Der moderne ukrainische Nationalismus ist ganz jungen Datums, obwohl die Ukrainer und viele von jenen, die in der letzten Zeit, aus Gründen der Aktualitat, über dieses Volk zu schreiben pflegen, das ehrwürdige Alter des ukrainischen Nationalbewußtseins betonen.
Das nationale »Erwachen« der Ukrainer, um es mit einem neudeutschen Wort zu kennzeichnen, ist in der österreichisch-ungarischen Monarchie erfolgt, wo überhaupt, ja, dank der falschen Politik der deutschsprachigen Österreicher, nationalistische Instinkte der anderen Volker gediehen. Das ukrainische Nationalbewußtsein ist keineswegs älter als der Herzlsche Zionismus zum Beispiel: Und ebenso wie dieser, ist er das Werk einer intellektuellen oder halb-intellektuellen, sehr dünnen Oberschicht. Weniger noch als die Zionisten, denen das tausendjahrige Leid ihres Volkes und dessen uralte, religiös bedingte Abgeschlossenheit, ihre Arbeit leichter machten, konnten die ukrainischen Fahnenträger des nationalen Gedankens eine entscheidende Legitimität für sich in Anspruch nehmen. Aber ähnlich wie der Herzlsche Zionismus - wohlgemerkt kein anderer als dieser; denn es gibt mehrere »Zionismen«, wie man weiß - beruhte auch der ukrainische Nationalisms auf einem Widerstand, nicht auf einer spontan-positiven Idee.
Die Ukrainer oder Ruthenen, wie sie im alten Österreich hießen, wurden aus einer Art sozialem Minderwertigkeitsgefühl »bewußte« Ukrainer. Jahrzehntelang war unter ihnen der soziale Aufstieg gleichbedeutend mit einer Polonisierung, einer Assimilation an das polnische »Herren-Volk«. Der ukrainische oder ruthenische Apotheker, Gymnasiallehrer, Advokat usw. ging geradezu selbstverständlich von der griechisch-unierten Kirche zur römisch-katholischen über. Der römische Katholik war im alten Galizien gleichsam Pole. Griechisch-katholisch war ein Synonym fur ruthenisch. Römisch-katholisch eins für polnisch. Es gab auch Mischehen: Die Söhne, die ihnen entsprossen, waren polnisch und römisch, die Tochter, also das politisch und sozial schwächere Element, gewöhnlich ruthenisch und griechisch. Die in Rußland lebenden Ukrainer aber waren orthodox. Sie sprachen auch ein anderes Ukrainisch als die galizischen Stammesgenossen. Und wenn sie » sozial emporgestiegen« waren, das heißt: intellektuelle Berufe ergriffen, russifizierten sie sich vollständig.
Es ist kein Zufall, daß die Ukrainer nur einen einzigen Dichter von Bedeutung aufzuweisen haben: namlich Sawezenko. Aber auch der hat sich als ein im Dialekt schreibender Russe gefühlt. Wollte man ihn, wie es die Ukrainer tun, als Nicht-Russen bezeichnen, so wäre zum Beispiel auch Mistral kein Franzose und Fritz Reuter kein Deutscher. Das Provenzalische ist dem Französischen weiter als das Ukrainische dem Russen.
Den Anstoß zum Erwachen des ukrainischen Nationalgedankens gaben immer die Deutschen; die Deutschen Österreichs und die Deutschen aus dem Reich. Ich weiß von meiner Tätigkeit als zeitweiliger Berichterstatter aus Polen und Rußland her, daß die Wilhelmstraße die ukrainischen Separatisten in Polen mit Waffen, Geld und Propaganda ebenso unterstützt hat wie das Ministerium Tschitscherins. Es ist nicht anzunehmen, daß Deutschland, auch in seiner Form als »Drittes Reich«, die Beziehungen zu den polnischen Ukrainern abgebrochen hat: Beziehungen, die zu einer bereits sehr würdigen Tradition deutscher Außenpolitik geworden sind: trotz der zeitweiligen und problematischen Freundschaft zwischen Beck und Neurath-Ribbentrop. Auch heute, wie zu Zeiten »Schwarzer Reichswehr«-Politik, gehen deutsche Waffen und Gelder nach Lemberg. Und während Göring den Polnischen Eber schießt, geht eine ganz andere Munition deutschen Ursprungs an die Herren, die Lewicki, Gargasch und Kanink und noch anders heißen.
Die Zukunft (Paris), 13. 1. 1939
in Joseph Roth, Werke 3, Das journalistische Werk, 1929-1939, Büchergilde Gutenberg, Frankfurt am Main 1989, Seite 874 ff