jedem dieser kleinen Container arbeitet das Küchenpersonal beliebter Restaurants aus der Umgebung und kocht Essen – ausschließlich für die Auslieferung, etwa in die benachbarten Bürotürme in Canary Wharf, einem früheren Teil des Hafens, der jetzt ein neues Finanzzentrum ist.

    Die Container, die, abgesperrt durch Metallzäune unter den Schienen der Hochbahn stehen und mit Flutlicht beleuchtet werden, bieten ein eher trostloses Bild. Das Personal beschwert sich über die Temperaturen in den fensterlosen Containern: Je nach Jahreszeit ist es zu kalt oder zu heiß. In anderen Londoner Stadtteilen oder in anderen Städten Großbritanniens, Australiens, Frankreichs oder in Hongkong, in denen es solche Geisterküchen gibt, nutzt „Deliveroo Editions“ alte Warenhäuser oder Fabrikgebäude. Neben der großen Kapazität und den geringen Mieten sind effiziente Abläufe ein zentraler ökonomischer Faktor dieser „virtuellen Küchen“. Zur Projektierung solcher Editions-Küchen nutzt Deliveroo die Daten aus Millionen vorhergegangener Bestellungen. Mit diesen lasen sich unter anderem die Nachfrage nach bestimmten Restaurants und Kochstilen für potenzielle Standorte bestimmen. Die Editions-Küchen sowie die zunehmende Automatisierung und Standardisierung des Kochens spielen eine wichtige Rolle für das langfristige Unternehmensziel, die gelieferten Essen preislich an die Kosten für selbst gekochtes Essen anzunähern.
    Logistische Städte und neuer Plattform-Urbanismus

    Diese Entwicklungen zeigen, dass Plattformen wie Deliveroo Teil tiefgreifender Veränderungen sind, die nicht nur die Welt der Arbeit betreffen, sondern auch die Transformation des urbanen Raums. Produktion und Konsumption von Essen sind ein wichtiger Faktor, der den urbanen Raum, seine Kultur und seine Sozialität prägt, insbesondere in Innenstädten. Im Kontext einer sich immer mehr verbreitenden On-Demand-Logik verändert sich jedoch nicht nur das Essensverhalten, sondern auch das Konsumverhalten insgesamt. Immer mehr Waren – von Büchern über Käse zu Waschmaschinen – werden bis an die Haustüre geliefert. Die logistischen Prozesse bei der letzten Meile der Auslieferung werden dabei immer wichtiger; die Anforderungen an Geschwindigkeit, Flexibilität und Effizienz steigen. Amazon benötigt beispielsweise seit einigen Jahren in den Innenstädten neue Distributionszentren, um seine Prime-Kundschaft zu beliefern, die teilweise mit „Same Hour“-Lieferversprechen umworben wird. In Berlin entstanden neue städtische Amazon-Distributionszentren zuerst am Kurfürstendamm und später in Tegel. Diese neuen, innerstädtischen Lieferzentren tauchen jüngst in vielen größeren Städten auf. Sie ergänzen die großen Distributionszentren, die Amazon normalerweise an strukturschwachen und oftmals von hoher Arbeitslosigkeit gekennzeichneten Orten in der Peripherie von Städten platziert, um Miete und Lohnkosten zu sparen – wie in Brieselang bei Berlin.

    In ihrem Buch Learning from Logistics spekuliert die Urbanistin und Architektin Clare Lyster, dass die Logistik inzwischen zum zentralen Paradigma der Stadtplanung geworden ist, da Ströme von Menschen, Waren und Daten eine immer größere Bedeutung bekommen. Um diesen neuen Urbanismus zu verstehen, schlägt Lyster vor, Zeit und Effizienz als die wichtigsten Vektoren der Urbanisierung zu begreifen und fordert uns auf: „Hypothesize that time is the most critical attribute of city making, reconceptualise the city as integrated service platform rather than a series of figural artefacts.“ (Lyster 2016: 13) Im Blick auf die logistischen Geografien der On-Demand-Logik, die Same-Day- oder Same-Hour-Versprechen der Plattformen, die variablen Lieferzonen, die Stadtbewohner_innen bestimmte Dienstleistungen ermöglichen oder sie von ihnen ausschließen oder die Heat Maps, die Nachfrage in Echtzeit darstellen und automatisch mit Anreizsystemen für Taxi- oder Lieferfahrer_innen verbinden, lassen sich die Umrisse dieser Rationalität erkennen (vgl. Altenried 2019).

    Die neuen Distributionszentren, die Geisterküchen und die von Fahrradkurier_innen und Liefervans bevölkerten Straßen sind sichtbare Ausdrücke materieller Veränderungen urbanen Lebens. Dazu kommen noch viele weitere, zum Teil weniger sichtbare Plattformen. Man denke an die versteckten Geografien urbaner Reproduktionsarbeit und deren Re-Organisation über Plattformen wie Helpling oder Care.com (Altenried/Dück/Wallis 2021), an WeWork – ein Start-up, das Co-Working-Spaces und Büroflächen kurzfristig vermietet – oder an die omnipräsente Ferienwohnungsplattform Airbnb mit ihren teils drastischen Auswirkungen auf Immobilienmärkte, Praktiken des Wohnens und Vermietens sowie auf Gentrifizierungsprozesse. Ein weiteres Beispiel sind Uber, ShareNow, Lime und ihre Effekte auf urbane Mobilität. Manchmal scheint es, als gäbe es keinen Sektor urbanen Lebens, der sich nicht „uberisieren“ ließe. All diese Plattformen interagieren mit den vorhandenen städtischen Ökonomien und Infrastrukturen und transformieren diese zum Teil drastisch. Plattformen spielen auch eine wichtige Rolle beim Aufstieg der sogenannten Smart City. Der Begriff bezeichnet ein Ensemble aus Technogien, Diskursen und neuen Formen der Inwertsetzung des Urbanen, in dem große Plattformen und Technologieunternehmen eine wichtige Rolle spielen.

    Wie lassen sich diese komplexen Entwicklungen analysieren und konzeptualisieren? Hier kommt der Begriff des Plattform-Urbanismus ins Spiel, wie das gleichnamige Buch von Sarah Barns (2020), der digitale Roundtable der Zeitschrift Mediapolis (Rodgers/Moore 2018) oder der Schwerpunkt der Zeitschrift Urban Geography (Sadowski 2020) zeigen. Weder gemeinsam noch einzeln liefern diese Debattenbeiträge einen kohärenten Theorieansatz oder einen fertigen analytischen Rahmen. Sie bieten aber Ansatzpunkte für ein Nachdenken über die neueren Entwicklungen und die Urbanisierung des digitalen Kapitalismus. Der Begriff des Plattform-Urbanismus erlaubt einerseits eine Analyse der Verräumlichung von Plattformen und der Geografien des Plattform-Kapitalismus (Srnicek 2016). Der Blick auf die Geografie von Plattformen zeigt andererseits, dass diese meist ein dezidiert urbanes Phänomen sind.[3] Uber, Deliveroo oder Helpling können ihre Netzwerkeffekte am besten im verdichteten Raum der Stadt entfalten. Hier, wo sie auf mobile, prekäre und flexibilisierte Arbeit zurückgreifen können, entwickeln sie ihre Dynamik.

    Wie bereits erwähnt wollen wir die unterschiedlichen Plattformen und ihre variablen Einflüsse auf städtisches Leben nicht vereinheitlichen. Zugleich fehlt es hier am nötigen Platz, um die Umrisse einer Theorie des Plattform-Urbanismus vertieft zu diskutieren. Dennoch erscheint uns die Infrastrukturwerdung von Plattformen als möglicher Ausgangspunkt für solche Überlegungen zentral zu sein. Wie wir gezeigt haben, zielen die meisten Plattformen auf unterschiedliche Weisen darauf ab, unverzichtbare Infrastrukturen des Alltagslebens zu werden. Die beobachtbare Plattformisierung von Infrastruktur und die Infrastrukturisierung von Plattformen (vgl. Plantin et al. 2018) lassen sich dementsprechend vielleicht als die zentrale Wirkungsweise von Plattformen auf den urbanen Raum fassen. Die Diskussion des Plattform-Urbanismus im Kontext der digitalen Re-Konfiguration räumlicher und informationeller Infrastruktur (Easterling 2014, Bratton 2016) erschließt auch eine politische Kritik der plattformgetriebenen Transformation des urbanen Raums. Schließlich zeichnet sich die Plattformisierung städtischer Infrastruktur fast immer durch eine massive Ökonomisierung dieser Infrastrukturen aus. Zudem geht sie mit einer Verschärfung existierender Ungleichheiten und der immer weitergehenden Inwertsetzung neuer Bereiche urbanen Lebens einher. Das aggressive Vorgehen von Plattformen wie Uber und Airbnb sowie die Probleme verschiedener Städte, sich dagegen zu wehren, markieren die Relevanz dieses Phänomens. Die Arbeitskämpfe auf verschiedenen Plattformen oder der breite Widerstand gegen Airbnb mit seinen globalen Auswirkungen zeigen allerdings auch, dass der Prozess der Plattformisierung der Stadt nicht linear und unwidersprochen verläuft. Auch die Algorithmen der Arbeitsplattformen sind nicht allmächtig, Arbeiter_innen finden immer wieder Lücken und Praxen, um die Algorithmen zu ihrem Vorteil auszutricksen. Obwohl die Plattformen selbst gerne den Anschein erwecken, ist die Plattformisierung keineswegs ein lückenloser, unumkehrbarer und allumfassender Prozess, sondern praktisch auf jeder Ebene umkämpft und kontingent.

    4. Schluss: Berlin, März 2020

    Im Vergleich zur eingangs beschriebenen Szene hat sich viel verändert. Nur wenige Wochen später, im August 2019, hat die Plattform Deliveroo ihr Deutschlandgeschäft eingestellt. Über die Gründe lässt sich nur spekulieren. Die circa 1.000 Berliner Fahrer_innen der Plattform waren davon völlig überrascht. Wenige Tage bevor die Entscheidung öffentlich bekannt wurde, hatten alle Deliveroo-Fahrer_innen eine Nachricht erhalten, dass im Büro neue Ausrüstung für sie zur Abholung bereitliege. Kurz darauf folgte eine E-Mail, die das Ende der Plattform zum Ende der Woche ankündigte. Der spontane Rückzug löste bei vielen Unglauben und Panik aus, bedeutete er doch für sie plötzliche (Teil-)Arbeitslosigkeit und massive finanzielle Einbußen. Er verdeutlichte so auf drastische Weise die enorme Prekarität der Plattformarbeit. Die Einstellung verweist darauf, dass die meist risikokapitalfinanzierten Interventionen von Plattformen in den urbanen Raum auch im Falle ihres Scheiterns drastische Folgen haben können.

    Wenige Monate später, im März 2020, arbeiten viele der ehemaligen Deliveroo-Fahrer_innen beim Konkurrenten Lieferando, der inzwischen das Geschäft mit Essenslieferungen in Berlin dominiert. Ihr Alltag hat sich damit jedoch nicht wieder normalisiert. In Folge der Covid-19-Pandemie ist die Stadt im Lockdown. Obwohl Lieferando seit Beginn der Krise mit „kontaktloser Lieferung“ wirbt, sind die Fahrer_innen erheblichen gesundheitlichen Risiken ausgesetzt. Sie schwanken zwischen der Angst, sich durch die zahlreichen Kontakte mit der Kundschaft und in Restaurants anzustecken und der Befürchtung, dass ihre Tätigkeit eingestellt wird. Lieferando versprach zwar Schutzausrüstung, lieferte diese aber zur Verärgerung vieler Fahrer_innen wochenlang nicht aus. Im Gegensatz zu Deliveroo sind die Fahrer_innen bei Lieferando per Minijobs oder mit anderen Teilzeitverträgen angestellt. So stehen sie bei der Befürchtung sich anzustecken immerhin vor der Wahl, Urlaub zu nehmen oder Fehlzeiten anzuhäufen. Solo-selbstständige Arbeiter_innen anderer Plattformen haben keine derartige Absicherung. Arbeiter_innen von Helpling berichten, dass die Aufträge seltener werden und sie ohne Schutzausrüstung Angst haben, die Wohnungen der Kund_innen zu betreten. Wie unzählige Plattformarbeiter_innen auf der ganzen Welt stehen sie derzeit vor der Wahl, entweder auf Einkommen zu verzichten oder ihre Gesundheit aufs Spiel zu setzen. Hier zeigt sich besonders deutlich das stratifizierte Risiko in Zeiten der globalen Pandemie. Für mobile Bevölkerungen gilt dies sowohl hinsichtlich ihrer Arbeit als auch ihres prekären Zugangs zur Gesundheitsversorgung.

    Auch wenn einige Plattformen wie Airbnb und Uber während der Covid-19-Pandemie zunächst deutlich unter dem generellen Rückgang der Mobilität litten, spricht vieles dafür, dass die Pandemie auf längere Sicht zum weiteren Aufstieg der Plattformen beitragen wird. Während der ersten Lockdowns etwa in Paris und Mailand waren die Fahrer_innen von Deliveroo und anderen Lieferdiensten oft die einzigen Menschen, die noch auf den leer gefegten Straßen zu sehen waren. Im Vereinigten Königreich führten Uber, Deliveroo und Just Eat Gespräche mit der Regierung, um gegebenenfalls die Versorgung älterer Menschen zu übernehmen. Seit Beginn der Covid-19-Krise bieten viele dieser Essensplattformen zusätzlich die Lieferung von Gütern des täglichen Bedarfs an. In China führte der Ausbruch von Covid-19 zu einem Boom von Plattformen, die Essen und Lebensmittel an die Haustüren der isolierten Kund_innenschaft liefern. Auch in Deutschland ist die Nachfrage nach Lieferungen ins eigene Zuhause enorm gestiegen. Amazon stellte Hunderttausende neue Liefer- und Lagerarbeiter_innen ein, um die explodierende Nachfrage zu bewältigen. Jetzt, im Zuge der Covid-19-Krise, zeigt sich die gesellschaftliche Relevanz dieser Plattformen noch deutlicher, ebenso wie die Prekarität ihrer Arbeitsmodelle: Sie sind ein Gesundheitsrisiko für vorwiegend migrantische Arbeitskräfte, die sich damit in diesen Zeiten ihre Reproduktion sichern. Daher nimmt zugleich auch die Kritik an diesem Geschäftsmodell zu. Einige Plattformen sehen sich inzwischen genötigt, ihre Arbeiter_innen im Krankheitsfall zu unterstützen. Auch wenn diese Unterstützung Garantien und soziale Rechte nicht ersetzen können, sind sie doch Ausdruck eines politischen Drucks nicht zuletzt der Plattformarbeiter_innen selbst. Auch dieser verstärkt sich mit der aktuellen Krise weiter.

    Dieser Artikel wurde durch Publikationsmittel im Forschungsprojekt Plattform Labour in Urban Spaces (PLUS) gefördert, finanziert durch die Europäische Kommission im Rahmen des Programms Horizon 2020 (Grant agreement No. 822638).
    Endnoten

    [1]
    Es handelt sich zum einen um das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) unterstützte Projekt „Digitalisierung von Arbeit und Migration“ (Fördernummer 398798988), in dem wir (Moritz Altenried und Manuela Bojadžijev) gemeinsam mit Mira Wallis und Felix Busch-Geertsema forschen: http://www.platform-mobilities.net. Zum anderen geht es um das von der Europäischen Kommission im Rahmen des Programms Horizon 2020 geförderte Forschungsprojekt „Platform Labour in Urban Spaces“ (PLUS, Grant agreement No. 822638), in dem außer uns (Moritz Altenried, Stefania Animento und Manuela Bojadžijev) Valentin Niebler und Roxana Weger arbeiten. Die Unterstützung der Europäischen Kommission für die Erstellung dieser Veröffentlichung stellt keine Billigung des Inhalts dar, welcher nur die Ansichten der Verfasser wiedergibt, und die Kommission kann nicht für eine etwaige Verwendung der darin enthaltenen Informationen haftbar gemacht werden.
    [2]
    Sämtliche Namen von Interviewten haben wir geändert.
    [3]
    Eine Ausnahme bilden sogenannte Crowdworking-Plattformen, deren genuine Qualität darin besteht, über den gesamten Globus verteilte digitale Arbeiter_innen miteinander zu verbinden. Crowdworking-Plattformen bilden eine Art digitaler Fabrik räumlich verteilter Heimarbeiter_innen und kreieren so eine eigenständige Geografie, die sich nicht unbedingt mit den urbanen Zentren deckt.

    Autor_innen

    Stefania Animento hat ihre Schwerpunkte im Bereich Mobilität, Migration und Klasse sowie Stadt- und Gentrifizierungsforschung.

    animento@leuphana.de

    Manuela Bojadžijev interessiert sich für gegenwärtige Transformationsprozesse von Mobilität und Migration sowie von Rassismus, im Zusammenspiel mit Veränderungen von Arbeit und Alltag durch Digitalisierung und Logistik, vorwiegend in urbanen Räumen.

    manuela.bojadzijev@hu-berlin.de

    Moritz Altenried arbeitet empirisch und theoretisch unter anderem zu Digitalisierung, Arbeit, Migration, Plattformen und Logistik im globalen Kapitalismus.

    moritz.altenried@hu-berlin.de
    Literatur

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    #Berlin #Arbeit #Gigwork #Plattformkapitalismus

  • Plattform, Lieferdienst und Co. - ZDFmediathek
    https://www.zdf.de/dokumentation/zdfzoom/zdfzoom-plattform-lieferdienst-und-co-100.html
    https://www.zdf.de/assets/zdfzoom-plattformen-arbeitswelt-100~1280x720?cb=1675845020831

    Verfügbarkeit:
    Video verfügbar bis 08.02.2025

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    Für Menschen mit schlechter formaler Ausbildung oder fehlenden Deutschkenntnissen, die sich auf dem herkömmlichen Arbeitsmarkt schwertun, bieten Plattformwirtschaft und Lieferdienste die Möglichkeit, überhaupt einen Job zu finden.

    Das Prinzip: Über eine App ordert der Kunde seine Einkäufe, bestellt eine Putzhilfe oder eine Betreuungskraft. Die Vorteile: Verbraucher sparen Wege, können den günstigsten Anbieter auswählen, es entstehen neue Jobs. Die Schattenseite: Es herrscht harte Konkurrenz unter den Plattform-Arbeiter*innen, viele sind arbeitsrechtlich kaum abgesichert.

    Zwar sind viele Fahrradkuriere, sogenannte „Rider“, mittlerweile in Deutschland angestellt, jedoch haben viele befristete Verträge, anderen wird noch während der Probezeit gekündigt. Die Angst vor Job- und Einkommensverlust fährt bei vielen mit. „Wenn ich stürze und es passiert nichts Ernstes, nur etwas Schmerzen hier und da - dann ziehe ich es vor weiterzuarbeiten, statt mich krank zu melden,“ berichtet ein Rider, der nicht erkannt werden möchte. Gesteuert von einer App sind die Beschäftigten der neuen Arbeitswelt oftmals vereinzelt und austauschbar. Viele kennen ihre Rechte nicht oder scheuen sich, diese gerichtlich einzufordern, weiß Rechtsanwalt Martin Bechert. In Brüssel hat man erkannt, dass die neue Arbeitswelt bessere Regeln braucht.
    „Es kann nicht sein, dass wir einen neuen Wirtschaftszweig aufbauen, der auch seine Wichtigkeit hat, (…) und dass die sozialen Regeln dem nicht entsprechen.“, sagt EU-Kommissar Nicolas Schmit im Interview mit „ZDFzoom“-Reporter Arne Lorenz.

    #Deutschland #Arbeit #Gigwork #Plattformkapitalismus

  • In der Pampa ausgesetzt
    https://seenthis.net/messages/984861

    Am Abend vor Weihnachten wurde eine Studentin, der eine große Plattform eine Mitfahrgelegenheit für 90 Euro nach Thénac im Departement Charente Maritime vermittelt hatte, von der Fahrerin bei Thénac in der Dordogne mitten in der Ödnis und über 150 Kilometer von ihrem Reiseziel entfernt ausgesetzt. Ein Taxi brachte sie weiter in das falsche Thénac, von wo sie, um weitere 240 Euro ärmer, nach einer Nacht im Hotel mit der Bahn zum Ziel ihrer Reise gelangte.

    So kanns gehen, wenn man sich von Amateuren fahren läßt. Ein kleines Mißverständnis, und schon sitzt der Fahrgast in der Sch...
    Wo liegt eigentlich #Bergen? In #Noirwegen, #Belgien oder #Lüchow-Dannenberg?

    https://de.m.wikipedia.org/wiki/Bergen

    #Frankreich
    #Ortskunde #Verkehr #Personenbeförderung #Mitfahrzentrale #Plattformkapitalismus #Digitalisierung #WTF

  • Arbeitskämpfe in der Plattform-Ökonomie am Beispiel von Essenskurieren in China und Deutschland. 10. Dezember 2022, 09:00 - 13:30 Uhr
    https://www.rosalux.de/veranstaltung/es_detail/9L1JL

    Im Zuge der weltweiten Ausbreitung von COVID-19 seit Anfang 2020 und der
    Verhängung von monatelangen Lockdowns in vielen Staaten hat die weitgehend
    kontaktlose Versorgung der Menschen mit Lebensmitteln und zubereiteten Speisen
    durch Essenskuriere einen enormen Aufschwung erfahren. Befördert wurde die
    Expansion von Kurierdiensttätigkeiten durch die Digitalisierung, die zunehmende
    Bereiche des Alltagslebens, der Wirtschaft und Arbeitswelt in vielen Ländern der
    Welt in den letzten Jahren erfasst und die mit der sogenannten
    Plattform-Ökonomie einen eigenen Wirtschaftssektor geschaffen hat.

    Die durch digitale Plattformen vermittelte Arbeit zeichnet sich weltweit durch
    schlechte Löhne, das Fehlen von Sozialversicherungs- und Gesundheitsschutz sowie
    Repressalien gegen eine gewerkschaftliche Organisierung aus. Auch im
    Essensliefermarkt gehört die Umgehung arbeitsrechtlicher Schutzmaßnahmen zum
    Geschäftsmodell.

    Die Konferenz will Essenslieferanten aus Deutschland und China (Festland und
    Hong Kong) zu einem Austausch über Arbeitsbedingungen und Arbeitskämpfe in ihren
    Ländern zusammenbringen. Dabei wird berücksichtigt, dass die Zustellung auf
    unterschiedliche Art geschieht - zu Fuß, mit dem Fahrrad, E-Bike, Moped,
    Motorrad oder auch Auto. Der Austausch soll die Unterschiede und Gemeinsamkeiten
    aufzeigen und die Art und Weise reflektieren, wie sich in diesem Sektor
    arbeitende Menschen organisieren und wie sie international zusammenarbeiten. Für
    sie als Teil der Arbeiterklasse stellt sich die Frage ihrer Organisierung: In
    Form traditioneller oder anarchosyndikalistischer Gewerkschaften oder in
    Kollektiven auch jenseits von Gewerkschaften.

    Fragestellungen:

    ◾ Wie hat sich die Essenslieferindustrie in Festland-China, Hong Kong und
    Deutschland in den letzten Jahren entwickelt?

    ◾ Wie sehen die Arbeitsbedingungen von Essenslieferanten in Festland-China,
    Hong Kong und Deutschland aus?

    ◾ Wie haben sie Arbeitskämpfe ausgefochten und Organisationsstrategien entwickelt?

    ◾ Was sind dabei ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den zwei Ländern?

    Konferenzsprachen sind Englisch und Chinesisch. Die Veranstaltung findet mit
    englisch-chinesischer Simultanübersetzung statt.

    Anmeldung

    Erbeten wird eine schriftliche und verbindliche Anmeldung für die Teilnahme an
    der Online-Konferenz unter Angabe von Namen, Adresse, ggf.
    Organisationszugehörigkeit und E-Mail-Adresse bis spätestens Donnerstag den
    8.12.2022. Anmeldung über den Anmeldebutton auf der Veranstaltungswebseite
    <https://www.rosalux.de/veranstaltung/es_detail/9L1JL#pk_campaign=adb>. Die
    Anmeldung wird schriftlich bestätigt. Ein Zugangscode kurz vor der Konferenz
    verschickt.

    Programm

    9 Uhr
    /Peter Franke/ (Kritisches China-Forum), /Thomas Sablowski/
    (Rosa-Luxemburg-Stiftung): Begrüßung durch die Veranstalter
    *Simon Schaupp (Universität Basel): *Überblick über die weltweiten Lieferdienste
    und die Plattformökonomie

    9:20 Uhr
    /Lee Yu /(Hong Kong): Überblick zu den Essenslieferdiensten und der Lage der
    Arbeiter*innen in China

    9:35 Uhr
    /Au Gaawing/ (Riders’ Rights Concern Group, Hong Kong): Überblick zur Situation
    in Hong Kong

    9:50 Uhr
    Simon Schaupp (Universität Basel): /Überblick zur Situation in Deutschland
    /gefolgt von Fragen und Kommentaren der Teilnehmer*innen

    10:30 Uhr
    Pause
    Berichte von Aktivist*innen zu den Arbeitsbedingungen und Arbeitskämpfen

    11 Uhr
    Ein Beschäftigter eines Lieferdienstes auf dem chinesischen Festland
    *gefolgt von Fragen und Kommentaren der Teilnehmer*innen

    11:30 Uhr
    /Siutong /(Hong Kong): *Der Kampf der Beschäftigten bei Foodpanda in Hong Kong

    gefolgt von Fragen und Kommentaren der Teilnehmer*innen

    12 Uhr
    Kurze Pause

    12:15
    /Elmar Wiegand/ (Flink, Aktion gegen Arbeitsunrecht, Köln)
    /Ein Beschäftigter von Gorillas, Berlin
    /gefolgt von Fragen und Kommentaren der Teilnehmer*innen

    12:45 Uhr
    Offene Diskussion und abschließende Bemerkungen

    13:30 Uhr
    Ende der Konferenz

    Veranstaltungsleitung:

    Thomas Sablowski, Rosa-Luxemburg-Stiftung, E-Mail: thomas.sablowski@rosalux.org
    <mailto:thomas.sablowski@rosalux.org>
    Peter Franke, Kritisches China-Forum, E-Mail: forumarbeitswelten@fuwei.de
    <mailto:forumarbeitswelten@fuwei.de>

    /Die Veranstaltung findet in Kooperation mit dem Kritischen China-Forum statt./

    Veranstaltungswebseite
    https://www.rosalux.de/veranstaltung/es_detail/9L1JL#pk_campaign=adb

    #Arbeit #Plattformkapitalismus #China

  • EU-Pläne zur Plattformregulierung sind für Taxizentralen gefährlich
    https://www.taxi-times.com/eu-plaene-zur-plattformregulierung-sind-fuer-taxizentralen-gefaehrlich
    24.5.2022 von Jürgen Hartmann -

    24.5.2022 von Jürgen Hartmann - In der EU wird über eine arbeits- und sozialrechtliche Regelung für Plattformarbeitende nachgedacht. Ein erster Entwurf könnte die prekäre Situation für Uber-Fahrer verbessern und den Wettbewerb fairer gestalten. Gleichzeitig könnte es für Taxizentralen existenzbedrohend sein, wenn Funkteilnehmer als Arbeitnehmer klassifiziert werden.

    Am 9. Dezember 2021 hat die Europäische Kommission einen Gesetzentwurf vorgestellt, der die arbeits- und sozialrechtliche Einstufung jener Arbeitenden definieren soll, die für digitale Plattformen tätig sind. Das Ziel ist, rund 5,5 Millionen Scheinselbständige vor Ausbeutung zu schützen (Taxi Times berichtete).

    Seit der Veröffentlichung wird in Brüssel über den Entwurf verhandelt. Im deutschen Taxigewerbe wird er bisher kaum wahrgenommen, obwohl er zu schwerwiegenden Konsequenzen für Taxizentralen führen könnte. Der Bundesverband Taxi und Mietwagen (BVTM) steht dazu mit EU-Politikern im Gespräch und hat letzte Woche in Köln seine Mitglieder aus Landesverbänden und Taxizentralen für das Thema sensibilisiert, indem man im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Taxi Driving Innovation“ eine Diskussionsrunde mit Experten durchführte. Live vor Ort in Köln waren Prof. Steffen Roth vom Institut für Wirtschaftspolitik an der Universität zu Köln, Rechtsanwalt Herwig Kollar, Präsident des BVTM, sowie Rechtsanwalt Dr. Thomas Bezani von der Wirtschaftskanzlei Görg. Online war Tobias Müllensiefen von der EU-Kommission zugeschaltet (siehe Beitragsfoto).

    Letzterer stellte den Gesetzentwurf vor, nannte die Hintergründe und präsentierte beeindruckende Zahlen. Aktuell seien EU-weit 500 Unternehmen als digitale Plattformen identifiziert, für die 28 Millionen Menschen Plattformarbeit leisten. 92 Prozent dieser Unternehmen arbeiten mit Selbständigen, von denen wiederum 5,5 Millionen als Scheinselbständige eingestuft werden müssten. 55 Prozent der Plattformarbeiter verdienen weniger als den Mindestlohn. Man habe bei Erhebungen zudem festgestellt, dass viele Arbeitende rund neun Stunden pro Woche damit verbringen, „Arbeit zu suchen“. Dazu zählt auch die Zeit, in denen beispielsweise Fahrer für Uber und Free Now auf die nächste Fahrt warten.

    „In 12 Mitgliedsstaaten der EU gibt es 120 Gerichtsentscheidungen zum Thema Beschäftigtenstatus bei Plattformarbeitenden“, berichtete Müllensiefen. „In vielen Fällen wurde Scheinselbständigkeit festgestellt.“ All das führe zu einer Rechtsunsicherheit, und dieses Problem wolle man mit dem Entwurf angehen, der nun im EU-Parlament und im Rat beraten wird, und bei dem laut Müllensiefen sicherlich noch Änderungen vorgenommen werden.
    Dr. Steffen Roth. Foto: Taxi Times

    Dass solche Verbesserungen nötig sind, wurde während der anschließenden Diskussion deutlich, an der sich auf dem Podium der TDI ein Ökonom (Roth), ein Taxi-Experte (Kollar) sowie ein Arbeitsrechtsspezialist (Bezani) beteiligten. Prof. Roth richtete dabei den Blick auf die gesamte Plattformwirtschaft und relativierte deren Wachstumszahlen. Die 28 Millionen Plattformarbeiter würden zusammen einen Umsatz von 20 Milliarden Euro machen. Heruntergerechnet auf die einzelne Person entspräche das einem Umsatz von 60 Euro pro Mitarbeiter im Monat. Er unterstrich auch die von Müllensiefen genannte Aufteilung der Plattformarbeit in zwei Gruppen: Sechs Millionen würden eine so genannte ortsgebundene Plattformarbeit ausführen, 22 Millionen eine ortsungebundene (Online-)Tätigkeit. Zu ersterem zählen Mobilitäts-, Gastronomie oder Hotellerie-Unternehmen, zu letzteren Bereiche wie Grafikdesign, Softwareentwicklung, Übersetzungen etc.

    Roth warnte, dass zu strikte arbeits- und sozialrechtliche Vorgaben das unmittelbare Aus für viele kleine Plattformen zur Folge hätten und dass im Bereich der Online-Plattformen die Mitarbeitenden dann eben außerhalb der EU herangezogen würden. Sein Vorschlag ging daher in die Richtung, Geringfügigkeitsschwellen für die Scheinselbständigen oder geringfügig beschäftigten Arbeitnehmer einzuführen – analog zu den Geringfügigkeitsgrenzen, die man im Bereich der Lohnsteuer eingeführt hat.

    Herwig Kollar wollte sich mit der ökonomischen Zahleninterpretation indes nicht zufriedengeben. Er hielt dagegen, dass fünf der 500 genannten Plattformen mehr als die Hälfte der Vergütungszahlungen für die 28 Millionen Plattformarbeiter übernehmen. Unter diesen fünf Unternehmen stünde Uber auf Platz 1 und Uber Eats auf Platz 2. Die EU solle daher keine Regelung für die 500 Plattformen und für die Plattformarbeiter mit 60 Euro Monatsumsatz aufstellen, sondern sich auf diese Art von Plattformen konzentrieren. Damit würde man dann auch den Wettbewerbern in diesen Marktsegmenten besser helfen.

    Was Kollar hier ansprach, deckt sich mit der Zielsetzung des Gesetzentwurfes, einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen der Plattformarbeitenden. Die EU will dafür unter anderem eine „rechtliche Vermutung“ für Arbeitsverhältnisse für gewisse Arbeitsplattformen ermöglichen. Dafür wurden fünf Kriterien aufgestellt. Sind nur zwei davon erfüllt, tritt die rechtliche Vermutungswirkung ein, dass es sich bei den Mitarbeitenden der Plattform um Scheinselbständige handelt. Eine Widerlegung dieser Vermutung ist auf der Basis des nationalen Arbeitnehmerbegriffs durchaus möglich, die Beweislast liegt dann aber bei der Plattform.

    Genau diese fünf Kriterien seien für die klassischen Taxizentralen brandgefährlich, denn es werde nicht zwischen Uber und Taxizentralen differenziert, warnte Thomas Bezani das anwesende Publikum, zu dem auch viele Leiter von Taxizentralen zählten. Sowohl das Kriterium, dass eine kommerzielle Dienstleistung auf elektronischem Weg angeboten wird, als auch die Tatsache, dass diese auf Verlangen des Empfängers erbracht wird, erfüllen auch Taxizentralen, ebenso wie die Definition, dass die Fahrten durch eine Plattform organisiert werden.
    Dr. Thomas Bezani. Foto: Taxi Times

    „Drei der fünf Kriterien erfüllen auch Taxizentralen, und sie fallen damit nach heutigem Stand unter die Vermutungswirkung“, sagt Bezani. Somit gibt es nicht nur für den soloselbständigen Taxiunternehmer ein Problem, sondern auch für das Fahrpersonal der Mehrwagenunternehmer, weil auch das arbeitsrechtlich als Arbeitnehmer der Taxizentrale gesehen wird und der Mehrwagenunternehmer mit dem Vorwurf einer Ordnungswidrigkeit rechnen muss, weil er eine unzulässige Arbeitnehmerüberlassung betrieben hat. „Daher bedarf es einer Präzisierung der Richtlinien“, zieht Bezani ein klares Fazit. „So, wie es jetzt gestrickt ist, wird es für das Taxigewerbe große Probleme auslösen.“

    Kollar stimmte dem im Prinzip zu, verweist aber darauf, dass es bereits einschlägige juristische Bewertungen über die Klassifizierung einer Taxizentrale gibt. Taxizentralen seien vielerorts eine Selbsthilfeorganisation in Form einer Genossenschaft, die für anerkannt selbständige Taxiunternehmen eine Auftragsvermittlung tätigen. Es könne nicht gewünscht sein, dass solche kleinen, lokalen Selbsthilfeorganisation auf einmal in Arbeitgeberpflichten gedrängt würden. „Das würde sie vom Markt verdrängen – zugunsten von großen, international tätigen Plattformen“, sagte Kollar.
    Herwig Kollar. Foto: Taxi Times

    Sein Lösungsvorschlag lautet daher, Größenklassifizierungen einzuführen. Nur wer eine signifikant hohe Anzahl an Teilnehmern aufweist, müsste unter diese Vermutungswirkung fallen. „Damit würde man genau die Plattformen treffen, die das Gros der Probleme verursachen, und die andererseits die ökonomischen Mittel hätten, um damit umgehen zu können.“ Kollar appellierte in seinem Schlusssatz der Diskussionsrunde an die Verantwortlichen in Brüssel, darüber nochmals intensiv nachzudenken. jh

    #Taxi #Plattformkapitalismus #Taxivermittlung #Europa

  • EU-Richtlinie darf nicht für Taxis gelten
    https://www.taxi-times.com/eu-richtlinie-darf-nicht-fuer-taxis-gelten

    25.11.2022 von Jürgen Hartmann - Die Richtlinie der EU über den Umgang mit Plattformarbeitern darf nicht gleichzeitig dem Taxigewerbe übergestülpt werden. Darauf haben Taxi-Organisationen in einem gemeinsamen Brief an Mitglieder des Europaparlaments hingewiesen.

    Die International Road Transport Union (IRU) hat sich zusammen mit einer Gruppe europäischer Taxiorganisationen, die sich in Taxis4SmartMobility (T4SM) zusammengeschlossen haben, mit einem Appell an die Mitglieder des Europäischen Parlaments gewandt. Ziel ihres Aufrufs ist es, das Bewusstsein für die Risiken des aktuellen Richtlinienvorschlags für das Taxigewerbe insgesamt zu schärfen. Schließlich will die Taxibranche nicht, dass Taxizentralen mit selbstständigen Fahrern als Plattformen skaliert werden und die selbstständigen Fahrer dann als Angestellte einstellen müssen.

    Der Aufruf trägt den Titel “Halten Sie die Arbeit unserer Taxifahrer aufrecht” und beginnt mit: “Sehr geehrte Abgeordnete des Europäischen Parlaments, wir senden dieses Schreiben, um Sie auf die ernsthaften Risiken aufmerksam zu machen, die der Taxisektor durch den Vorschlag der Kommission für eine Richtlinie zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen für Plattformarbeiter darstellt.” Der Aufruf fügt hinzu, “dass unsere zahlreichen Treffen mit Abgeordneten des Europäischen Parlaments und Vertretern der Mitgliedstaaten gezeigt haben, dass diese Richtlinie nicht für Taxis gedacht war und daher nicht für Taxis gelten sollte.”

    Die beiden Gruppen weisen darauf hin, dass der von der Europäischen Kommission vorgeschlagene Wortlaut Unsicherheit über den weiten Anwendungsbereich dieses Gesetzes schafft und plädieren dafür, das Taxigewerbe von dieses Gesetz auszuklammern.

    In vielen Städten in Europa würden in den von Einzelunternehmern betriebenen Taxis mehrheitlich Taxifahrten mit Einsteigern und Winkern stattfinden, auch bei jenen Solounternehmern, die an Taxizentralen angeschlossen sind. Wenn diese nun aufgrund der EU-Richtlinie als Arbeitnehmer der Taxizentralen eingestuft werden würden, müssten sie dann auch nach den Vorgaben der Taxizentrale fahren – mit der Konsequenz, dass die Taxi-Verfügbarkeit an Halteplätzen wie Bahnhöfen, Flughäfen oder auch Krankenhäuser stark reduziert wäre.

    T4SM und die IRU begrüßen den Vorschlag der Kommission, die durch globale digitale Plattformen geschaffene Rechtslücke zu schließen und Plattformarbeitern die ihnen zustehenden Arbeitnehmerrechte zu garantieren. “Der aktuelle Text birgt jedoch schwerwiegende Folgen für die urbane Mobilität insgesamt und lässt die am stärksten gefährdeten Taxibenutzer im Regen stehen. T4SM und IRU sind der Ansicht, dass zur Gewährleistung eines sicheren und nachhaltigen Mobilitätsrahmens für alle europäischen Bürger und eines angemessenen sozialen Schutzes für alle gleiche Wettbewerbsbedingungen durch geeignete Vorschriften auf lokaler Ebene erforderlich sind.”

    Deswegen fordern die beiden Organisationen die Abgeordneten auf, die Definition von digitalen Arbeitsplattformen (DLPs) einzugrenzen, um einen einheitlichen Ansatz zu vermeiden. “Insbesondere fordern wir, dass der Taxisektor von der Definition von DLPs ausgenommen wird. Dies kann durch den ausdrücklichen Ausschluss des Taxisektors oder durch den Ausschluss kleiner und mittlerer Unternehmen (KMU) aus dem Geltungsbereich der Richtlinie erreicht werden, da die meisten Taxiunternehmen KMU sind.”

    T4SM und IRU weisen daraufhin, dass kleine und mittlere Unternehmen das Rückgrat der europäischen Wirtschaft sind und Mehrwert in allen Sektoren schaffen. “Aufgrund ihrer geringen Größe sind KMU im Allgemeinen weniger geschickt im Umgang mit der Komplexität übermäßiger Regulierung und können daher die erhöhten Kosten für die Einhaltung nicht bewältigen. Darüber hinaus erbringen Taxis eine Dienstleistung des öffentlichen Nutzens mit Verpflichtungen zur Bereitstellung von Verkehrsmitteln auf öffentlichen Straßen.” Die Organisationen warne davor dass viele Kunden als direkte Folge des aktuellen Vorschlags ausgeschlossen würden, da der Verkehr eingeschränkt würde. “Dies würde zum Ende des Taxis als öffentliche Dienstleistung führen, wie wir es heute kennen.”

    In Sachen Klärung der Kriterien für die Begründung des Arbeitsverhältnisses weisen T4SM und IRU darauf hin, dass diese Vertragsbedingungen auf dem nationalen Arbeitsrecht basieren. Folglich sind die Mitgliedstaaten und die nationalen Sozialpartner für die Arbeitsbedingungen auf der Grundlage des nationalen Sozialrechts verantwortlich. “Was den Taxisektor erfolgreich macht, ist seine Anpassungsfähigkeit an nationale und lokale Realitäten. Da Taxis nicht grenzüberschreitend verkehren, haben sie sich in Übereinstimmung mit jeder einzigartigen Kultur entwickelt, um sich an die Bedürfnisse jedes Kunden anzupassen.”

    Wie schon im TRAN-Ausschuss des Europäischen Parlaments mit der Annahme des Kompromissänderungsantrags 9 allgemein vereinbart wurde, so T4SM und IRU, “ermöglicht die Regulierung auf lokaler Ebene Städten und Ländern, bestehende und neu entstehende Herausforderungen auf lokaler Ebene am besten anzugehen, wobei die verfügbare Infrastruktur genutzt wird, um das Beste bereitzustellen: Dienstleistungen für die Bürger.”

    Zusammengefasst: “Unsere Herausforderung besteht darin, weiterhin ein innovatives Wirtschaftsmodell anzubieten, das mit großen multinationalen Unternehmen konkurrieren kann, nachhaltig ist und hohe Standards in Bezug auf Effizienz, Pünktlichkeit und Sicherheit garantiert. Taxis sind seit Jahrzehnten in ganz Europa untrennbar mit dem Alltag verbunden. Sie sind der Knotenpunkt des öffentlichen Verkehrs und gewährleisten Mobilität für alle, einschließlich Studenten, Senioren, Touristen, Pendler und Menschen mit besonderen Bedürfnissen. Sie haben schon immer eine Schlüsselrolle bei der Bereitstellung eines wesentlichen öffentlichen Versorgungsdienstes in städtischen, stadtnahen und ländlichen Gebieten gespielt.”

    “Wir bitten das Europäische Parlament, unsere Bedenken zu berücksichtigen und sicherzustellen, dass der Taxisektor nicht in den Geltungsbereich der Richtlinie fällt. Wir zählen darauf, dass Sie diese Empfehlungen annehmen und eine sichere, effiziente und nachhaltige Zukunft für die Taxibranche gewährleisten.“ wf

    Zusatzinfo der Redaktion: Die europäische Organisation Taxis4SmartMobility, die aus Deutschland unter anderem vom Zentralenverbund Taxi Deutschland mitfinanziert wird, ist vor kurzem als Mitglied in die Expertengruppe für städtische Mobilität aufgenommen worden. Sie wird dort von T4SM über ihren Vorsitzenden, dem Münchner Taxiunternehmer Gregor Beiner vertreten.

    #Taxi #Plattformkapitalismus #Taxivermittlung #Europa

  • TAXI GRUPPE BERLİN Public Group | Facebook
    https://www.fuckbk.com/groups/786586654752974

    Hat den werten Kolleginnen und Kollegen eigentlich mal jemand gesagt, dass für Kommunikation Facebook das ist, was Uber fürs Taxigewerbe ist?

    Description

    Die Taxi Gruppe Berlin ist für den Austausch von gewerblichen Informationen, gegenseitige Hilfeleistungen und für eine gute Solidarität der Taxifahrer und Taxiunternehmer gegründet worden.
    Wir dulden in der Gruppe keine Unverschämtheiten bzw. Beleidigungen.
    Außerdem ist es nicht erlaubt gewerbliche Eigenwerbung zu veröffentlichen.
    Beiträge zu posten, die das Taxigewerbe nicht interessieren ist ebenso nicht gestattet.
    Postet das Mitglied trotzdem, wird beim ersten Mal ermahnt und bei der Fortsetzung müssen wir das Mitglied leider entfernen.

    Taxi Gruppe Berlin ist UNABHÄNGIG von den Verbänden und Genossenschaften

    Private - Only members can see who’s in the group and what they post
    Visible - Anyone can find this group

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    Group Rules from the Admins
    1 Sei freundlich und höflich
    Wir alle sind für einen freundlichen Umgang miteinander verantwortlich. Wir sollten einander mit Respekt behandeln. Diskussionen sind etwas völlig Normales, doch sollte alles im Grünen-Bereich sein

    2 Keine Hassbotschaften oder Bullying
    Jeder soll sich sicher fühlen. Bullying jeglicher Art ist nicht erlaubt, und erniedrigende Kommentare aufgrund von ethnischer Zugehörigkeit, Religion, Kultur, sexueller Orientierung, Geschlecht oder Identität werden nicht toleriert.

    3 Respektiere die Privatsphäre anderer
    Voraussetzung für den Beitritt zu dieser Gruppe ist gegenseitiges Vertrauen. Authentische, aussagekräftige Unterhaltungen machen Gruppen zu einem tollen Ort. Aber Gespräche können auch sensible und private Themen enthalten. Was in der Gruppe geteilt wird, sollte die Gruppe deshalb nicht verlassen.

    4 Keine Promotions oder Spam
    Beteilige dich aktiv am Gruppengeschehen. Eigenwerbung, Spam und nicht relevante Links sind allerdings untersagt.

    fuckbk . com - alles ist besser als Facebook

    #Taxi #Kommunikation #social_networks #Facebook #Plattformkapitalismus #GAFAM

  • taxi.eu erfolgreich in Google Maps integriert
    https://www.taxi-times.com/taxi-eu-erfolgreich-in-google-maps-integriert

    Wer über Google Maps eine Wegbeschreibung abruft, bekommt in Berlin und München seit neuestem auch ein echtes Taxi als Alternative angezeigt. Vermittelt wird an taxi.eu. Dessen Gründer Hermann Waldner gab dazu im Rahmen eines Gastvortrags während einer Taxiveranstaltung in Thüringen einige Details bekannt. 

    In Zeiten eines zunehmenden Wettbewerbs von außen muss das Taxigewerbe mehr denn je die geeigneten Maßnahmen ergreifen, um die Kundenbindung zu erhöhen. „Kunden, die unsere Taxis per Telefon bestellen, werden wir noch eine Weile behalten“ sagte Waldner gleich zu Beginn seines Vortrags. „Wir müssen allerdings auch entsprechende digitale Angebot für die jungen Fahrgäste vorhalten, sonst geht diese Generation an uns vorbei.“ Die im Jahr 2010 gegründete App taxi.eu bietet deshalb das identische Leistungsspektrum seiner externen Wettbewerber und eine deutlich höhere Reichweite.

    Dadurch sei auch die Aufnahme in Google Maps entstanden, „weil der Megakonzern realisiert hat, dass taxi.eu durch seine Vernetzungen viel flächendeckender verbreitet ist als Uber und Free Now“, berichtete Waldner als Gastredner bei der Jahresversammlung der Fachgruppe Taxi des Landesverbands Thüringen. 

    Am Beispiel eines abgebildeten Screenshots gab Waldner einen Einblick in den harten Konkurrenzkampf um das Ranking innerhalb von Google Maps. Die Abbildung zeigte, dass taxi.eu hinter den Routenvorschlägen zu Bus und Auto gleich als erster Dienst einer individuellen Personenbeförderung angeboten wurde. „Google Maps verwendet hierbei zwei Kriterien“, sagte Waldner. „Einmal den Preis, zum anderen die schnelle Verfügbarkeit eines Wagens. Als Uber und Free Now uns als dritten Wettbewerber bemerkten, haben sie sofort den Preis gesenkt und die Verfügbarkeit herabgesetzt. Free Now ist jetzt laut Anzeige stets in 2-3 Minuten am Abholort.“ Das sei ein Versprechen, das man nur sehr selten halten können, bewirke aber, dass taxi.eu jetzt meist als dritter Anbieter aufgeführt wird.

    Trotzdem habe man seit der Integration in Berlin und München eine zweieihalbfache Zunahme der App-Bestellungen beobachtet. Demnächst werde auch Hamburg aktiviert. Um weitere Städte zuschalten zu können, müsse man allerdings erst mit den dortigen Taxizentralen sprechen, weil Google für jeden App-Download fünf Euro verlange, der nachweislich über Maps durchgeführt wurde.

    #Taxi #Google #Kartografie #Taxivermittlung #Plattformkapitalismus

  • jungle.world - Fressen und gefressen werden
    https://jungle.world/artikel/2019/38/fressen-und-gefressen-werden

    19.09.2019 Von Peter Nowak -Plattformen, über die Kunden Essen bestellen können, konkurrieren hart miteinander. Leidtragende sind die Beschäftigten. Doch die Fahrerinnen und Fahrer organisieren sich nun selbst.

    Am 16. August zog sich der Essenslieferdienst Deliveroo endgültig aus Deutschland zurück. Über 1 000 Beschäftigte wurden mit einem Mal arbeitslos. Zuvor war bereits der Essenslieferdienst Foodora von Lieferando aufgekauft worden, der die wechselseitige Kannibalisierung der Lieferdienste als Sieger überstand. Für Keno Böhme, der für verschiedene Lieferdienste gearbeitet hatte, bevor er hauptamtlich begann, bei der Gewerkschaft Nahrung-Genuss- Gaststätten (NGG) die dort Beschäftigten zu organisieren, hat der Abschied von Deliveroo aus gewerkschaftlicher Sicht auch positive Auswirkungen. »Unserer Meinung nach hängt der Rückzug damit zusammen, dass das Modell der Scheinselbständigkeit der Fahrer nicht funktioniert hat«, sagte er der Jungle World. Wie er haben auch andere Kuriere, sogenannte Rider, mittlerweile den Wert gewerkschaftlicher Organisierung erkannt.

    Die einzige Chance für ein kollektives Unternehmen sieht die FAU darin, dass Menschen bereit sind, mehr für den Service zu bezahlen.

    Die NGG hatte Ende August zum dritten Riders Day nach Berlin geladen. Wichtigster Diskussionspunkt waren die Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten nach der Übernahme von Foodora durch Lieferando. Die Gewerkschafter wollen durchsetzen, dass die Betriebsratsstruktur auch nach der Übernahme erhalten bleibt und den Ridern das Beschäftigungsverhältnis bei Foodora angerechnet wird. Davon hänge schließlich ab, ob die Fahrer erneut zwei Jahre befristet beschäftigt werden können; eine Festanstellung stehe ihnen nämlich erst nach zwei Jahren zu, betonte NGG-Sekretär Christoph Schink im Gespräch mit der Jungle World. Doch nicht alle Kuriere wollen nach dem Aufkauf von Foodora und dem Rückzug von Deliveroo eine Festanstellung bei Lieferando.

    Einige von ihnen möchten lieber ein Kollektiv gründen. Zwei Kuriere haben mit »Kolyma 2« die Idee bereits realisiert. Doch das Projekt sei so provisorisch wie der an einen russischen Film erinnernde Name und die Website, sagt Christopher M., einer der beiden Gründer von »Kolyma 2«, der Jungle World. Bisher lohnt sich das Kollektiv für die Betreiber allerdings noch nicht. Für M. ist es ein Zuverdienst zu seinem Einkommen als Softwareentwickler.

    Der alternative Kurierdienst wird vor allem am Wochenende angeboten. Kooperationspartner sind einige Restaurants und Hamburger-Läden in den Berliner Stadtteilen Kreuzberg und Schöneberg. Parallel dazu diskutiert eine größere Gruppe von rund 30 Fahrradkurieren über die Gründung eines Kollektivs mit deutlich größerer Resonanz. »Welche Form das am Ende annimmt, ob wir eine Genossenschaft gründen oder lose organisiert bleiben, ist noch nicht entschieden«, sagt M. Einig seien sich die Kuriere darin gewesen, dass sie nicht Angestellte von Lieferando werden wollen. »Weil dadurch einer der wichtigsten Werte für uns nicht mehr gegeben wäre: die Freiheit und Flexibilität. Die Schichtplanung bei Lieferando ist sehr strikt, das ist der Hauptgrund dagegen, neben der schlechteren Bezahlung«, sagte ein Rider im Onlinemagazin Gründerszene.

    Als wichtige Werte für das Kollektiv werden »Freiheit, Nachhaltigkeit, Arbeiterrechte, Gesundheit und Würde, aber auch Geld« genannt. Offen bleibt, wie und ob sich diese Werte in einem Kollektiv vereinen lassen. Vor allem dann, wenn ausdrücklich nicht ausgeschlossen wird, dass Fahrerinnen und Fahrer auch angestellt werden können. Spätestens dann muss sich zeigen, ob mit den Werten Freiheit und Flexibilität nicht einfach die kapitalistische Ausbeutung bemäntelt wird. Schließlich haben sich die Lieferdienste seit Jahren darauf berufen und konnten auch wegen der schlechten Bezahlung der Fahrer auf dem Markt erfolgreich sein.

     
    Theresa Ingendaay von der Deliverunion, einer von der Freien Arbeiter-Union (FAU) unterstützten basisgewerkschaftlichen Selbstorganisation der Fahrradkuriere, sagte der Jungle World, dass man einen hierarchiearmen ­Kollektivbetrieb, in dem alle das Gleiche verdienen, grundsätzlich befürworte. Probleme könne es aber geben, wenn die Fahrradkuriere gleichzeitig Unternehmer seien. Auch die Gefahr der Selbstausbeutung hält Ingendaay für gegeben. »Ein Kollektivbetrieb, der nicht auf Ausbeutung und Lohndumping setzt, hat dementsprechend höhere Kosten. Das bedeutet, dass die einzelnen Mitarbeiter eventuell einen niedrigen Lohn bekommen. Auch der Anspruch des Kollektivs, Mehrwegpackungen für die Lieferungen einzuführen, müsse erst seine Realitätstauglichkeit beweisen. Es besteht die Gefahr, dass diese Ideale aufgeweicht werden, wenn man konkurrenzfähig bleiben möchte und sich mit den Kosten konfrontiert sieht«, befürchtet ­Ingendaay.

    Große Konzerne wie Lieferando würden zwar mit CO2-neutralem Transport werben, dabei würden jedoch die Emissionen, die Alu-, Plastik- und auch Papierverpackungen, die innen mit Plastik ausgekleidet sind, verursachen, außer Acht gelassen. Klaus Meier von der AG Taxi in der Berliner Dienstleistungsgewerkschaft Verdi (siehe Jungle World 31/2019) sieht für seine Branche nach den Erfahrungen alter Taxikollektive keine Alternative: »Wer Taxikollektive neu beleben möchte, muss eine Antwort auf die Frage haben, wie auskömmliche Einnahmen zu erzielen sind.« Als theoretische Überlegung sind Plattformkooperativen für Meier allerdings interessant. »Die Macht der großen Plattformen beruht zum großen Teil auf der Kontrolle der Kommunikationswege. Wenn es gelingt, neben den Fragen der neuartigen Zusammenarbeit eine erforderliche kritische Masse an Teilnehmern zu erreichen und im öffentlichen Bewusstsein als die bessere Alternative wahrgenommen zu werden, können appbasierte Kooperativen durchaus eine Alternative werden.« Die dafür erforderliche poli­tische Unterstützung werden Kollektivbetriebe und Genossenschaften nach Ansicht von Meier allerdings nur erlangen, »wenn sie nicht ausschließlich als Marktteilnehmer«, sondern ausdrücklich auch als Akteure einer gesellschaftlichen Umgestaltung agierten.

    Doch der wahre Reichtum der großen Plattformen sind ihre Daten. Darüber, wie und ob diese auch in Kollektivbetrieben gesammelt und ausgewertet werden sollen, gibt es noch keine Überlegungen. Doch wer den Plattformkapitalismus ohne Big Data betreiben möchte, muss den Wettbewerbsnachteil anderweitig kompensieren.

    Die einzige Chance für ein kollektives Unternehmen, auf dem Markt zu be­stehen, sieht Ingendaay darin, dass Menschen bereit sind, mehr für die Produkte und Dienstleistungen zu bezahlen. »Es braucht Kunden, die bewusst bei einem Kollektiv einkaufen, weil sie den Zweck wichtig finden.« Die müssen sich diesen Einkauf dann freilich auch leisten können. Zielgruppe für solche gesellschaftspolitisch engagierten Kollektive ist daher auch eher die konsumbewusste Mittelschicht als die Hartz-IV-Bezieher.

    #Gigworker #Fahrradkuriere #Plattformkapitalismus

  • »Wildwest-Zustände in der Taxibranche«
    https://jungle.world/artikel/2019/31/wildwest-zustaende-der-taxibranche?page=all

    Verkehrsminister Scheuer will den Taximarkt liberalisieren. Dabei arbeiten Fahrer schon heute unter prekärsten Bedingungen, berichten die Gewerkschafter Klaus Meier und Andreas Komrowski.
    Interview von Peter Nowak

    Seit Monaten protestieren Taxifahrer gegen den Fahrdienst Uber. Worum geht es?
    Andreas Komrowski: Die Protestaktionen von Taxifahrern entzündeten sich am Vorhaben des Bundesverkehrsministeriums unter Andreas Scheuer, das Personenbeförderungsgesetz zu liberalisieren. Dabei geht es vor allem um den Punkt 1 d) eines bekanntgewordenen Eckpunktpapiers aus dem Hause Scheuer: Die Rückkehrpflicht von Mietwagen soll aufgehoben werden. Dies ist dem Konzern Uber wie auf den Leib geschneidert, da er mit Mietwagenfirmen zusammenarbeitet – die jedoch oftmals reine Subunternehmen sind, da sie nur für Uber fahren.

    Welche Rolle spielen Sie als gewerkschaftlich organisierte Taxifahrer in diesen Protesten? Komrowski: Die Proteste werden von Unternehmerverbänden wie der »Innung des Berliner Taxigewerbes e. V.«, vor allem aber von »Taxi Deutschland e. V.« unter dem Motto »Scheuerwehr« bundesweit koordiniert. Es geht ihnen um die Verteidigung eines traditionell klein- und mittelständischen Gewerbes gegen den Angriff kapitalkräftiger Großkonzerne. Durch den Kampf gegen den gemeinsamen Feind Uber wird jedoch von den Klassenwidersprüchen innerhalb des Taxigewerbe selbst abgelenkt. Das macht unser Verhältnis zu den Unternehmerprotesten schwierig. Wenn Uber sich durchsetzt, ist das Taxigewerbe zerstört und unsere Arbeit wird noch schlech­ter bezahlt, die Jobs sind weg. Wenn sich alle auf die Seite der Taxiunternehmen stellen, ist es jedoch selbst im Erfolgs­fall schwierig, streitbar Arbeitnehmerrechte gegen sie durchzusetzen. Wir weisen auf unserer Website auf die Proteste hin und verteilen vor Ort unseren Newsletter, um die Organisationsmöglichkeit bei Verdi zu bewerben.

    Thematisieren Sie auch Ausbeutung im Taxigewerbe?
    Klaus Meier: Auf niedrige Entlohnung und prekäre Arbeitsbedingungen jenseits der Legalität aufmerksam zu machen, ist Teil unserer ständigen Arbeit. Viele der Gründe dafür, dass es als Taxi­unternehmen kaum möglich ist, auf legale Art und Weise Gewinne zu erwirtschaften, sind hausgemacht. Dazu gehören die Verschiebung von Betrieben an Strohmänner circa 20 Monaten nach Betriebsgründung, um Kontrollen zu umgehen, sowie die Falschdeklaration von Arbeitsbereitschaft am Halteplatz als Pausen. Oftmals wird von Kollegen verlangt, falsche Arbeitszeit- und Lohn­abrechnungen zu unterschreiben. Staatliche Behörden zeigen von sich aus in Berlin keinerlei Interesse daran, die Ausbeutung im Taxigewerbe zumindest in die wenigen vorhandenen gesetzlichen Schranken zu weisen.

    Können Sie ein Beispiel für die schlechten Arbeitsbedingungen im Taxigewerbe nennen?
    Meier: Derzeit stellen wir in einer Artikelserie einen besonders krassen Fall von Ausbeutung in München vor, der einen Kollegen beinahe das Leben gekostet hätte. Er hatte seine Firma auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, die Bezahlung geleisteter Arbeitsstunden und Schadensersatz verklagt. Sein Vorgesetzter hatte ihn derart unter Druck gesetzt, dass der Taxifahrer sich beinahe zu Tode arbeitete. Als er sich krank meldete, wurde er entlassen. Auf unserer Website www.ag-taxi.de erzählen wir auch andere Taxigeschichten, die einen lebensnahen Eindruck von den Wildwest-Zuständen in der Taxibranche vermitteln.

    »Appsolute Ausbeutung« lautete der Titel einer Veranstaltung im Juni der »AG Taxi« zusammen mit der Kampagne »Deliverunion« im Kiezhaus Agnes Meinhold in Berlin-Wedding. Wie verändern Dienstleistungsapps Ihre Arbeitsbedingungen?
    Meier: Bereits vor mehr als zehn Jahren haben die Taxizentralen in Berlin begonnen, die Fahrtenvermittlung auf Datenfunk umzustellen. Man könnte denken, das wäre nur eine Verlagerung auf ein anderen technischen Kanal. Mit der Zeit merkten wir, dass unsere Aufmerksamkeit durch die Bedienung der Touchscreens der Vermittlungs­software mindestens so stark beansprucht wurde, wie vorher durch den Sprachfunk. Die Umstellung von Sprach- auf Datenfunk brachte auch nicht die versprochene Reduzierung von Fehlfahrten und Fahrgastklau, sondern zusätzlichen Stress, da wir wissen, dass unsere Anfahrten getrackt werden. Umwege bei der Anfahrt haben aber oft gute Gründe, etwa das Umfahren von Staus oder Baustellen.

    Wie verändert diese Technik Ihren Arbeitsalltag?
    Meier: Beim Sprachfunk war es unver­meidlich, dass alle Fahrer immer über die Auftragslage im Bilde waren, weil jeder Auftrag und jedes Gespräch für alle auf dem Kanal hörbar waren. Heute müssen wir umständlich in der App nachsehen, welche Halteplätze in der letzten Zeit »besonders gut liefen«. Nicht zuletzt konnten wir über Sprachfunk jederzeit Kollegen zu Hilfe rufen, die immer schnell zur Stelle waren, um renitente Fahrgäste zu beruhigen. Das gibt es heute überhaupt nicht mehr. Jeder ist auf sich allein gestellt.
    Seit der Einführung von GPS überwacht die Zentrale, an die in Berlin circa 5 000 von 8 200 Taxen angeschlossen sind, unsere Standorte und Fahrstrecken. Mit taxi.eu hat der Betreiber »Taxi Berlin« eine eigene App auf den Markt gebracht, mit der auch die Kunden jederzeit sehen, wo wir gerade sind.
    Mit den Apps haben zusätzliche Abrechnungs­systeme wie Paypal Einzug gehalten, die müssen wir alle bedienen können. Das hört sich einfach an, auf­grund der Vielzahl der Abrechnungsarten und der Eile, in der alles erfolgen muss, ist die Arbeitsbelastung dadurch jedoch erheblich gestiegen. Erst mit den Apps konnten neue Vermittler Billigkonkurrenz wie die Plattform »mytaxi« durchsetzen. Sie ist vor kurzem an ein Joint Venture von BMW und Mercedes-Benz verkauft worden und vermittelt nun unter der neuen Bezeichnung »free now« sowohl Taxen als auch Mietwagen. Damit wird das Taxigewerbe ­weiter unter Druck gesetzt.

    Wieso ist es trotzdem so schwer, Taxifahrer gewerkschaftlich zu organisieren?
    Meier: Die meisten Taxis wurden von selbst fahrenden Unternehmern betrieben, die sich für die Nacht- und Wochenendschichten Studierende holten. Unter diesen Umständen brauchte niemand eine Gewerkschaft. Heute sitzen in etwa 6.000 Berliner Taxis Angestellte, die weniger als den gesetzlichen Mindestlohn verdienen. Da es chon vorher keine gewerkschaftliche Präsenz im Taxigewerbe gab, und die meisten heutigen Taxibetriebe in einem gewerkschaftsfernen migrantischen Kontext gegründet wurden, liegt der Aufbau einer mächtigen Interessenvertretung der angestellten Fahrerinnen und Fahrer noch vor uns.

    Wie sind betriebliche Kämpfe möglich, wenn die Arbeitsmodelle Beschäftigte voneinander isolieren?
    Komrowski: Das stimmt, man sieht sich in der Regel nur bei der Ablösung im Schichtbetrieb. Betriebliche Kämp­fe zu entwickeln, ist schwierig, wenn es keinerlei etablierte gewerkschaftliche Mitbestimmung gibt. Umso wichtiger sind außerbetriebliche Treffpunkte für Pausen oder nach Feierabend, wo Kol­legen sich treffen können. Aus basisgewerkschaftlicher Sicht kann die Erfah­rung der Worker Center in den USA hier Anknüpfungspunkte bieten. Wir entwickeln deshalb neue Angebote für Angestellte der Taxi- und Mietwagenbranche. Sie verdienen so wenig, dass wir ihnen zunächst helfen müssen, alltägliche Probleme besser zu meistern, bevor daran zu denken ist, gemeinsam klassische Gewerkschaftsarbeit zu machen.
    Meier: Die Sache hat große gesellschaftliche Relevanz, weil eine große Zahl von Menschen systematisch ihrer Rechte beraubt wird und das Folgen für die ganze Gesellschaft hat. Von den heute etwa 8 300 Berliner Taxen gehören weniger als 2 500 zu Ein-Wagen-Betrieben. Diese selbst fahrenden Unternehmer sind der Konkurrenz von Uber und anderen Anbietern schutzlos ausgeliefert.

    Was kann man dagegen tun?
    Komrowski: Wichtig ist es für uns, in der Kampagne gegen Uber eigene Akzente zu setzen. So haben wir an großen Halteplätzen Flugblätter mit kurzen Statements gegen Uber verteilt, die die Kollegen ins Taxi hängen können. Auf großen QR-Codes wird auf Zeitungsartikel verwiesen, die die Behauptungen der Parolen belegen. Erfolge sind vor allem dort möglich, wo die Vereinzelung der Kollegen durchbrochen wird. Wir arbeiten mit der Gewerkschaft Verdi, die in Brüssel relativ erfolgreich Lobbyarbeit betreibt und immer wieder gegen Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen in den Transportbranchen angeht. Der Kampf für besseren Datenschutz hilft auch, die Ambitionen der Plattformkapitalisten zu bremsen.

    Gibt es auch Diskussionen über eine App, die nicht den Konzernen, sondern den Beschäftigten nutzt? Oder lehnen Sie diese Technik grundsätzlich ab?
    Meier: Das Problem ist nicht die App als technische Neuerung, sondern es sind die Arbeitsbeziehungen, die sich dadurch verändern. Hinter Uber, aber auch Mytaxi stehen kapitalkräftige globale Unternehmen. Sie bestimmen die Arbeitsbedingungen und das Geld fließt über sie. Ihnen gegenüber sind auch Bosse mittelständischer Unternehmen so machtlos wie einzelne Fahrer. Das lässt einen leicht übersehen, dass auch mittelständische Unternehmen von der Arbeit ihrer Angestellten leben. Es geht wie immer im Kapitalismus um die Verfügungsgewalt über Produktionsmittel.

    #Taxi #Berlin #Gewerkschaft #Uber #Plattformkapitalismus #Interview

  • 13.04.2019: Zombie sucht Tropf (Tageszeitung junge Welt)
    https://www.jungewelt.de/artikel/352951.zombie-sucht-tropf.html

    Nett geschrieben. Wie so viele andere Kommentatoren sieht Klaus Fischer den Wald vor lauter Bäumen nicht, dabei benennt er das zentrale Thema sogar in seinem Text: Es geht Uber und seinen Großinvestoren nicht um Rendite. Es geht um „Marktbeherrschung“.

    Dabei verschleiert dieser Begriff mehr, als er sagt, und alle fallen darauf rein. Marktbeherrschung steht für Weltherrschaft . Ja, Sie haben richtig verstanden, die Betreiber von Uber und ihre Finanziers bewegen sich konzeptionell auf der Ebene eines Doktor Mabuse oder eines Phantomas , um nur die lustigeren Superschurken des 20. Jahrhunderts zu nennen, die im Delirium von den Chancen der kommenden Überwachungs- und Allmachtskonstrukte faselten.

    Der enge Blick aufs Rentable versperrt dem Autor den Blick auf das zweite Risiko der Uber-Investoren: Wenn Arbeitslangkämpfe und die zur Verteidigung sozialer Errungenschaften intensiver werden, kann ganz schnell Schluß sein mit Lustig.

    Noch ist es möglich, die Ausbeuterplattform zu verbieten. Der Weg dahin ist nicht weit.

    Aus: Ausgabe vom 13.04.201, von Klaus Fischer

    Uber geht an die Börse

    Uber geht an die Börse. Der als »Fahrdienstvermittler« bezeichnete US-Konzern will damit seine Kapitalbasis deutlich stärken. Von bis zu 100 Milliarden Dollar für etwa zehn Milliarden Aktien ist die Rede, wie die Nachrichtenagentur Reuters am Freitag schrieb. Die sind auch notwendig, wenn die halbe Welt aufgerollt werden soll.

    Das 2009 in San Francisco gegründete Unternehmen ist bislang ein Zombie. So werden Firmen genannt, die permanent Verluste schreiben, aber durch immer neue Geldspritzen am Leben erhalten werden. Im konkreten Falle ist die Einschränkung »bislang« wichtig. Im Gegensatz zu den üblichen »untoten« Kapitalakteuren zielt Ubers Geschäftsmodell auf Marktbeherrschung.

    Mittel zum Zweck sind die Werkzeuge der globalen Digitalisierung. Als Vermittler zwischen Angebot und Nachfrage will Uber derjenige sein, über den Menschen Beförderungsleistungen anfordern können, die andere »freie« Anbieter angeblich feilbieten. Was hauptsächlich in urbanen Ballungsgebieten einen Sinn ergibt. Bindeglied ist eine App auf Smartphone oder Notebook. 91 Millionen Kunden monatlich zählt man bereits. Für diesen Dienst kassiert Uber Vermittlungsgebühren.

    Es leuchtet ein, dass zig Milliarden Dollar nicht eingeworben werden können, will man nur den Markt in Kalifornien dominieren. Es muss schon die Welt sein oder zumindest ein großer Teil davon, soll für künftige Aktionäre der Traum von Superprofiten weiter geträumt werden. Dafür stehen bei Uber dessen bisherige Finanziers wie Goldman Sachs, Google Ventures oder Benchmark Capital. Auch deren hauseigener Spielplatz ist der Globus. Und das Ziel sind Monopolprofite.

    Für die künftigen Aktionäre könnte es auch ein böses Erwachen geben. Bislang hat Uber keinen Dollar verdient. Marktbereinigung ist teuer und braucht mehr als nur Schmiergeld. Alte Strukturen müssen zerstört, Konkurrenten plattgemacht werden. Und Verbraucher gilt es zu überreden umzusteigen. Das geht am besten über den Preis, aber auch mehr Komfort oder größere Flexibilität sind Werbeargumente. In der Praxis tut sich Uber da schwer. Denn die zahlreichen »Fahrdienstleister« sind meist prekäre Selbstausbeuter.

    Inzwischen haben auch »Finanzexperten« nachgerechnet. Zumindest ein Teil von denen äußert Bedenken, ob der Konzern sein Renditeversprechen einhalten kann. Leute mit zu viel Geld dürfte das dennoch nicht abhalten, Uber-Aktien zu kaufen.

    Zum Alptraum für Taxifahrer und die gesamte Branche ist der Konzern längst geworden. Doch der Widerstand ist vielerorts erheblich. In Spanien und Frankreich wurde Ubers erste Attacke zurückgeschlagen – ebenso in Teilen Süd- und Südostasiens. Vielleicht will die Firma deshalb nun stärker auf »autonomes Fahren« setzen, womöglich auf Basis elektrisch betriebener Fahrzeuge. Geld dafür wird ab Mai gesammelt. Für ein Monopol wird es kaum reichen.

    #Uber #Plattformkapitalismus #disruption

  • World Development Report 2019: The Changing Nature of Work
    http://www.worldbank.org/en/publication/wdr2019

    jungle.world - Ungerechtigkeit 4.0
    https://jungle.world/artikel/2018/41/ungerechtigkeit-40?page=all

    11.10.2018 -
    Der Weltentwicklungsbericht der Weltbank beschäftigt sich mit der Frage, wie die Digitalisierung soziale Gerechtigkeit verändert

    Ungerechtigkeit 4.0

    Die Digitalisierung betrifft alle Lebensbereiche. Wie sie sich auf soziale Gerechtigkeit auswirkt, wird derzeit viel diskutiert. Auch die Weltbank befasst sich in ihrem Bericht für das Jahr 2019 damit. Ihre Analyse stammt allerdings aus der vordigitalen Zeit.

    Von Christopher Wimmer

    Von der Arbeitswelt über das Privat­leben und die Freizeitgestaltung bis zur Politik – die Digitalisierung hat die bis vor wenigen Jahrzehnten bestehenden Verhältnisse grundlegend verändert. Sie hat neue Lebenssituationen geschaffen, deren Konsequenzen für die Arbeit, das Gemeinwohl und das Leben der Einzelnen nur teilweise voraus­gesehen werden können.

    Mit dem Thema Digitalisierung befasst sich derzeit auch die Weltbank, die gerade ihren Weltentwicklungsbericht für das Jahr 2019 vorbereitet. In ihren jährlich erscheinenden Berichten behandelt die Weltbank immer verschiedene Themen. Der Band für 2019 soll im Oktober unter dem Titel »The Changing Nature of Work« erscheinen und sich mit dem Wesen und der Zukunft der Arbeit beschäftigen. Der Entwurf ist im Netz frei zugänglich und wird Woche für Woche aktualisiert. Darin werden zwei Themen verbunden, die bisher selten zusammen diskutiert wurden: Di­gitalisierung und Ungleichheit. Die Digitalisierung hat den Verfassern zu­folge das Potential, soziale Ungleichheit zu verschärfen.

    Über die Frage, ob die Digitalisierung eine große Chance oder ein großes Ri­siko für die Gesellschaft ist, ist auch die Meinung der deutschen Bevölkerung gespalten. Dem Ifo-Bildungsbarometer 2017 zufolge stimmten 50 Prozent der Befragten der Aussage zu, dass die Digitalisierung insgesamt zu größerer so­zialer Ungleichheit in Deutschland führen werde, 46 Prozent stimmen dem nicht zu. Die einen befürchten, dass die Digitalisierung zu massiven Arbeitsplatzverlusten führt und somit die Ungleichheit verschärft, die anderen hoffen auf neue Jobperspektiven in der digitalen Welt.

    Die Autorinnen und Autoren unter der Leitung des Ökonomen und ehemaligen bulgarischen ­Finanzministers Simeon Djankov regen dazu an, den Kündigungsschutz zu lockern und Unternehmen generell von ihrer sozialen Verantwortung zu befreien. Mindestlöhne sollen gesenkt werden.

    In den vergangenen Jahren sind die Reallöhne in Deutschland, nach einer längeren Phase der Stagnation, leicht gestiegen. Anders als in anderen west­lichen Ländern sind viele neue industrielle Jobs entstanden, in denen relativ hohe Löhne gezahlt werden.

    Und doch sind stabile Wachstumsraten und Rekordbeschäftigung keine Garanten für soziale Gerechtigkeit. Der Anteil der Menschen, die als armutsgefährdet gelten, ist zuletzt wieder angestiegen. Leiharbeit, Werkverträge, Minijobs und befristete Arbeitsverhältnisse prägen die Arbeitswelt – fast 40 Prozent der Beschäftigten in Deutschland arbeiten inzwischen in derlei prekären Arbeitsverhältnissen. Für sie bedeutet dies häufig: niedrige Löhne, geringe soziale Absicherung und permanente Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes. Besonders jüngere Beschäftigte sind davon betroffen.

    Rechte, die sich Lohnabhängige in den vergangenen Jahrzehnten gewerkschaftlich erkämpften, werden durch neue Arbeitsverhältnisse der Gig-Ökonomie unterminiert, bei der kleine Aufträge kurzfristig an unabhängige Freiberufler oder geringfügig Beschäftigte vergeben werden. Kündigungsschutz, Krankenversicherung und Urlaubsanspruch gelten dort nur selten. Die Digitalisierung der Arbeitswelt verstärkt diese Prozesse. Mittlerweile geht es auch nicht mehr nur um die industrielle Produktion.

    Weitere Branchen werden umstrukturiert. Der Zeitungs- und Büchermarkt, der Börsenhandel, die Versicherungsbranche, Immobilien- und Stellenbörsen, das Militär – diese und weitere Bereiche sind ebenfalls von gewaltigen Transformationen betroffen.

    Die Weltbank stellt fest: Die großen digitalen Unternehmen beschäftigen vergleichsweise wenige Mitarbeiter, vernichten aber Tausende Jobs in der Industrie, im Handel und Dienstleistungssektor. Ein Beispiel hierfür sei der Fahrdienstleister Uber. Durch die Möglichkeit, Menschen privat im Auto mitzunehmen, wird das organisierte Taxigewerbe unter Druck gesetzt. Waren gewisse Mindesteinkommen und Sicherheiten für die regulären Taxifahrer gegeben, fallen bei Uber alle Formen der gewerkschaftlichen Organisierung und Versicherungen komplett weg. Das Ergebnis ist die Prekarisierung der gesamten Branche.

    Die unregulierte, digitale Variante des Taxigewerbes steht also nicht für die inklusiv und sozial gerecht erscheinende sharing economy, sondern bedeutet unterm Strich: Vereinzelung und direkte Ausbeutung, also Kapitalismus in Reinform.

    Doch es gibt auch eine positive Erzählung über die Digitalisierung. Zahlreiche Verlautbarungen aus Wirtschaft und Politik preisen sie als Garant für zukünftigen Wohlstand. Vom Bundeswirtschaftsministerium über die Unternehmensplattform »Industrie 4.0« bis hin zu Beratungsfirmen wie McKinsey sind sich alle einig, dass Phänomene wie Big Data, Internet der Dinge und künstliche Intelligenz nicht nur für Wachstum sorgen werden, sondern auch zu sozialer Gerechtigkeit beitragen können. Gab es früher enorme Hürden, die die Existenz kleiner Produzenten be- und verhinderten, können sich Menschen nun über Marktplätze wie Ebay selbständig machen oder Geld neben dem Job hinzuverdienen. Ebenso verhält es sich mit Uber oder Airbnb – Geld kann hier relativ leicht verdient werden.

    Doch ein Blick auf wissenschaftliche Szenarien macht skeptisch, ob diese Gerechtigkeitsversprechungen der Digitalisierung wirklich einzuhalten sind. Digitale Innovationen werden sich anders auswirken als vorherige technologische Entwicklungen. Ihre atem­beraubende Geschwindigkeit tangiert auch die Arbeitsplatzsicherheit. Verschiedene Studien sagen voraus, dass allein in den nächsten zwei Jahrzehnten zwischen zwölf und 40 Prozent der Arbeitsplätze in Deutschland verloren gehen könnten – die neu entstandenen Jobs bereits eingerechnet.

    Von der Digitalisierung sind mittlerweile alle Berufsgruppen betroffen. Die Technologie selbstfahrender Autos ersetzt zumindest potentiell die Busfahrer, Drohnen die Postbeamtinnen, intelligente Systeme die Buchhalterin und schlussendlich können auch Wissensarbeiter ersetzt werden – künstliche Intelligenz an Stelle von Professoren.

    Die Weltbank geht in ihrem Bericht darauf ein und fordert Maßnahmen, um wachsender Ungleichheit vorzubeugen: »Als erste Priorität sind umfangreiche Investitionen in das Humankapital während des gesamten Lebens einer Person von entscheidender Bedeutung. Wenn die Arbeiter gegenüber Maschinen konkurrenzfähig bleiben sollen, müssen sie in der Lage sein, ständig neue Fähigkeiten zu trainieren oder von Anfang an besser ausgebildet sein«, heißt es darin.

    Doch was passiert mit all denen, die nicht mithalten können? Die Jobs, die mit der Digitalisierung entstehen, werden nur zu einem kleinen Teil gut bezahlt sein. Der kleinen Gruppe von Programmierern oder IT-Ingenieurinnen wird die große Mehrheit der Beschäftigten bei Lieferketten, in Lagerhallen oder als Gelegenheits-, Crowd- und Clickarbeiterinnen gegenüberstehen – im Niedriglohnsektor.

    All das wird dazu führen, dass die soziale Ungleichheit weiter anwächst. Die Vorschläge der Weltbank scheinen in dieser Hinsicht wenig aussichtsreich zu sein. So regen die Autorinnen und Autoren unter der Leitung des Ökonomen und ehemaligen bulgarischen ­Finanzministers Simeon Djankov dazu an, den Kündigungsschutz zu lockern und Unternehmen generell von ihrer sozialen Verantwortung zu befreien. Mindestlöhne sollen gesenkt werden.

    An deren Stelle solle laut Weltbank ein bedingungsloses Grundeinkommen und bessere private Vorsorge treten. Dies soll durch höhere Steuern finanziert werden, die dem Entwurf zufolge aber hauptsächlich Geringverdienende und Ärmere belasten würden.

    Mit diesen Mitteln wird man dazu beitragen, dass sich einige wenige – die die Macht über Roboter und Algorithmen haben – zu Lasten der großen Mehrheit bereichern. Riesige Mengen Kapital sammeln sich bereits bei wenigen Firmen an, die große Plattformen und Programme entwickeln.

    Der digitalisierte Klassenkampf scheint derzeit eindeutig auszufallen. Er betrifft aber nicht nur die Arbeitswelt, sondern die gesamte Gesellschaft, denn diese Firmen akkumulieren nicht nur große wirtschaftliche, sondern auch gesellschaftliche Macht: Sie verfügen über das Wissen, die Daten und die medialen Räume, mit denen in Gesellschaft und Politik Diskussionen geführt und Entscheidungen getroffen werden. Kämpfe um soziale Gerechtigkeit im digitalen Kapitalismus werden dadurch umso schwerer – aber auch umso wichtiger.

    #Uber #Taxi #BEG #Arbeit #Arbeitslosigkeit #Digitalisierung #Prekasisierung #Plattformkapitalismus #Weltbank