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  • Ernst Kaltenbrunners Alpeninszenierung des Endes: Totes Gebirge
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    23.4.2005 - Die Villa der Malerin Christel Kerry ist das höchstgelegene Haus des österreichischen Altaussee. Es ist ein bescheidener Bau. Hinter ihm steigt der Loser auf mehr als 1 800 Meter Höhe an. Auf seinem Gipfel liegt Schnee.Die Terrasse der Villa Kerry bietet eine prächtige Aussicht. Unten der malerische Ort. Der schöne See. Der lichtdurchflutete weite Talkessel. Und gut überschaubar die eine Straße, die aus dem Salzkammergut vom Pötschenpass hineinführt.Christel Kerry ist jetzt, April 1945, fünfundfünfzig Jahre alt. Ihre Bilder und Zeichnungen sind dem Ausseer Land gewidmet. Die Malerin vermietet auch Zimmer. Unter den Gästen sind viele Künstler. Sie lieben den stillen Winkel. Jakob Wassermann hat am See ein Haus gehabt. Hugo von Hofmannsthal ist beinahe jeden Sommer nach Altaussee gekommen. Klaus Maria Brandauer ist ein geborener Altausseer. Der Schauspieler bewohnt seit einigen Jahren das ehemalige Haus Jakob Wassermanns und inszeniert jedes Jahr im August Shakespeares „Sommernachtstraum“ am See. Christel Kerry hat vor einem Auftritt im nahen Bad Ischl einmal Joseph Schmidt, den Sänger, den Juden, beherbergt. Sein Einsingen soll man bis unten im Tal gehört haben. Jetzt, April 1945, wird sie Ernst Kaltenbrunner, den Chef des Reichssicherheitshauptamtes der SS, den Stellvertreter Heinrich Himmlers, beherbergen, wenn er in Altaussee ist: Villa Kerry, Fischerndorf Nr. 7. Kaltenbrunner verfügt über mehr Adressen noch in der Gegend.Salzburg hat das „provisorische“ Hauptquartier des SS-Obergruppenführers aufgenommen. Kaltenbrunners Frau, Elisabeth, ist mit den drei Kindern in Strobl am Wolfgangsee. Seine Geliebte, Gisela von Westarp, lebt seit dem Herbst in Altaussee und hat ihm in Altaussee Zwillinge geboren. Sie ist eine junge „Kriegerwitwe“, eine Gräfin von fünfundzwanzig Jahren, die Zwillinge sind in der Genealogie der Familie von Westarp nicht zu finden. Der Österreicher Kaltenbrunner „verlagert“ seit Monaten nach Österreich. Obwohl ein fanatischer Anhänger des NS-Regimes, verspürt Kaltenbrunner kein Verlangen, mit ihm unterzugehen. Das Ende des Dritten Reiches als katakombischer „Untergang“ ist eine Inszenierung des Bunkerbewohners Hitler, die sechzig Jahre später Kino wird. Die Götterdämmerung im düsteren Bunker ist die Führerversion des Endes. Sie ist der Einzelfall des Endes, der in der Medienwelt zum Pars pro toto wird. Im frühlingshellen Licht der steirischen Berge wird der Untergang als Übergang inszeniert.Kaltenbrunner ist am 19. April ein letztes Mal in Berlin und bei Himmler gewesen, der ihm die Befehlsgewalt über Bayern und Österreich übertragen hat, falls durch den Vormarsch der Alliierten die Verbindung zwischen ihnen unterbrochen wird. Der mächtige Kaltenbrunner, der 1943 den bei einem Attentat getöteten Heydrich beerbt hat, ist noch mächtiger geworden. In der Hierarchie der NS-Größen rangiert er gleich nach Bormann, Goebbels, Himmler und Göring. In diesen Tagen ist auch ein junger Altausseer SS-Mann noch einmal aus Berlin für ein paar Urlaubstage in das Heimatdorf gekommen. Seine Familie überlegt, ob er nach Berlin zurückkehren soll. Die Almen und das Hochgebirge gelten als gutes Versteck für Deserteure und Illegale.Kaltenbrunner wird in Altaussee von zwei SS-Männern und seinem Adjutanten Scheidler begleitet. Er führt einige Eisenkisten und Koffer mit sich, das Dienstsiegel „Der Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei“, „Der Chef der Sicherheitspolizei und des SD“ und einen falschen Pass auf den Namen eines Militärarztes: „Dr. Josef Unterwogen“.Kaltenbrunner ist schon da, wo Andere noch hinwollen. Er ist im Herzen der „Al-penfestung“. Die Vorstellung, hier den „Endsieg“ erfechten zu können, hat er auf-gegeben. Kaltenbrunner verfolgt ein anderes Projekt. Die „Alpenfestung“ ist zwar mehr Fiktion als Wirklichkeit, aber die Fiktion wirkt. Die Alliierten zögern mit der Eroberung. Kaltenbrunner denkt an eine Morgengabe, wie Himmler, wie Speer, wie Göring. Himmler bietet den Westalliierten über Mittelsmänner „Juden“, Speer die Industrie, Göring sich als Reichskanzler. Himmler will zwei- bis dreihundert Juden aus Theresienstadt als Faustpfand für Verhandlungen mit Eisenhower in die „Alpenfestung“ schaffen lassen. Was Kaltenbrunner anbieten kann, glaubt sein Mitarbeiter, SS-Obersturmbannführer Wilhelm Höttl, zu kennen, der am 3. Mai mit seiner Familie in Bad Aussee auftaucht.Höttl hat das Italien-Referat im Reichssicherheitshauptamt geleitet, er ist Kaltenbrunners „Spionage-Abwehrchef für den Südosten“ gewesen und hat Kontakte zu Allen W. Dulles, dem Residenten des amerikanischen OSS (Office of Strategic Services) in der Schweiz. Der Geheimdienstmann Höttl ist ein mit allen Wassern gewaschener Überlebensstratege. Ende März und Mitte April signalisiert Höttl in der Schweiz dem OSS, die SS in Österreich sei verhandlungswillig, Kaltenbrunner wolle einen Sonderfrieden, und für Kaltenbrunner hat er die schöne Nachricht, die Amerikaner fürchteten einen starken sowjetischen Einfluss im Nachkriegsösterreich. Zugleich ist Höttl noch an einem anderen phantasievollen Projekt beteiligt. Es kursiert die Ministerliste der Übergangsregierung eines „nichtkommunistischen Österreichs“. Höttl macht bei ihrer Verbreitung allerdings einen Fehler. Er übergibt sie in den letzten Apriltagen in Bad Goisern einem Antifaschisten, den er für einen Major des britischen Secret Intelligence Service mit Regierungskontakten hält.Kaltenbrunner stuft mit dem Vormarsch der Alliierten seine Rolle von Tag zu Tag zurück. Hat er sich eine Zeit lang vorgestellt, als „Berater“ der ominösen Übergangsregierung mit den Alliierten zu verhandeln, reicht ihm am Ende, sein Handwerk empfehle ihn. Höttl wird später gegen Kaltenbrunner aussagen und dabei sagen, Kaltenbrunner sei davon überzeugt gewesen, „dass die Westmächte schließlich seine Erfahrung auf dem Gebiet des Geheimdienstes und der Polizei für den bevorstehenden Endkampf mit dem Sowjetkommunismus nützen“ würden. Kaltenbrunner hat auch noch ein paar Kleinigkeiten für die Zeit „danach“ im Angebot. Die vorgebliche Rettung Tausender Gemälde, Hunderter Zeichnungen, Aquarelle, Skulpturen und Pretiosen von unschätzbarem Wert im Altausseer Salzbergwerk.In dem Stollen lagern Bestände der Wiener Museen, die Reichskleinodien, der Schatz des Ordens vom Goldenen Vlies, die Bibliothek des Deutschen Archäologischen Institutes in Rom, die sogenannte „Führersammlung“, aus ganz Europa zusammengeraubtes Kunstgut, der Genter Altar, Michelangelos „Madonna“, Rembrandts „Selbstbildnis“, Breughels „Bauernhochzeit“. Seit dem 10. April lagern im Bergwerk auch acht Kisten mit der Aufschrift „Vorsicht Marmor. Nicht stürzen“. Die Aufschrift ist Tarnung. In jeder der Kisten steckt eine 500-Kilo-Bombe. August Eigruber, der „Reichsstatthalter des Reichsgaus Oberdonau“, ist entschlossen, das Bergwerk in die Luft zu jagen, um die Kunstschätze „nicht in die Hände des kapitalistischen Weltjudentums fallen zu lassen“. Eigruber betreibt im Gaumaßstab die „Götterdämmerung“. Persönlich hält er es anders. Seine Villa in Altaussee, die er sich 1941 aus dem Besitz des „Judentums“ hat übertragen lassen, ist frei von Sprengmitteln. Im nahen See findet 1975 ein Taucher eine verrostete Munitionskiste mit einem Federpennal aus Holz. In den drei mit Wachs zugegossenen Kammern des Pennals stecken drei Brillantringe Eigrubers. Mit diesem Mann telefoniert Kaltenbrunner am 4. Mai nachts ein Uhr.In Altaussee suchen Salinendirektion, Bergarbeiter, Antifaschisten verzweifelt nach einer Möglichkeit, die Sprengung des Bergwerks mit den Kunstschätzen zu verhindern. Bergrat Högler versammelt am Mittag des 3. Mai die Arbeiter und informiert sie über die Lage. Es mögen sich Freiwillige für die Bewachung der Bomben und im äußersten Falle auch zur Beseitigung des Sprengkommandos melden. Alle melden sich freiwillig. Ein Bergarbeiter, Alois Raudaschl, schlägt vor, zusätzlich mit Kaltenbrunner Kontakt aufzunehmen. Högler ist am Nachmittag bei Kaltenbrunner, der seine Chance erkennt. Kaltenbrunner verspricht, bei Eigruber zu intervenieren, bekommt aber keine Telefonverbindung. In der Nacht schaffen die Arbeiter auf eigene Verantwortung die Bomben aus dem Bergwerk. Als Kaltenbrunner Eigruber endlich erreicht, führen der Chef des Reichssicher-heitshauptamtes und der Reichsstatthalter Oberdonau einen donnernden Wortwechsel über vollendete Tatsachen. Kaltenbrunner hat seine Chance wahrgenommen. Aber er tut mehr noch, seine Lage in Altaussee zu verbessern.Am 2. Mai ist Adolf Eichmann in Altaussee aufgetaucht und hat sich unterhalb von Kaltenbrunners Domizil im Haus Fischerndorf Nr. 8 einquartiert. Seine Frau und seine drei Söhne weilen schon seit dem 25. April im Ort, Eichmanns Frau benutzt dabei ihren Mädchennamen Veronika Liebelt.Das Ausseer Land übt eine magische Anziehungskraft auf die NS-Größen aus. Sie verstecken Geld, Gold, Papiere und sich selbst für den Übergang im Untergang.Otto Skorzeny, SS-Standartenführer, Chef der Gruppe VI (Sabotage) in Kaltenbrunners Reichssicherheitshauptamt, ist seit April in Bad Aussee.Josef Tiso, Hitlers Quisling in der Slowakei, ist vor der Roten Armee nach Hallstatt geflohen.Konrad Henlein, der „Führer der Sudetendeutschen“, wartet in Bad Goisern auf das Ende. Das Ende erhofft in Bad Goisern Arnolt Bronnen, der Schriftsteller, der hier untergetaucht ist. Bronnen befürchtet die Rekonstruktion des „Austro-Faschismus“, wie er unter den Kanzlern Dollfuß und Schuschnigg geherrscht hat. Höttls Liste ist im Ort bekannt. Höttl hat sie in Goisern irrtümlich dem Sozialdemokraten Albrecht Gaiswinkler übergeben, der am 8. April aus einer Maschine der Royal Air Force für ein Kommando-Unternehmen abgesprungen ist. Josef Goebbels sollte in der Villa Roth am Grundelsee festgenommen werden, in der er sich vorübergehend aufgehalten hat.Kaltenbrunner in Altaussee kann den unbequemen Zeugen Eichmann dazu brin-gen, den Ort zu verlassen. Strikt vorher hat Kaltenbrunner ihm schon verboten, „Werwolfanschläge“ auf die Amerikaner und Briten im Gebirge zu organisieren. Veronika Liebelt bleibt bis 1952 in Altaussee. Eichmann hat nach fünf Jahren Flucht 1950 Argentinien erreicht. „Nach zweijährigem Dortsein ließ ich meine Familie, welche in Altaussee lebte, nachkommen“, sagt Eichmann nach seiner Festnahme durch die Israelis am 11. Mai 1960. Veronika Liebelt reist ungehindert hinterher. Ihr Mann ist bei „Mercedes-Benz-Argentinia“ tätig. Die Berge mögen sie auch hier. "In eintausendsechshundert Meter, in Rio Potreso, an der Grenze von Tueumän und Catamarca, lebte meine Familie. Je höher wir steigen, um so weiter wird unser sonst so begrenzter Blick."Kaltenbrunner im Haus der Malerin Christel Kerry wartet ab. Der Blick von der Terrasse ist prächtig. Und gut überschaubar die eine Straße, die aus dem Salzkammergut vom Pötschenpass hineinführt. Damals, als Jakob Wassermann nach Altaussee kam, sagte er: "So fand ich dann den Ort, an dem ich mich dauernd niederließ, das Tal im steirischen Gebirge, und diese Landschaft wurde mir zum Freund ..."Seit Tagen ergießt sich von Bad Ischl aus eine Schlange von sich auflösenden Heereseinheiten, Flüchtlingen, Panzern, Pferdefuhrwerken, Verwundeten, Wehrmachtsstäben in das Gebirge. Auf dem Pötschenpass hat eine SS-Einheit Stellung für den Kampf bis zur letzten Patrone bezogen. Wachmannschaften des nahen Konzentrationslagers Ebensee gehören dazu.Am 7. Mai um sechs Uhr früh beginnen die Amerikaner von Bad Ischl aus einen Vorstoß auf den Pötschenpass. Das Gelände versinkt nach einem Bombardement in einem Meer von Rauch und Flammen. Früh an diesem 7. Mai setzt sich der Chef des Reichssicherheitshauptamtes aus Altaussee ab. Das Signal vom Pötschenpass ist unüberhörbar. Direkt hinter der Villa Kerry führt ein Weg in das Loser-Gebiet und von da unter den Felswänden ein schroffer Bergpfad zum Hochklapfsattel. Man muss trittsicher sein. Dann weiter, dann der Forstort „Füchsleins Not“, dann am Abend die Wildensee Alm mit der im Winter verlassenen Hütte. Das „Tote Gebirge“. Kaltenbrunner begleiten seine SS-Vertrauten und zwei Altausseer, die die Gruppe führen, Fritz Moser und Sebastian Raudaschl.Am Morgen des 8. Mai trifft Oberst Robert E. Mattesson vom Counter Intelligence Corps, dem Geheimdienst der US-Armee, in Altaussee ein. Mattesson bringt eine Liste von zu verhaftenden Personen mit, an oberster Stelle steht der Chef des Reichssicherheitshauptamtes Ernst Kaltenbrunner. Mattesson ist am Vortag vom US-Hauptquartier in Bad Tölz in Marsch gesetzt worden. Zuerst ist er in Strobl gewesen und hat Elisabeth Kaltenbrunner nach dem Verbleib ihres Mannes befragt. Elisabeth Kaltenbrunner erklärt, sie wisse nichts Bestimmtes über seinen Aufenthalt. Mattessons nächste Station ist Bad Ischl. Hier bekommt er den Tipp, Kaltenbrunner könne in Altaussee sein. Am Nachmittag des 8. ist Mattesson mit seinen beiden Geheimdienstleuten im Ort nicht mehr allein. Eine amerikanische Kampfgruppe unter Leitung des Majors Ralph E. Pearsons erreicht Altaussee, um das Salzbergwerk zu besetzen. Die Amerikaner wissen Bescheid. Sie kennen die Schätze, die im Berg lagern. Sie sind schnell. Nun kann die Spezialeinheit folgen, die nur mit der Aufspürung von Kunstschätzen beschäftigt ist. Die Amerikaner errichten einen Sperrkreis um das Salzbergwerk. Oberst Mattesson wartet. Nach drei Tagen hat er Kaltenbrunners Spur. Sebastian Raudaschel ist zurück und offenbart am 11. Mai das Versteck auf der Wildenseealm. Noch in der Nacht macht sich Mattesson mit zwölf amerikanischen Soldaten und vier Einheimischen auf den Weg in das „Tote Gebirge“. Es liegt viel Schnee im Berg. Vier der Soldaten geben auf. Im Morgengrauen des 12. Mai taucht die Hütte vor dem US-Kommando auf. Sie sind acht Stunden unterwegs gewesen. Mattesson geht allein weiter. Er klopft an die Tür.Kaltenbrunner muss Illusionen über das Versteck gehabt haben. Sollte ihm, dem Jäger, nicht wenigstens für ein paar Tage gelingen, was den Gejagten über Monate und Jahre gelang? Sein SD, die Polizei, die Gestapo haben kaum jemals einen der Widerständler, Deserteure, Verfolgten, die sich in der unwegsamen Bergwelt zwischen Dachstein und Totem Gebirge verbargen, zu fassen bekommen. Legendär die Gestalt des Sepp Plieseis. Plieseis kämpfte in Spanien in den Internationalen Brigaden, war in den französischen Internierungslagern, geriet in die Hände der Gestapo, flüchtete im Oktober 1943 aus einem Außenlager von Dachau und scharte im Oberen Salzkammergut eine Gruppe von Widerstandskämpfern um sich. Bauern, Jäger, Sennerinnen, Wilddiebe halfen auf abenteuerliche Weise zu überleben. Im September 1944 war die letzte Jagd auf Plieseis im Gebiet Wildenseealm. Der SD tarnte sie vor der Bevölkerung als angebliche Suche nach entlaufenen „Ostarbeitern“. Am 8. Mai ist Plieseis in Bad Goisern und macht Arnolt Bronnen, den Mann vieler zeitgeschichtlicher Rollen, zum ersten Bürgermeister des Alpenortes nach den Nazis.Auf der Wildenseealm öffnet nach mehrmaligem Klopfen Mattessons ein SS-Mann die Tür der Hütte. Der SS-Mann verneint die Anwesenheit Kaltenbrunners und Scheidlers. Es seien nur zwei SS-Ärzte in der Hütte, ein Stabsarzt und ein Oberarzt. Zum Wintersport. Die Ärzte zeigen ihre Ausweise vor. Oberst Mattesson lässt alle vier Personen, die sich in der Hütte aufhalten, verhaften und bereitet den Abstieg nach Altaussee vor. In der Hütte liegt eine große Menge von Waffen. Und in der Asche des Ofens etwas Metallenes. Es ist die Erkennungsmarke Nummer 2 des Reichssicherheitsdienstes. Mattesson weiß jetzt, dass er tatsächlich Kaltenbrunner gefangen hat. In seinen Unterlagen befindet sich ein Hinweis auf das Metall.Mattesson hat an die Tür, hinter der der höchste Funktionsträger der SS verborgen sein kann, wie bei einem Morgenbesuch auf der Alm geklopft. Die SS steht nicht gerade im Ruf, schnell die Waffen zu strecken. Warum rechnet er nicht mit Widerstand? Ist Mattesson besonders kaltblütig oder ist da noch etwas anderes? Unten im Ort bestätigt dem CIC-Mann ein prominenter Einwohner, Prinz Hohenlohe-Schillingsfürst, der angebliche SS-Stabsarzt Dr. Josef Unterwogen sei in Wirklichkeit Ernst Kaltenbrunner. Hohenlohe-Schillingsfürst und zwei andere Herren haben Altaussee an die Amerikaner „übergeben“. Eine herzige Legende sagt, Gisela von Westarp habe diese Bestätigung geliefert. Beim Anblick ihres Geliebten sei sie Kaltenbrunner um den Hals gefallen. Kaltenbrunner liebt die Frauen. Und den Alkohol. Mattesson lässt den Chef des Reichssicherheitshauptamtes und die anderen drei SS-Leute in das Hauptquartier der 3. US-Armee nach Bad Tölz abtransportieren.Das kleine Szenario Kaltenbrunners hat versagt, die ersten turbulenten Tage auf der Wildenseealm zu überstehen, um sich dann anzubieten. Kaltenbrunners Bruder Werner wird später sagen, Ernst habe da oben die Gefangennahme lediglich um ein paar Tage hinauszögern wollen, und einer der Einheimischen, die Kaltenbrunner auf die Hütte begleitet haben, berichtet, Kaltenbrunner habe ihn gefragt, ob er bereit sei, „später“ die Verbindung zu den Amerikanern herzustellen. Das große Szenario Kaltenbrunners hat versagt, das Ende des Dritten Reiches findet nicht als „Endkampf mit dem Sowjetkommunismus“ statt. Kaltenbrunner steht in der NS-Hierarchie zu weit oben, um ungeschoren davonzukommen. Er verantwortet nach dem Selbstmord Himmlers als höchster verbliebener SS-Führer die Gestapo, den SD, den Ausrottungsfeldzug gegen die Juden, das Morden der „Einsatzgruppen“ in der Sowjetunion, die Konzentrationslager. Kaltenbrunners Alpeninszenierung des Endes ist gescheitert. Er wird im Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozess zum Tode verurteilt und im Oktober 1946 hingerichtet. Kaltenbrunner stirbt ohne Einsicht. Er habe alles der „großen, guten Sache“ geopfert, sagt er. Seine einzige Schuld sei „rein persönlicher Art“. Niemand, außer seiner Frau Elisabeth, könne ihn verurteilen.Im Jahr 1948 findet der Jäger Herbert Köberl unter dem Fußboden der Wildenseehütte 200 000 Reichsmark. Aus einem Beet unmittelbar vor der Villa Kerry werden 76 kg Gold, 10 000 Goldstücke, 15 000 Dollar und 8 000 Schweizer Franken aus der Erde geholt. Das Dienstsiegel Kaltenbrunners wird im September 2001 von Tauchern aus dem Altausseer See am Beginn des Weges zum Strandcafé geborgen. Sie finden im Wasser auch eine Enigma-Chiffriermaschine. Kaltenbrunner wird nachgesagt, er habe als „Fluchtgeld“ über sehr viel mehr Gold und Geld als das gefundene verfügt.Wilhelm Höttl steht 1945 als Zeuge der Anklage dem Nürnberger Tribunal zu Verfügung. Wozu er sich den alliierten Geheimdiensten zur Verfügung stellte, liegt weitgehend im Dunkeln. Höttl verwaltet nach 1945 offenbar nicht unbeträchtliche Geldmittel. Kaltenbrunners Mitarbeiter gelingt der Übergang. Er gründet 1952 in Bad Aussee ein privates Gymnasium, das Jugendliche mit Schulschwierigkeiten zum Abitur führt. Es wird unter anderem von André Heller besucht. 1980 macht Höttl Konkurs. Seine Schule übernimmt das Land Steiermark. Höttl stirbt 1999 in Bad Aussee als Träger des Großen Ehrenzeichens des Landes.Die Malerin Christel Kerry erreichte das neunzigste Lebensjahr und starb im Dezember 1978. Ihr Haus ist die Station V der sich durch Altaussee schlingenden „Via Artis“. In der örtlichen Wegbeschreibung wird der Ausblick von der Villa Kerry als der „Große Künstlerblick“ vorgestellt. Von anderem ist nicht die Rede.Der junge SS-Mann, der Anfang April 1945 aus Berlin noch einmal zum „Heimat-urlaub“ nach Altaussee kam und sich entschloss, trotz der familiären Warnung zurückzugehen, ist namenlos untergegangen. Sein Bild hängt als große farbige Zeichnung in dem Zimmer, in dem ich im vorigen Sommer schlief. Es zeigt einen schneidigen jungen SS-Panzerkommandanten.Ich bin gern in Altaussee. Ich bin jeden Sommer da. Es ist ein ruhiger, abseits gelegener Ort, in dem man die Welt vergessen kann.

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  • M. Wildt: Generation des Unbedingten | H-Soz-Kult
    http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-1399

    Auf über 900 Seiten zeichnet der Autor ein faktenreiches, komprimiertes aber trotzdem jederzeit vorzüglich lesbares Bild einer Generation, die sich „unbedingt“ in den Dienst der Sache des Reichssicherheitshauptamtes und damit der Judenvernichtung stellte. Der Gang der Untersuchung spannt einen weiten Bogen von der „Weltanschauung“ dieser Generation über die „Institution“ des Reichssicherheitshauptamtes, den „Krieg“ bis zur „Rückkehr in die Zivilgesellschaft“.

    Getragen wurde dieses Amt von der „Generation des Unbedingten“, die die Jahrgänge zwischen 1900 und 1910 umfasste (S. 52). Ihre „Unbedingtheit“ zeigt Michael Wildt in allen ihren Facetten. Zugleich gelingt es ihm – und das ist umso bemerkenswerter – die verschiedenen „Unbedingtheiten“ im Denken wie im Handeln auf ihren Ausgangspunkt zurückzuführen, nämlich der humanitären „Entgrenzung“ einer ganzen Generation.

    Wie Michael Wildt treffsicher analysiert, hatte diese „Entgrenzung“ einen ihrer Höhepunkte an den deutschen Universitäten in den zwanziger Jahren (S. 89ff., 850f.). Zu diesem Zeitpunkt drängte eine Generation an die Hochschulen, die den Krieg als „Spiel“ erlebt hatte. Daraus resultierte ein nicht zu unterschätzender Neidfaktor auf die „Schützengrabengeneration“ verbunden mit einer zum Teil hasserfüllten Antipathie gegen die Weimarer Republik.
    Aus diesen Kreisen sollte sich ein Großteil der späteren Elite des Reichssicherheitshauptamtes rekrutieren. Mit der nationalsozialistischen Machtergreifung wurden diese jungen Männer förmlich in Positionen katapultiert, deren Machtfülle kaum zu erahnen war. Hier bot sich die Gelegenheit den bohrenden Stachel der verpassten Bewährung auf dem Schlachtfeld des Ersten Weltkrieges durch eigene Taten zu kompensieren

    Notwendigerweise folgte der bereits zu Tage tretenden „Entgrenzung“ im Denken eine „Entgrenzung“ im Handeln. Diese manifestierte sich nicht zuletzt in der Zahl der Menschen, die das Reichssicherheitshauptamt als „Gegner“ und „Feinde“ definierte. Fielen 1939 mit der Eroberung Polens über drei Millionen Menschen in diese Kategorie, so hatte sich die Zahl bis zur „Wannsee-Konferenz“ im Jahre 1942 mehr als verdreifacht und umfasste die geplante Vernichtung von elf Millionen Menschen.

    Zwangsläufig äußerte sich diese „Entgrenzung“ auch in juristischer Sicht. Im Oktober 1939 entschied Hitler, dass die SS und Polizei aus der Wehrmachts- bzw. der ordentlichen Gerichtsbarkeit herausgelöst werden sollte und die Einrichtung einer eigenen Sondergerichtsbarkeit in Strafsachen für Angehörige der Waffen-SS, der SS-Totenkopfverbände und der Angehörigen der Polizeiverbände „bei besonderem Einsatz“ zu erfolgen habe. Damit wurde letztlich die Sicherheitspolizei und der SD von der Kontrolle der regulären Kriegsgerichte der Wehrmacht „entgrenzt“ (S. 476f.). Die Jahre 1940/41 führten zu einer drastischen Radikalisierung der nationalsozialistischen Besatzungs- und Verfolgungspolitik, die schließlich im Massenmord gipfelte.

    Männer ohne Grenzen - DER SPIEGEL 18/2005
    http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-40254103.html#spRedirectedFrom=www&referrrer=

    SPIEGEL: Die Faszination Speers wird oft darauf zurückgeführt, dass er als Intellektueller aus der Entourage Hitlers herausragte, in der ansonsten soziale Außenseiter und gestrandete Existenzen den Ton angaben. War Speer wirklich ein Einzelfall?

    Wildt: Im Gegenteil, es gab sehr viele junge Akademiker wie Speer in den NS-Führungsgremien. Diese Generation trug ja das System. Nehmen Sie das Reichssicherheitshauptamt, die Terrorzentrale des NS-Regimes. Dort gehörten drei Viertel der Führungsschicht den Jahrgängen 1900 und jünger an, zwei Drittel hatten studiert, die Hälfte davon mit Promotion. Im Sicherheitspolizei- und SD-Apparat insgesamt waren die Zahlen ähnlich.

    SPIEGEL: Einer von ihnen war der Volkswirt Otto Ohlendorf. Die alliierten Richter in Nürnberg zeigten sich fassungslos, wie ungerührt er zugab, als Einsatzgruppenleiter in der Sowjetunion für die Ermordung von 90 000 Menschen verantwortlich

    gewesen zu sein. Das Gericht verglich Ohlendorf mit der Romanfigur Dr. Jekyll und Mr. Hyde, einer gespaltenen Persönlichkeit. Hilft das als Erklärungsansatz?

    Wildt: Die Wirklichkeit sieht noch schrecklicher aus. Ich denke, dass dieser Elite jegliche Empathie fehlte, jedes Mitleid. Albert Speer hat von sich gesagt, wenn man große Dinge vorhabe, müsse man ganz kalt sein. Monströse Pläne wie das Germania-Projekt wurden für Massen, nicht für Menschen entworfen. In den Siedlungsplänen für den Osten sollten ganze Völker vertrieben, versklavt oder ermordet werden.

    SPIEGEL: Aber solche Utopien rieben sich doch an der Realität.

    Wildt: Die Realität hat Weltanschauungstäter noch nie beeindruckt. Leute wie Speer oder Heydrich akzeptierten nicht die Grenzen, die ihnen die Wirklichkeit setzte, sondern wollten sie mit noch radikaleren Mitteln durchbrechen, um ihre Ziele zu erreichen.

    SPIEGEL: Dieses Abhandensein jeglicher Empathie ist ja nicht angeboren. Wie entstand es?

    Wildt: Für mich ist zum Beispiel der Germania-Plan so etwas wie der Turmbau zu Babel. Mit einer solchen Selbstüberhöhung verliert man sein menschliches Maß, man wird unmenschlich.

    SPIEGEL: Reicht das als Erklärung aus?

    Wildt: Nein, auch die Institutionen waren der Entgrenztheit angepasst. Diese junge Elite ging ja in Institutionen, die sie selbst gestalteten. Das waren keine herkömmlichen Behörden. Politisch, nicht administrativ sollte gehandelt werden. „Kämpfende Verwaltung“ nannte Heydrich das.

    Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes. Studienausgabe Taschenbuch – 28. März 2003 - EUR 25,00

    #Allemagne #histoire #nazis #biographie #RSHA #terrorisme