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  • Streit um eine Straße: Robert Rössle – Held der Medizin oder Naziverbrecher?
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    15.20.2021 von Anja Reich und Wiebke Hollersen - Ute Linz sagt, sie sei zufällig auf Robert Rössle gestoßen. Sie las seinen Namen auf Briefen von Kollegen aus Berlin. Linz ist Mikrobiologin. Ihr Forschungszentrum in Jülich bei Aachen bekam oft Post aus der Robert-Rössle-Straße in Berlin. Sie wurde neugierig, wollte wissen, wer der Mann war.

    Es sei so was wie ihr Hobby, sagt sie, sich zu fragen, warum eine Schule oder eine Straße einen bestimmten Namen trägt. Und es erschrecke sie oft, wie wenig Leute es wissen. „Wenn ich tagein, tagaus da rumlaufe, muss ich mich doch mal fragen, wer war das eigentlich.“

    Ute Linz war nie durch die Straße gelaufen, als sie zum ersten Mal nach dem Namen Robert Rössle suchte. Mehr als zehn Jahre sei das jetzt her, sagt sie. Rössle war Mediziner, las sie auf Wikipedia, ein Pathologe. Er hatte im Kaiserreich geforscht. Und unter den Nationalsozialisten. Ute Linz fand schnell einen anderen Namen in der Biografie von Rössle, der sie stutzig werden ließ: Karl Brandt. Auch er war Arzt. Und wie sie wusste ein Naziverbrecher, der bei den Nürnberger Ärzteprozessen zum Tode verurteilt und 1948 hingerichtet worden ist, wegen seiner Beteiligung an Krankenmorden und Menschenversuchen. Robert Rössle, so hieß es, sei Mitglied in einer Kommission von Brandt gewesen.

    Das kann doch eigentlich nicht sein, dass nach so jemandem in Berlin eine Straße benannt ist, dachte Ute Linz.
    Aussagen zur Eugenik in Rössles Büchern

    Sie sitzt am Esstisch ihres Hauses in Marzahn-Hellersdorf, das man eher in Steglitz oder am Wannsee vermuten würde. Bauhaus, 1931, viele Originaldetails. Seit acht Jahren lebt Ute Linz im Berliner Osten. Ihr Mann, der in diesem Jahr gestorben ist, und sie haben das Haus gefunden, aufwendig restauriert, es steht unter Denkmalschutz. Vor ihr in der großen Küche steht ihr Laptop, auf dem sie Tausende Seiten Sektionsprotokolle, Akten und Briefe gespeichert hat, die sie in den letzten Jahren zusammengetragen hat. Ihre Unterlagen zum Fall Robert Rössle.

    Das ist es inzwischen. Ein Fall. Ute Linz fordert, dass die Robert-Rössle-Straße umbenannt wird. Sie hat damit eine Debatte ausgelöst, die seit fünf Jahren den Bezirk Pankow beschäftigt. Es gab Kommissionen, Anhörungen, Stellungnahmen. Nun soll endlich eine Entscheidung fallen – bis Ende des Jahres, heißt es im Bezirk.

    Straßenumbenennungen sind ein emotionales, hochumstrittenes Thema in Berlin. Und diesmal geht es nicht um Kolonialismus, nicht um die DDR, sondern um den Nationalsozialismus, die dunkelste Zeit der deutschen Geschichte. Aber die Wahrheit zu finden, 76 Jahre nach Ende der Diktatur, ist kompliziert. In einer Zeit, in der nur noch wenige Zeitzeugen leben, 100-jährige KZ-Aufseher vor Gericht gestellt werden, ihre längst verstorbenen Befehlshaber oft ohne Strafe davongekommen sind und immer wieder Forderungen laut werden, einen Schlussstrich zu ziehen, dieses Kapitel zu schließen. Vergangen, verarbeitet, vorbei?

    Noch in Jülich ließ sich Ute Linz über die Fernleihe der Institutsbibliothek alte Arbeiten von Robert Rössle kommen, um nachzulesen, was er geschrieben hat. Sie fand Aussagen zur Eugenik, zur sogenannten Rassenhygiene, einer Lehre, auf die sich die Nazis später berufen hatten, die sie beunruhigten. Sie dachte wieder: Das geht doch eigentlich nicht, recherchierte, trug Material zusammen, machte ihre Erkenntnisse bekannt, warb für ihr Anliegen, die Umbenennung. Für sie wurde der Fall immer klarer.
    Die schönste Straße in Buch

    Aber ist er das wirklich? Inzwischen haben sich auch andere Menschen intensiv mit den Schriften und dem Wirken von Rössle und seiner Rolle im Nationalsozialismus befasst, darunter der ehemalige DDR-Bürgerrechtler und Molekularbiologe Jens Reich oder der FU-Medizinhistoriker Udo Schagen. Sie sind Mitglieder der Historischen Kommission am Campus Buch und zu anderen Einschätzungen gelangt. Bei den Nachforschungen ist etwa eine Freundschaft mit Rössles ehemaligem jüdischen Schüler Arnold Strauß ans Licht geraten. Strauß musste vor den Nazis fliehen, blieb aber Rössle bis zu dessen Tod 1956 eng verbunden. Die Tochter von Strauß verfolgt die Umbenennungsdebatte aus den USA mit großem Erstaunen.

    Die Robert-Rössle-Straße liegt in Buch, sie ist 600 Meter lang, zur Hälfte Straße, zur Hälfte Fußweg. Sie beginnt an der Karower Chaussee, an der Landesgrenze zwischen Berlin und Brandenburg, und endet an einem Torbogen, dem Eingang zum Campus Buch, auf dem auch das Max-Delbrück-Centrum liegt. Im Tor ist ein Café untergebracht, man kann auch draußen sitzen, in der Herbstsonne Kaffee trinken. Die Robert-Rössle-Straße sei für sie die schönste Straße in Buch, sagt Renate Jordan, eine Anwohnerin, die wir auf der Straße treffen. Weil am Ende der Straße der Campus liegt. Abends sind die neuen Gebäude beleuchtet, tagsüber sieht man junge Forscherinnen und Forscher aus aller Welt auf das Gelände strömen.

    Die Straße hat nur 22 Hausnummern, aber Tausende Menschen wohnen oder arbeiten hier. Den Namen Robert Rössle trägt sie seit 1974. Schon vorher hatte die DDR ein Klinikum in Buch nach dem Pathologen benannt. Renate Jordan lebt seit den 1970er-Jahren in der Robert-Rössle-Straße, sie hat auf dem Campusgelände als Krankenschwester gearbeitet.

    Wer war dieser Rössle? Ein Mediziner, Pathologe, viel mehr wusste Renate Jordan nicht über ihn, sagt sie. Auf einem Schild über dem Straßennamen steht: „Pathologe und Publizist, zuletzt an der Humboldt-Universität zu Berlin tätig“.

    In Buch sei „eine gewisse Unruhe“ aufgekommen, als sich herumsprach, dass über den Namen der Rössle-Straße debattiert wird, dass eine historische Kommission Nachforschungen anstellte. Das sagt Volker Wenda vom Bucher Bürgerverein. In Buch sei seit Jahrzehnten keine Straße umbenannt worden, auch nach der Wende nicht.

    Im Dezember 2019 fand in Buch eine Bürgerversammlung statt, bei der die historische Kommission vom Campus Buch und Ute Linz ihre unterschiedlichen Einschätzungen vortrugen. Der Bürgerverein positionierte sich: gegen die Umbenennung. Es sei gut, dass man sich mit Rössles Rolle im Nationalsozialismus befasst habe, sagt Volker Wenda. Aber die Erkenntnisse rechtfertigten es nicht, den Namen aus dem Straßenbild zu streichen. „Es ist ein Eingriff in diese Gemeinschaft, der von außen kommt und unbegründet ist.“
    Karriere in fünf deutschen Systemen

    Robert Rössle war ein Mediziner, der in fünf deutschen Systemen geschätzt und geachtet wurde. Er kam 1876 in Augsburg zur Welt. Seine Karriere begann im Kaiserreich, er habilitierte sich 1904 in Kiel, ging nach München, Jena. Sein Aufstieg fiel in die Zeit der Weimarer Republik. Er wurde Ordinarius in Basel, forschte zu Allergien, Leberzirrhosen, Entzündungsvorgängen im Körper.

    1929 folgte der Ruf an die Charité, das wichtigste deutsche Universitätskrankenhaus. Höher konnte ein Mediziner seiner Zeit nicht aufsteigen. Rössle war 53 Jahre alt und hatte alles erreicht. Den Lehrstuhl für Pathologie und den Posten als Direktor des Pathologischen Instituts in Berlin. Das Institut der Legende Rudolf Virchow.

    Rössle blieb unter den Nationalsozialisten auf seinem Posten und hielt ihn auch darüber hinaus, bis 1948. Danach arbeitete er noch vier Jahre am Wenckebach-Krankenhaus in West-Berlin. Er wurde nicht nur im Osten, sondern auch im Westen verehrt, hat mitten im Kalten Krieg sowohl den Nationalpreis der DDR als auch das Verdienstkreuz 1. Klasse der Bundesrepublik Deutschland erhalten. Der Medizinhistoriker Udo Schagen von der Freien Universität bezeichnet ihn als einen großen deutschen Pathologen und Forscher.

    Ein Held der Vergangenheit, dessen dunkle Seite übersehen, gar verschwiegen wurde? Einer von viel zu vielen, deren Beteiligung am verbrecherischen System der Nationalsozialisten erst viel zu spät aufgearbeitet wird?

    Es sind oft Bürgerinnen und Bürger, die Recherchen anstoßen, die niemand vor ihnen unternehmen wollte. Die genau hinschauen, fragen: Was hat diese Person eigentlich damals gesagt, gedacht, getan?
    Ein Familiengeheimnis wird entdeckt

    Mitunter gibt es einen persönlichen Bezug, ein Familiengeheimnis, das den Anlass dafür gibt, in jene Zeit einzutauchen, über die die Eltern oder Großeltern nicht reden wollten. So war es auch bei Ute Linz. Kurz bevor sie mit der Rössle-Recherche begann, fand sie heraus, dass ihre Großmutter von den Nationalsozialisten ermordet worden war. 70 Jahre nach dem Tod der Oma erfuhr sie das erst. Von ihrem Großvater, der zur gleichen Zeit verschollen ist, weiß Linz bis heute nicht, wie er gestorben ist. Ihre Eltern haben unter Hitler bei der Deutschen Reichsbahn in Warschau gearbeitet. Sie waren für die Lebensmittelversorgung von Zwangsarbeiterinnen zuständig. Auch darüber wurde wenig gesprochen.

    Das Schweigen in der Familie, das kennt auch Jens Reich, dessen Vater an der Ostfront Sanitätsarzt war, erzählt er uns im Interview. Und sogar Margaret Travers, die Tochter des jüdischen Rössle-Schülers Arnold Strauß, die wir in Massachusetts anrufen. Ihr Vater hat die Nazis gehasst, aber nie darüber gesprochen, dass er ihretwegen ins Exil in die USA fliehen musste, sagt sie. Lange Zeit wusste sie nicht einmal, dass er Jude war, dass sich seine Eltern in Den Haag das Leben genommen haben, um der drohenden Deportation zu entgehen.

    Ute Linz’ Suche nach den Spuren von Robert Rössle, so scheint es, löst eine ganze Lawine an neuen Nachforschungen, neuen Erkenntnissen aus, nur mit der Umbenennung der Straße in Berlin-Buch geht es nicht voran.

    An ihrem Küchentisch in Kaulsdorf erzählt uns Ute Linz von Archivbesuchen und Diskussionsveranstaltungen, von den Mails, die sie an die Bezirksverordneten in Pankow gesendet hat. Manchmal vergeblich, niemand lud sich ihr Material herunter, las in den Unterlagen nach. Enttäuscht und erschüttert sei sie, sagt Linz, bezeichnet ihre Kollegen vom Max-Delbrück-Centrum als „rückwärtsgewandt“, wirft dem Bezirk vor, die Entscheidung herausgezögert zu haben. Mindestens in diesem Jahr, dem Wahljahr.

    Buch gehört zum Wahlkreis Pankow 1, in dem die AfD bei der Abgeordnetenhauswahl vor fünf Jahren noch stärkste Partei geworden war und das Direktmandat geholt hatte, mit 22,4 Prozent. Die Befürchtung, die AfD könne die Diskussion um Rössle für sich nutzen, war der Grund, warum der Bezirk die Entscheidung erst nach der Wahl treffen wollte. Diesmal verlor die Partei 8,6 Prozentpunkte und kam nur noch auf Platz drei, das Direktmandat holte der Kandidat der CDU.

    Ist es auch ein Ost-West-Konflikt?

    Der Widerstand kommt eher von einer Seite, mit der Ute Linz nicht gerechnet hat. Sie sagt, Jens Reich, der Bürgerrechtler, habe einmal zu ihrem Mann gesagt: „Was Sie machen, ist Rache an der DDR.“

    Der Fall Rössle – ist das auch ein Ost-West-Konflikt?

    Es geht, das begreifen wir bei unseren Gesprächen, um die Vergangenheit eines Mediziners im Nationalsozialismus, um die Frage, wie viel Widerstand man in einer Diktatur leisten kann und muss, aber es geht auch um einen Namen, der in der DDR für ein wichtiges Klinikum stand. Die Robert-Rössle-Klinik in Buch war das modernste Krebsforschungszentrum der Welt, bedeutende Wissenschaftler arbeiteten hier, viele verloren nach der Wende ihre Arbeit. Die Klinik trägt diesen Namen schon seit Jahren nicht mehr. Nun soll er auch noch auf dem Straßenschild verschwinden.

    In den kommenden Wochen werden wir in einer Serie in der Berliner Zeitung in ausführlichen Interviews und weiteren Texten alle Seiten des Falls Robert Rössle ergründen. In der zweiten Folge am 19. Oktober: Eine Frau geht einem schrecklichen Verdacht nach.

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  • Nazi-Vorwürfe gegen Robert Rössle: Ist eine Ehrung des Pathologen noch legitim? | Berliner Zeitung
    https://www.berliner-zeitung.de/berlin/nazi-vorwuerfe-gegen-robert-roessle-ist-eine-ehrung-des-pathologen-

    https://m.kauperts.de/Strassen/Robert-Roessle-Strasse-13125-Berlin

    #Buch - Soll der Anatom und Pathologe Robert Rössle wie bisher geehrt werden, obwohl er in der Zeit des Nationalsozialismus Vererbungsforschung betrieb und an Menschenversuchen für die Luftwaffe beteiligt war?

    Eine Straße in Buch trägt seinen Namen. Sie führt zum Wissenschaftscampus. Dort steht auch eine Bronzebüste Rössles. Mehr noch: Unter der Adresse Robert-Rössle-Straße 10 firmieren Institutionen wie das Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin oder das Leibniz-Forschungsinstitut für Molekulare Pharmakologie. Ihre Korrespondenz trägt den Namen Rössle in alle Welt.
    „Verfechter der NS-Ideologie“

    Er wirkte in einer Zeit, als Vorstellungen von Erbhygiene und Menschenzüchtung die Wissenschaftswelt faszinierten, die heute mit Abscheu und Ablehnung gesehen werden. So geht es auch der Ärztin Dr. Ute Linz. Sie bemüht sich seit 2015 um eine Umbenennung der Straße und die Entfernung der Skulptur. „Der Geehrte war ein Verfechter der nationalsozialistischen Ideologie, für den sich eine derartige öffentliche Ehrung verbieten sollte“, lautet in Kurzfassung ihre Begründung. Hinzu kommt ein persönliches Motiv: Ihre Großmutter war ein Opfer der Euthanasie.

    Sie richtete Schreiben ans Bezirksamt Pankow, die Bezirksverordneten, das Bezirksmuseum, sandte Mails an Bürgermeister Sören Benn (Linke) – und erhielt keine Antwort. Erst als sie im November 2017 dem Bezirksamt und der BVV eine Frist setzte, bekam sie – eine Eingangsbestätigung. Kein Wort zur Sache.

    Stadtrat Vollrad Kuhn (Grüne), für Straßennamen zuständig, sagte dieser Zeitung, ihm liege kein „richtiger Antrag“ mit Namensvorschlag vor. Er räumt ein, das das Anliegen vielleicht anderswo „in ein schwarzes Loch“ gefallen sei. Die Sache selber sieht er positiv: Wenn Rössle Dreck am Stecken habe, könne er das Anliegen nachvollziehen. Man müsse aber viele Seiten und Historiker befragen. „Wichtig ist, das im politischen Raum zu behandeln, Fraktionen und Kommissionen könnten sich befassen und Bewertungen abgeben.“

    Hirne als „Studienmaterial“

    Bekannt ist, dass die Hirnforschung von den Euthanasiemorden der späten 1930er-Jahre profitierte, man nahm die Hirne gern als „Studienmaterial“. Rössle war nicht NSDAP-Mitglied und wohl nicht an Euthanasiemorden beteiligt. Gleichwohl trug er bis 1945 als Kurator des Bucher Institutes Mitverantwortung. Der Euthanasieforscher Götz Aly schreibt, Rössle habe sich dem Staat gegenüber stets loyal verhalten: „Es blieb ihm gleichgültig, ob er in Hitlerdeutschland als ‚Volksgenosse‘ oder später als ‚Nationalpreisträger I. Klasse der DDR‘ apostropiert wurde“.

    Erbhygiene sah Rössle distanziert. Sein Buch „Die pathologische Anatomie der Familie“ (1940) birgt Belege dafür. Ein Absatz wurde geschwärzt, darin der Satz: „Die Anschauung, Krankheit sei Schicksal, weil alles Geschehen an Körper und Geist unter der Herrschaft der Vererbung stehe, ist in dieser Verallgemeinerung unrichtig und gefährlich.“

    Fest steht: Aus einer Umbenennungsdebatte kann die Öffentlichkeit viel lernen – zum Beispiel über Anpassungen an Zeitumstände.

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