• Berlins dunkle Geschichte: Die vergessene Geheimdienstzentrale der Nazis
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    29.7.2022 von Armin Fuhrer - In Charlottenburg befand sich die Zentrale von Hermann Görings „Forschungsamt“, eines streng geheimen Abhördienstes. Stadtgeschichte, die man kennen sollte.

    Die Schillerstraße in Charlottenburg wirkt an diesem Sommertag ein wenig abgehoben vom brausenden Großstadtverkehr, der nur einen Steinwurf entfernt am Ernst-Reuter-Platz tobt. Ruhig liegt sie da, nur wenige Menschen queren die Bürgersteige und nur ab und an durchfährt ein Auto die stille Straße. Vor allem die Kreuzung Schiller- und Schlüterstraße, wirkt geradezu heimelig. Hier beginnt leicht zurückgesetzt ein großer Gebäudekomplex, das Oberstufenzentrum Körperpflege, ein moderner Zweckbau, der sich zig Meter an der Schillerstraße entlangzieht.

    Was kaum jemand weiß: Genau an dieser Stelle mitten in Charlottenburg, wo heute zukünftige Friseure, Maskenbilderinnen und Zahntechniker ausgebildet werden, befand sich von 1935 bis 1945 die Zentrale des „Forschungsamtes des Reichsluftfahrtministeriums“. Der harmlos klingende Name war eine geschickte Tarnung.

    Tatsächlich verbarg sich dahinter ein großer, heute vergessener Geheimdienst des Dritten Reiches, der über ein Beinahe-Monopol bei der Telefonüberwachung und zahlreiche weitere Kompetenzen verfügte. Sein oberster Herr war Hermann Göring. Adolf Hitlers zweiter Mann hatte sich mit dieser Behörde, die in ihren besten Zeiten bis zu 6000 Mitarbeiter hatte, ein äußerst wirkungsvolles Instrument geschaffen, mit dem er alles und jeden überwachen konnte: Regimegegner, Wehrmachtsgeneräle, Wirtschaftsunternehmen, Botschaften und ausländische Staatsmänner und Nazi-Funktionäre.

    Die äußerst breite Geschichtsschreibung zum Dritten Reich hat das Forschungsamt fast völlig ignoriert, weil es kaum Spuren hinterließ. Selbst renommierte Historiker sind oft ahnungslos, was diese Institution betrifft.

    Von Göring verborgen hinter dem Namen „Forschungsamt“
    Göring baute seine neue Behörde fast vom ersten Tag nach der Machtübernahme Hitlers auf. Er erkannte sofort die Möglichkeiten, die ihm eine solche Einrichtung bieten würde, denn ihm war klar, dass er durch die heimliche Überwachung des Telefonverkehrs viele wertvolle Informationen in die Hände bekommen würde. Er integrierte die neue Überwachungsbehörde, obwohl sie eine Einrichtung der NSDAP war, in sein gerade im Entstehen befindliches Reichsluftfahrtministerium und nannte es „Forschungsamt“, sodass seine wirkliche Bedeutung vor der Öffentlichkeit und dem Ausland verborgen blieb.

    Zu den Aufgaben des Forschungsamtes gehörten die Überwachung des Funkverkehrs, die Dechiffrierung verschlüsselter Nachrichten zum Beispiel der Botschaften in Berlin und später der Kriegsgegner sowie die Auswertung der gewonnenen Erkenntnisse ebenso wie die intensive Beobachtung des ausländischen Rundfunks und der Zeitungen.

    Für die Bedeutung, die es bald erlangen sollte, war aber vor allem eine Entscheidung Hitlers ausschlaggebend, die Göring bei ihm durchgesetzt hatte: Das Amt bekam das Monopol bei der Überwachung der Telefone – keine andere Institution des Dritten Reiches durfte die Telefonleitungen anzapfen. Erst 1940 setzte Reichspostminister Wilhelm Ohnseorge durch, dass auch seine Behörde, in deutlich geringerem Umfang, den Telefonverkehr überwachen durfte.

    Die Akten wurden fast komplett vernichtet
    Die Anfänge waren sehr bescheiden. In den ersten Monaten nach der Gründung im April 1933 arbeiteten etwa zehn Männer am Aufbau der Behörde, die zunächst im Dachgeschoss des neuen Luftfahrtministeriums in der Behrenstraße (das später in sein neues Gebäude an der Wilhelmstraße wechselte) in Mitte untergebracht wurde. Doch schon wenige Monate später stand aus Platzgründen der erste Umzug in ein Gebäude gegenüber an. Bis Ende des Jahres 1933 erhöhte sich die Mitarbeiterzahl auf 133. Zwei Jahre später folgte der Umzug in die Schillerstraße.

    Hermann Göring als oberster Chef delegierte die Kontrolle des Forschungsamts an seinen Staatssekretär Paul Körner. Darunter stand an der Spitze ein Leiter. Es gab während der zwölfjährigen Existenz des Amts insgesamt drei Chefs, am längsten stand Prinz Christoph von Hessen an der Spitze, von 1935 bis 1943. Das Amt wurde in sechs Hauptabteilungen gegliedert, später kam es zu mehreren Umstrukturierungen.

    Schon bald konnte die neue Einrichtung auf große Erfolge blicken. Wen genau die Mitarbeiter des Forschungsamtes alles abhörten, ist heute leider nicht mehr nachzuvollziehen, denn die Akten wurden fast vollständig in der letzten Phase des Zweiten Weltkrieges vernichtet. Aber aus Funden in anderen Archivunterlagen und späteren Aussagen von Angestellten des Amtes kann immerhin einiges nachvollzogen werden.

    „Braune Blätter“ mit Berichten für Göring
    Göring setzte sein Machtmittel natürlich gegen die Gegner des NS-Regimes ein. Zum Beispiel wurden Kritiker aus Kirchenkreisen überwacht. Auch Wirtschaftsunternehmen gerieten ins Visier, so zum Beispiel die Zentrale der Junkers-Flugzeugwerke in Dessau, die Göring unter seine Kontrolle bringen wollte. Er bekam die Berichte über abgehörte Telefonate schriftlich auf den Schreibtisch. Sie waren auf braunem Papier gedruckt und hießen daher intern „Braune Blätter“. Auch Hitler wurde jeder Bericht geschickt. Ein Kreis von hohen Behördenchefs bekam ebenfalls ausgewählte Berichte zur Ansicht.

    Kaum überraschend gerieten auch schnell ausländische Regierungen ins Visier von Görings Lauscher. Das gilt zuallererst für die in Berlin angesiedelten Botschaften, deren Funk- und Telefonverkehre intensiv überwacht wurden. Aber Deutschlands Lage in der Mitte Europa bot noch mehr Möglichkeiten: Weil viele Telefonverbindungen von Ost nach West durch das Land gingen, konnten auch sie angezapft und damit der Verkehr zwischen den Botschaften beispielsweise in Prag oder Warschau mit den Außenministerien in London oder Paris überwacht werden.

    Ein spektakulärer Erfolg gelang dem Forschungsamt zum Beispiel während der Konferenz von Bad Godesberg vom 22. und 23. September 1938, auf der es um die von Hitler erhobenen Ansprüche auf das Sudetenland ging. Das Forschungsamt hörte während dieser Konferenz den gesamten Telefon- und Funkverkehr zwischen dem angereisten britischen Premierminister Neville Chamberlain und seiner Regierungszentrale in London ab.

    Auch die eigenen Leute waren nicht sicher
    Der größte Abhör-Coup gelang allerdings nicht dem Forschungsamt, sondern der Reichspost. Ihrer „Forschungsstelle“ gelang es, in der Nacht vom 28. auf den 29. Juli 1943 über eine Abhörstation in Holland ein Telefongespräch zwischen US-Präsident Franklin D. Roosevelt und dem britischen Premierminister Winston Churchill abzuhören.

    Aber auch die eigenen Leute waren nicht sicher vor Görings Lauschern. So gibt es beispielsweise den schriftlichen Bericht eines ehemaligen Mitarbeiters aus der Nachkriegszeit, nach dem nahezu alle Telefonate von SA-Führer Ernst Röhm in den Wochen vor seiner von Hitler angeordneten Ermordung am 30. Juni 1934 im Zuge des sogenannten Röhm-Putsches abgehört worden seien. Erwiesen ist, dass hohe Wehrmachtsoffiziere, denen gegenüber Hitler und Göring stets misstrauisch waren, überwacht wurden.

    Abgehört wurde auch der Gauleiter aus Franken und Herausgeber des antisemitischen Hetzblattes „Der Stürmer“, Julius Streicher. Und eine Weile konnten sich die Männer in der Schillerstraße sogar den nächtlichen Abhördienst mit dem Liebesgesäusel von Joseph Goebbels versüßen. Als der liebestolle Propagandaminister seine Frau Magda betrog und stundenlang mit seiner Geliebten, der Schauspielerin Lida Baarova, telefonierte, wurde er regelmäßig abgehört. Daran erinnerte sich nach dem Krieg im Verhör mit dem britischen Geheimdienst ein Mitarbeiter, der selbst gebannt die nächtlichen Telefonate mitgehört haben wollte. Die Berichte wurden sehr wahrscheinlich Hitler vorgelegt, der Goebbels zur Beendigung des Verhältnisses zwang.

    Die Zahl der Mitarbeiter stieg nach dem ersten Umzug des Amts 1933 rasant an. 1938 soll sie nach der Aussage eines Mitarbeiters aus der Nachkriegszeit bei 3800 gelegen haben, während der Hochphase im Krieg bei 6000. Ein großer Teil davon arbeitete in Abhörstationen, genannt „Forschungsstellen“, die in deutschen Städten und nach dem Beginn des Krieges in den besetzten Gebieten aufgebaut wurden und der Zentrale ihre Berichte lieferten.

    Das hochgesicherte Gebäude fiel Passanten kaum auf
    Als 1935 die Räume in der Behrenstraße nicht mehr ausreichten, wurde dringend nach einer neuen Zentrale gesucht. Sie wurde schließlich in Charlottenburg gefunden. In der Schillerstraße 116–120 bot sich ein großer Komplex, die Schillerkolonnaden, an, die vermutlich ursprünglich als Wohngebäude für Angehörige der Reichswehr gebaut worden waren. Hier wurde auch ein riesiges Archiv mit Karteikarten und auf Schelllackplatten aufgezeichneten Gesprächen angelegt.

    Obwohl das Gebäude hochgesichert war, fiel ahnungslosen Passanten nicht auf, was sich in dem Komplex, der später noch vergrößert wurde, befand. Das Forschungsamt war unter seiner offiziellen Bezeichnung sogar mit Rufnummer und Adresse im Berliner Adressbuch aufgeführt und verfügte über einen eigenen Poststempel.

    Mitten im Zentrum der Reichshauptstadt befand sich nun also eine Einrichtung, die nahezu jeden ins Visier nehmen konnte. Bald schwirrten Gerüchte durch die Berliner Luft, dass zahlreiche Telefonate abgehört werden würden, man mahnte zur Vorsicht. Insgesamt soll das Amt nach Schätzungen ehemaliger Mitarbeiter rund eine halbe Million Telefongespräche abgehört haben. Das mag uns heute in Zeiten von NSA und BND wenig erscheinen, aber für die damalige Zeit war das eine beeindruckende Menge.

    Während des Krieges nahm die Bedeutung des Forschungsamtes aber stetig ab. Vor allem, weil Hitler lieber seiner „Intuition“ vertraute als den Erkenntnissen der Abhörexperten. Sie hatten beispielsweise viele Daten zu Fabriken in der Sowjetunion gesammelt und daraus geschlossen, dass Armee und Wirtschaft des Landes bei weitem nicht so schwach waren, wie Hitler und die Führung der Wehrmacht glaubten. Doch der „Führer“ hörte nicht auf sie und griff im Juni 1941 die Sowjetunion an. Das Ergebnis ist bekannt.

    Die Alliierten ahnten nichts von der Existenz des Amts
    Am 22. November 1943 wurden große Teile des Gebäudekomplexes in der Schillerstraße bei einem verheerenden Bombenangriff zerstört. Mit ihm ging ein Teil der Akten in Flammen auf. Die Zentrale wurde daraufhin nach Breslau verlegt. Nach dem gescheiterten Attentat vom 20. Juli 1944 auf Hitler übernahm SS-Führer Heinrich Himmler die Kontrolle über das Forschungsamt.

    Kurz vor der Belagerung Breslaus durch die Rote Armee wurden die verbliebenen Mitarbeiter Anfang 1945 in zwei Gruppen aufgeteilt. Die eine ging nach Schleswig-Holstein, die andere nach Bayern. Bei Kriegsende verstreuten sie sich in alle Himmelsrichtungen. Weil sie genau wussten, welch gefährliches Wissen in den noch verbliebenen Akten steckte, verbrannten sie vorher das Material. Auf die Brisanz der Unterlagen deutet auch die Tatsache hin, dass zwei der drei Chefs des Amtes unter mysteriösen Umständen bei Unfällen ums Leben kamen, nachdem Göring das Vertrauen in sie verloren hatte. In beiden Fällen ist es gut möglich, dass er seine Finger im Spiel hatte.

    Wie erfolgreich das Forschungsamt arbeitete, können wir heute nur erahnen. Übrigens hatten auch die Alliierten absolut keine Ahnung von seiner Existenz. Sie kamen ihm erst in der unmittelbaren Nachkriegszeit durch Äußerungen ehemaliger Mitarbeiter, die zufällig in ihre Hände geraten waren, auf die Spur und begannen, Informationen zu sammeln, die sich heute noch in den Archiven in den USA und England finden. Auch Göring erwähnte während des Kriegsverbrechertribunals in Nürnberg sein Forschungsamt – mit unverhohlenem Stolz.

    Armin Fuhrer ist Journalist und Historiker. Er hat das Buch „Görings NSA. Das ‚Forschungsamt‘ im Dritten Reich. Die unbekannte Geschichte des größten Geheimdienstes der Nazis“ veröffentlicht.

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  • Berlin-Neukölln: Mädchenklub „Schilleria“ droht die Schließung - Reportage - Tagesspiegel
    http://www.tagesspiegel.de/themen/reportage/berlin-neukoelln-maedchenklub-schilleria-droht-die-schliessung/20693426.html

    11.12.2017, 05:43 Uhr Armin Lehmann

    Kein Opfer sein, den Mund aufmachen, das lernen sie in der „Schilleria“. Doch der Mädchenklub im Neuköllner Schillerkiez ist in Gefahr. Über seine Zukunft wird am heutigen Montag entschieden.

    Soumaya wartete einst sehnsüchtig auf den Tag, an dem sie endlich sieben werden würde. Denn erst mit sieben Jahren darf man hier rein. Sie bemerkte neidisch, wie glücklich ihre Schwester und ihre Cousinen aussahen, die schon hier waren. Und als sie schließlich hinein durfte, da duftete es, denn es wurde gerade gekocht, und schon bald war sie ein Vogel in einem Theaterstück über Tiere, die sich erst gar nicht verstanden, aber das war nur ein Missverständnis, und es gab ein glückliches Ende.
    Hier in der Schilleria, in ihrem geliebten Mädchenklub, hat sich ihr Leben verändert.
    Elf Jahre später sitzt Soumaya an einem schlichten Holztisch in der Schilleria, Schillerkiez in Berlin-Neukölln, neben ihr ihre Schwester, die Cousinen und andere Freundinnen. Alle, die hierher kamen, waren erst schüchtern, aber neugierig, ängstlich und doch hoffnungsvoll. Nun sind sie alle junge Frauen, manche schon volljährig, selbständig und mutig, heiter und klug, viele von ihnen werden die ersten Akademikerinnen in ihren Familien sein, fast alle haben einen Migrationshintergrund. Wenn sie eines gelernt haben in ihrem Mädchenklub, der nun um seine Existenz kämpft, dann das: Sei kein Opfer, überwinde Ohnmacht und Einflusslosigkeit – mach die Klappe auf!
    Soumaya, nun 18 Jahre alt, dreht sich zurück in den Raum, als müsse sie sich vergewissern, dass es ihn noch gibt: die kleine Bar, der Kicker, die selbst bemalten Wände, dahinter der Flur zur Küche, zum Theaterraum, zum Musikraum, zu den Computern und Büchern. Dann sagt sie zu ihrer Schwester Sourour, ihren Cousinen Zaineb und Fatima und ihren Freundinnen Feyza, Eda und Sebahat: „Wir gehen hier nicht weg.“ Der Nachmieter würde ihnen schon sehr leidtun, der könne sich auf was gefasst machen.
    Es klingt wie eine Drohung. Dann lacht sie und alle lachen mit, ausgelassen und ein bisschen bitter zugleich, denn eigentlich wissen sie nicht so genau, was sie nun noch tun können. Man kann an ihren Gesichtern ablesen, welche Bedeutung dieser mit bunten Graffiti verzierte Laden im Erdgeschoss des Mietshauses an der Weise-/Ecke Herrfurthstraße für den Kiez und seine Mädchen besitzt.
    Sozialer Brennpunkt und Boom-Kiez
    Die Schilleria gibt es seit 2003, es ist die einzige Mädcheneinrichtung im Kiez. Vor zwei Monaten hat sie die Kündigung erhalten. Wenig später bot der Eigentümer, laut dem Neuköllner Bezirksamt ein Immobilieninvestor namens Greta AG, einen neuen Mietvertrag an, allerdings zum dreifachen Mietpreis. „Mindestens“ 15 Euro pro Quadratmeter stelle sich der Eigentümer vor, heißt es. Aus dem Bezirksamt ist zu hören, man könne aber nur maximal zwölf Euro zahlen. Auf Nachfrage sagt eine Mitarbeiterin der Greta AG, man möge sich an die Hausverwaltung Hachmann wenden. Dort heißt es: „Wir sagen gar nichts.“ Der Mitarbeiter, der namentlich nicht genannt werden will, bestätigt nicht, dass der Eigentümer die Greta AG sei, dementiert es aber auch nicht.
    An diesem Montag wollen sich Vertreter des Bezirksamts, der Schilleria und ihres Trägers, des Mädchenvereins „Madonna“, mit dem Geschäftsführer des Eigentümers zu einem Runden Tisch treffen. Dass sie sich einigen, ist eher nicht zu erwarten.
    15 Euro sind im Vergleich zu den Gewerbemieten, die mittlerweile verlangt werden, nichts. 50 Euro werden jetzt schon pro Quadratmeter aufgerufen. Kommt es heute zu keiner Einigung, ist für die Schilleria zum 1. Januar Schluss. Einen Block weiter hat ein anderer Groß-Investor einem palästinensischen Verein, der vor allem Sozialarbeit macht, angeboten, die zwei bislang genutzten Räume zu kaufen – für 250 000 Euro. Das Angebot kommt einem Rausschmiss gleich. Die Schilleria steht nicht alleine da. Ihr Schicksal ist zugleich symptomatisch für eine Entwicklung, die nicht nur Neukölln betrifft: Immer mehr Jugend-, oder Senioren- und anderen Freizeiteinrichtungen wird gekündigt oder die Miete für ihre Räume wird drastisch erhöht. Der Neuköllner Baustadtrat Jochen Biedermann sagt: „Wir haben jede Woche Notrufe. Wir kommen nicht hinterher, können uns nicht um alle kümmern.“
    Der Schillerkiez ist sozialer Brennpunkt und Boom-Kiez zugleich, sechs Blocks mit 808 Häusern und knapp 12 300 Wohnungen, in denen Tradition auf Zuzug trifft, Eckkneipe auf Hipster-Café, Bruchbude auf Luxus-Dachgeschoss; hier wollen Investoren aus aller Welt auf Berlins noch immer heißestem Sperrmüll-Hotspot mit jährlich bis zu 800 Tonnen illegal abgelagerten Schrott fette Beute machen. Es ist ein Ort, an dem Berlins lähmender Stillstand und seine gleichzeitig rasante Entwicklung wie im Brennglas zu betrachten sind.
    „Es gibt keine Gnade mehr“
    Ein Dachgeschoss am Ende der Herrfurthstraße mit Blick auf das Tempelhofer Feld, nur ein paar Meter von der Schilleria entfernt, wird derzeit für mehr als eine Million Euro Kaufpreis angeboten, ein anderes Dachgeschoss in unmittelbarer Nähe in der Schillerpromenade für 1,2 Millionen Euro. 91 Prozent der Häuser wurden vor 1945 erbaut, es gibt also fast nur Altbauwohnungen, die wiederum haben bei der Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen die größten Margen. Und wer noch eine Mietwohnung hat, muss aufpassen: 70 Prozent beträgt die Mietsteigerung in Neukölln seit 2009, fast 100 Prozent im Schillerkiez.
    Früher, sagt der Anwalt Max Althoff, der hier seit 2011 mitten im Kiez Mietberatung anbietet, habe das Juristische, die Durchsetzung von Recht, kaum eine Rolle gespielt, weil die Alteigentümer ihre Mieter und deren Probleme kannten. Es wurde Rücksicht genommen. Heute werde bei der geringsten Zahlungsverzögerung die Kündigung rausgeschickt. Es gebe kaum noch Alteigentümer, nur große Investoren oder Immobilienfonds. Der Mietanwalt kann dutzende Geschichten erzählen, wie Mieter mit dubiosen Methoden rausgedrängt werden. Eine Familie etwa bekomme die Kündigung, weil es angeblich ständig streng aus ihrer Wohnung rieche, acht Zeugen im Haus konnten den Geruch nicht bestätigen, nur die Mitarbeiter der Hausverwaltung, die gar nicht täglich vor Ort seien. Althoff sagt: „Es gibt keine Gnade mehr.“
    Die Schilleria gehört zum Mädchenverein Madonna, der sich wiederum seit 37 Jahren um junge Frauen im sozialen Brennpunkt kümmert. Die Schilleria-Leiterin Sinaya Sanchis, die hier seit 2006 arbeitet, hat eine zweite, feste Mitarbeiterin, der Rest des Teams wird von ehrenamtlichen Frauen gebildet, die zum Teil selbst als Jugendliche die Schilleria besuchten. Der Ansatz, der hier verfolgt wird, nennt sich „Empowerment“. Es geht darum, Autonomie und Selbstbestimmung von Mädchen und jungen Frauen zu stärken. Vor allem Mädchen machen nach wie vor fast täglich Erfahrungen mit Mobbing, verbalen Attacken und sexueller Anmache in der Schule. Eine Lehrerin, die nicht genannt werden will und selbst Migrationshintergrund hat, sagt: „Vor allem die verbalen Übergriffe auf die Mädchen sind Alltag, der Druck auf sie ist groß. Es ist kaum möglich, sich dem zu entziehen. Leider haben Lehrer oft Angst, die Dinge anzusprechen und zu sanktionieren.“
    Die Schilleria ist Wagenburg und Zufluchtsort zugleich, Zweitfamilie allemal, Ansporn für Selbstfindung und Kreativität. Die großen Mädchen geben dieses Erbe ihren Schwestern und Cousinen weiter. Samstags ist der Tag der jungen Frauen. Sie sind dann unter sich, ohne Betreuerinnen. Alle ihre Geschichten handeln vom Wachsen, nicht nur vom Erwachsenwerden: Soumaya wurde in der Grundschule von einer Mädchengruppe gemobbt. Als sie das in der Schilleria erzählte, sagten die Betreuerinnen, sie solle sich dem Konflikt stellen und die Mädchen ansprechen. Soumaya hatte Angst, sie sagte: „Mach’ ich niemals.“
    Opferrollen mögen sie nicht
    So fängt es hier immer an: mit Abwehr bei den Mädchen und Geduld bei den Betreuerinnen. Irgendwann war Soumayas Leidensdruck so groß, dass sie etwas ändern wollte. Genau an dem Holztisch, an dem die jungen Frauen nun an einem Samstag im November 2017 sitzen, saß Soumaya auch damals. „Setz dich“, hieß es. „Jetzt diskutieren wir, was du machen kannst.“ Mit Hilfe der Betreuerinnen hat Soumaya die anderen in der Schule zur Rede gestellt, sie kamen ins Gespräch. Eines der Mädchen, die sie so geärgert hatten, wurde eine Freundin. Bis sie wegziehen musste – wegen der steigenden Mieten.
    Soumayas und Sourours Familie stammt aus Tunesien. Sourour war drei, als sie in Deutschland ankamen, heute ist sie 21. Damals war die Angst groß, alleine rauszugehen, die Eltern wollten die Kinder schützen. „Die Schilleria war einer der wenigen Orte, wo ich alleine hingehen durfte“, sagt sie. Die Mutter ging bald selbst zum Mütterstammtisch, der hier angeboten wird, der Vater verlegte das Laminat in den Räumen. Er ist heute der erste, der zu ihnen sagt: „Geht raus und kämpft für euren Laden.“ Sourour und ihre Schwester kichern, der Vater mochte es, als die Töchter plötzlich anfingen, mit ihm über Politik zu reden. Das machte alle glücklich. Und stolz.
    Mit sieben Jahren begann Sourour zu rappen, angespornt von der gebürtigen Mexikanerin und Rapperin Sinaya Sanchis, ihrer Leiterin, die den Mädchen beibringt, dass Rappen nicht allein für Jungens da ist. Sie rappte über das, was sie sah, was sie störte: Der Rassismus, den sie etwa beobachtet, ist einer von Einwohnern mit Migrationshintergrund gegenüber blonden Deutschen, vorzugsweise deutschen Mädchen. Sie sang auch darüber, wie dumm sie es findet, dass man sich als Ausländer bezeichnet, obwohl man doch in Deutschland geboren sei. Opferrollen mögen sie in der Schilleria eben nicht.
    Am anderen Ende des Tisches sitzen die Schwestern Feyza und Eda, sie sind in Berlin geboren, ihre Eltern kommen aus der Türkei. Feyzas Cousinen waren auch schon in der Schilleria, auch sie wollte wie Soumaya unbedingt hierher und mogelte sich schon mit sechs Jahren herein. Eines Tages hat sie das Gefühl, dass ein Lehrer in der Schule sie ganz komisch anguckte, auch anderen Mädchen ging es so. Doch als sie das bei einer Lehrerin ansprachen und das Thema bei der Direktorin landete, reagierte die Schule mit Abwehr, drohte mit Tadeln und Verweisen. In der Schilleria wurde Feyza ernst genommen. Die Direktorin der Schule kam auf Einladung, am Ende konnte dem Lehrer zwar nichts nachgewiesen werden, aber durch den Einsatz des Schilleria-Teams sagte die Direktorin später selbst, dass sie anders hätte handeln müssen. Seitdem gibt Sinaya Sanchis an der Schule auch Kurse, etwa für Gewaltprävention.
    Jede achte Wohnung überbelegt
    Hier im Klub, in unmittelbarer Reichweite von drei Schulen, geht es um Bildung, Kunst, Kultur und Bewegung: Rappen, tanzen, Theaterspielen gehören zum Angebot. Genauso wie Nachhilfe, Computerschulungen, Videos drehen und Projekte entwickeln – so wie der Polittalk der Mädchen zur Bundestagswahl. Es wird gekocht und gespielt und vor allem wird offen diskutiert. Ältere und Jüngere, Erwachsene und Kinder, immer auf Augenhöhe. Fragt man die ganz jungen Mädchen, sieben bis zehn Jahre alt, die fast jeden Tag in der Woche da sind, sagen sie: „Schilleria bedeutet mir so so viel“, oder: „Ohne die Schilleria hätte ich nichts, ich bin ja Einzelkind.“ Ein sehr kleines Mädchen sagt: „Ich komme doch schon seit 1000 Jahren hierher.“
    An diesem Montag wird sich die Zukunft der Schilleria entscheiden, das Wort „Runder Tisch“, das das Bezirksamt verwendet, hört der Eigentümer laut Hausverwaltung nicht gerne. Man ist verärgert darüber, dass in der Öffentlichkeit der Eindruck entsteht, dass verhandelt wird. Bis 2010 hat auch hier im Kiez die legendäre Jugendrichterin Kirsten Heisig Runde Tische organisiert, um die arabischen und türkischen Familien mit den Mitarbeitern von Polizei, Jugendamt und Quartiersmanagement zusammenzubringen.
    Seit 2010 wiederum sind so viele Menschen neu in den Schillerkiez gezogen, dass sie bereits 40 Prozent aller Bewohner ausmachen. Einmal mehr brechen mühsam aufgebaute Strukturen auseinander. Mietanwalt Max Althoff, der gerade jetzt wieder „verstärkten Beratungsbedarf“ feststellt, sagt: „Das Miteinander geht verloren, das Verständnis für die Sorgen der Nachbarn. Der Zusammenhalt löst sich auf.“
    Mittlerweile sei jede achte Wohnung hoffnungslos überbelegt, ist aus dem Bezirksamt zu hören, die ärmeren Familien müssen zusammenrücken.
    Soumaya sagt, sie wünsche sich für jüngere Mädchen genau das, was sie auch hatte – „und zwar genau an diesem Platz“. Denn woanders, hin zur Sonnenallee oder über die Hermannstraße hinweg, dürften die Mädchen hier im Kiez ja gerade nicht gehen.
    An diesem Holztisch an jenem Samstag in der Schilleria kann man betrachten, was ein kleiner Jugendklub mit hoher Empathie und großer Leidenschaft erreichen kann: Da ist also Eda, sie studiert jetzt Medieninformatik, „kriegste hin“, habe Leiterin Sinaya Sanchis zu ihr gesagt; da ist Sebahat, sie studiert Kulturwissenschaften; da ist Sourour, sie studiert Verkehrswesen und Fahrzeugtechnik und möchte Ingenieurin werden, und da ist ihre Schwester Soumaya, sie kann die Klappe aufreißen, sagt sie, und „behält gerne Recht“. Sie studiert Jura.

    Berlin-Neukölln: Mädchenklub „Schilleria“ ist gerettet
    http://www.tagesspiegel.de/berlin/berlin-neukoelln-maedchenklub-schilleria-ist-gerettet/20698142.html

    Bei einem Treffen einigten sich der Eigentümer, der Träger und das Jugendamt nun auf einen Vertrag für die folgenden fünf Jahre, mit Option auf Verlängerung.

    Über die genaue Miethöhe wurde Stillschweigen vereinbart, „ich kann aber sagen, dass wir diese Miete mit den Mitteln unseres Jugendamtes stemmen können“, so Liecke. Er sei „froh und dankbar“ über die Einigung und zollte dem Eigentümer Respekt, der „mit einem sozialen Gewissen ausgestattet“ sei. Auch Gabriele Heinemann, Leiterin des Trägers MaDonna Mädchenkult.Ur e.V., zeigte sich erleichtert: „Für uns ist das Wichtigste, dass die Schilleria bleiben kann“. Für die Mädchen sicherlich auch.

    #Berlin #Neukölln #Schillerpromenade #Jugend #Mädchen