06.06.2024 von Ada M. Hipp - Unsere Autorin unterrichtet an einer Berliner Schule. Immer mehr Mädchen tragen dort plötzlich Kopftuch. Im Gespräch mit den Schülerinnen fragt sie: Warum?
Ich unterrichte an einer Schule in Berlin. Immer öfter erlebe ich, dass ein Mädchen „plötzlich“ mit einem Kopftuch im Klassenraum vor mir sitzt, welches noch vor den Ferien oder dem Wochenende keines trug. In der Regel betrifft es Mädchen des 9. oder 10. Jahrgangs. Von manchen hätte ich es nicht gedacht, da sie sich zuvor meist offen verhielten und dem sogenannten westlichen Lebensstil sehr zugeneigt waren. Wenn sie dann mit Kopftuch vor mir sitzen, verhalten sie sich oft anders, wesentlich ruhiger als zuvor.
Weil mich das alles sehr erstaunte, bat ich sie, mir ihre Beweggründe darzulegen. Bei Gesprächen mit mehreren Schülerinnen stellte ich fest, dass die Veränderung der Mädchen nur für Außenstehende „plötzlich“ geschieht. Für die Mädchen selbst ist die Entscheidung zum Tragen eines Kopftuches das Ergebnis eines längeren Prozesses. Sie denken viel und intensiv darüber nach.
Ihre Lebenswirklichkeiten und ihre Perspektiven sind in der aufgeheizten gesellschaftlichen Debatte nur selten Thema. Die eine Seite stilisiert das Kopftuch zum feministischen Symbol und pocht auf die „weibliche Selbstbestimmung“ oder zumindest die private, persönliche Entscheidungsfreiheit. Die andere Seite redet vom „Kopftuchzwang“, der den „unterdrückten“ Mädchen auferlegt würde und ihnen jegliche Autonomie und Eigenwilligkeit abspricht.
Wenn ich die Gespräche mit meinen Schülerinnen Revue passieren lasse, fällt mir auf, wie komplex und widersprüchlich die Sache mit dem Kopftuch oft ist.
Im Jahre 2014 erschien ein Mädchen türkisch-libanesischen Familienhintergrunds meiner damals 10. Klasse nicht nur plötzlich mit Kopftuch in der Schule. Sie kleidete sich noch dazu in einer Abaya. Dieses bodenlange, hochgeschlossene, langärmelige Überkleid bedeckt weder Kopf noch Gesicht. Traditionell wird es mit einem Hijab (Kopftuch) oder Niqab getragen. Der Niqab ist ein Gesichtsschleier, der einen Sehschlitz freilässt. An deutschen Schulen wird der nicht getragen. Die Abaya sehe ich jedoch immer öfter im Schulalltag.
In Frankreich wurde im September 2023, zu Beginn des neuen Schuljahres, Schülerinnen verboten, in Abayas gekleidet in die Schule zu kommen, da man diese Kleidung als religiöses Zeichen einstuft. In Frankreich pocht man auf Laizität, also die strikte Trennung von Staat und Religion.
Vielen meiner Schülerinnen ist die Abaya ohnehin schlicht zu unpraktisch, wie sie mir erzählen – wegen der vielen Treppen im Schulhaus. Bei jenem türkisch-libanesischen Mädchen, das 2014 in meiner Klasse saß, war das offenbar nicht der Fall. Sie kam in der Abaya und verhielt sich fortan anders. Sie mahnte Mitschüler häufiger zu besserem Verhalten an, war selbst weniger aufbrausend und ruhiger. Ich war damals irritiert, da ich die Familie des Mädchens gut kannte und wusste, dass dort keine Frau ein Kopftuch trägt. Ich hakte nach. Das Mädchen erzählte, dass sie sich etwas intensiver mit dem Islam beschäftigt habe und sich daraufhin zum Tragen des Kopftuchs und der Abaya entschieden hätte.
Die Mutter hofft, es sei nur eine Phase
Als ich sie fragte, wie denn ihre Familie darauf reagiert hätte, meinte sie, sie wäre zwar zunächst einmal geschockt gewesen, ihre Entscheidung jedoch würde sie respektieren. Im Gespräch mit der Mutter, die immer sehr offen war, äußerte diese, dass sie hoffe, diese „Phase“ ihrer Tochter möge möglichst bald vorübergehen. Sie selbst würde von Verwandten, Bekannten und anderen auf ihre Tochter und deren neuen Kleidungsstil angesprochen. Gezwungen wurde das Mädchen offensichtlich nicht. Sie kam auch wie alle anderen mit auf unsere Klassenfahrt ins Ausland.
Als das Mädchen nach der Schule eine Ausbildung begann, legte sie Kopftuch und Abaya ab. Ihr seien die damit verbundenen Auflagen eines veränderten, streng nach islamischen Regeln geführten Lebensstils mit regelmäßigen Besuchen der Moschee dann doch zu einschneidend, als dass sie den Rest ihres Lebens so verbringen wolle, erzählte sie mir. Auch die ständigen Nachfragen nach dem Wieso oder Warum und der Druck in der Familie wurden ihr zu viel. Sie wollte sich nicht ständig rechtfertigen.
Im Jahre 2018 saß in meiner neuen siebten Klasse ein Mädchen mit Kopftuch, das sich immer darüber beschwerte, wie unschön ihre Mitschüler miteinander umgingen, Ausdrücke sagten, sich gegenseitig beschimpften. Ihr extrem vorbildliches Verhalten war untypisch für ein Kind ihres Alters. Sie lachte nie. Einmal sah ich, wie sie bei einem kleinen Missgeschick eines Mitschülers die Mundwinkel dann doch leicht zu einem, für ihre Verhältnisse, breiten Grinsen verzog. Als sie sich selbst bei ihrer Schadenfreude ertappte, erschien sofort wieder ihr überernstes Gesicht.
Nach den Sommerferien dachten meine Kollegin und ich, wir hätten eine neue Schülerin bekommen. Das Mädchen mit dem Kopftuch fehlte. Auf ihrem Platz saß ein Mädchen mit vollem, wunderschönem Haar. Wir fragten uns, weshalb uns niemand, weder das Sekretariat noch die Schulleitung, über die neue Schülerin informiert habe. Bei der Anwesenheitskontrolle lasen wir auch den Namen der verschwundenen Schülerin mit dem Kopftuch nicht laut vor, denn sie war ja nicht da.
Nach dem Verlesen der Namen rief eine Mädchenstimme: „Ich bin doch auch da, warum haben Sie meinen Namen nicht genannt?“ – Es war die vermeintlich nicht anwesende Schülerin, wir haben sie einfach nicht erkannt. Auch deshalb nicht, weil statt dem sehr stillen, verkrampften Mädchen, dort ein fröhlich lachendes saß.
Sie wollte das Kopftuch nicht mehr tragen – „Na endlich!“, sagte der Vater
Auch hier hakte ich nach. Das Mädchen erzählte mir, dass die Familie gemeinsam im Auto in die Türkei gefahren sei, um dort die Sommerferien bei den Großeltern zu verbringen. Sie saß auf der Rückbank, hinter dem Vater und schluchzte. Irgendwann fragte sie der Vater, was denn los sei. Sie antwortete, dass sie das Kopftuch nicht mehr tragen wolle. Da drehte sich der Vater während der Fahrt zu ihr um und riss ihr das Kopftuch ab. „Na endlich!“, sagte er. Dann lachten alle.
Im Sommer 2023 hörte ich auf einer Exkursion mit meiner Klasse, wie sich zwei befreundete Mädchen darüber unterhielten, wie es denn wäre, wenn sie beide nach den Sommerferien in der achten Klasse ein Kopftuch trügen. Sie verabredeten sich zum Tragen eines Kopftuchs, wie andere Teenager sich zum Tragen der gleichen Jacke oder gleichfarbiger T-Shirts verabreden.
Nach den Sommerferien kam eines der beiden Mädchen jedoch weiter ohne Kopftuch in die Schule. Sie erzählte mir, dass ihre Mutter ihr in intensiven Gesprächen erklärt hatte, dass sie ihrem Verhalten nach noch nicht reif genug für das Tragen eines Kopftuchs sei. Außerdem diene das Kopftuch nicht dazu, einer Teenagerlaune nachzukommen. Der Tochter kam das wie eine Art Kopftuchverbot vor.
Die Freundin erschien nach den Ferien wie verabredet mit Kopftuch. Sie nahm der anderen übel, dass sie keines trug, fühlte sich verraten. Die Freundschaft litt sehr, erst kürzlich näherten sich die beiden wieder an.
In einem Elterngespräch sprach ich die Mutter des Kopftuch tragenden Mädchens darauf an. Sie meinte, sie könne ihrer Tochter das Tragen des Kopftuchs nicht ausreden, obwohl sie genau wisse, dass sich ihre Tochter nicht an die mit dem Tragen des Kopftuchs verbundene, vorbildlichere Verhaltensweise halte.
Wenn ich meine Schülerinnen vor mir habe, denke ich oft: Wir sollten mehr mit ihnen, statt über sie reden, Interesse an ihnen und ihrer Kultur zeigen und versuchen, sie und ihre Beweggründe besser zu verstehen. Auch das ist wichtig für eine gelingende Integration.
Ada M. Hipp, Jahrgang 1968, lebt mit ihrer Familie in Berlin. Seit 1992 ist sie im Berliner Schuldienst tätig.
Transparenzhinweis: Die Autorin verwendet ein Pseudonym, der wahre Name ist der Redaktion bekannt.