„Mama, das ist doch bekloppt“: Christel zeigt’s allen – der erfolgreiche Neuanfang mit Mitte 50
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2.9.2023 von Kerstin Hense - Christel Keller steht in ihrer Vier-Quadratmeter-Küche am Herd und brät im Akkord Schnitzel. 40 Stück muss sie heute schaffen. Ihre Gäste haben sich schon angemeldet, denn mittwochs ist in ihrem Café und Restaurant Sonnenschein in Friedenau immer Schnitzeltag. Die 71-Jährige ist ein Phänomen, denn sie könnte längst in Rente sein. Doch sie arbeitet an sechs Tagen in der Woche von 7 bis 22 Uhr und denkt noch lange nicht ans Aufhören.
„Ich mache so lange, bis sie mich hier irgendwann raustragen müssen“, sagt Christel Keller. Die Arbeit sei ihr Hobby und ihre Leidenschaft. „So etwas schmeißt man nicht einfach weg.“ Die ältere Dame mit den kurzen grauen Haaren lacht gern und viel. „Der Sonnenschein“ wurde sie von ihren damaligen Kollegen oft genannt. Daher stammt auch der Name ihres Ladens.
Die gebürtige Berlinerin, die in Spandau lebt, hat einen ungewöhnlichen Lebensweg eingeschlagen: Mit Mitte 50 wagte sie noch einen Neuanfang und beendete ihren alten Job in einem Berliner Krankenhaus. Sie hatte dort als OP-Schwester gearbeitet.
In der Lebensmitte bemerkte sie, dass sie nicht mehr glücklich in ihrem Beruf war. „Ich habe mich sehr über meinen Chef geärgert und dann entschieden: Ab morgen ändere ich was“, erzählt sie. Sie legte ihrem Vorgesetzten am darauffolgenden Tag die Kündigung auf den Tisch.
Die Idee, ein eigenes Café zu eröffnen, kam ihr damals spontan in den Kopf und sie begann nach geeigneten Räumen zu suchen. „Ich habe mir gedacht. Kochen und backen kannst du. Gegessen wird auch immer. Was soll schon passieren?“, erinnert sie sich. Doch ihren unerschütterlichen Optimismus teilten nicht alle mit ihr. Freunde und sogar ihre Familie zweifelten an ihrem Plan B. „Das klappt eh nicht, Mama, das ist doch bekloppt“, habe ihre Tochter zu ihr gesagt. Aber sie ließ sich davon nicht beirren.
Schon nach kurzer Zeit fand sie ein leer stehendes Geschäft an der Schmargendorfer Straße in Friedenau und unterschrieb den Mietvertrag. Früher sei hier eine Spielhalle untergebracht gewesen, erzählt Christel Keller. In der winzigen Küche, die wegen der wenigen Quadratmeter an eine Schiffskombüse erinnert, hat Christel Keller anfangs ihre 20 Torten und Kuchen gebacken. Ob Bienenstich, Donauwelle oder Frankfurter Kranz, die Rezepte stammten alle aus den alten Backbüchern ihrer Großmutter Hedwig. Manche waren sogar noch in altdeutscher Schrift verfasst.
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Christel Keller: „Die erste Zeit lief es gar nicht gut“
Doch die süßen Kuchen kamen bei ihren Gästen nicht so gut an, wie sie sich das erhofft hatte. „Die erste Zeit lief es gar nicht gut“, erzählt sie. Dennoch gab sie nicht auf und glaubte an ein gutes Ende – und so kam es dann auch.
Eines Tages spazierten Bauarbeiter, die auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein neues Gebäude errichteten, in ihren kleinen Laden mit den 28 Sitzplätzen und fragten, ob sie nicht auch etwas Herzhaftes dahätte.
Christel Kellers Freundin Gitti zapft für einen Gast ein Bier.
Christel Kellers Freundin Gitti zapft für einen Gast ein Bier.Volkmar Otto
Daraus entstand ihre neue Geschäftsidee und aus dem anfänglichen Café Sonnenschein wurde zusätzlich ein Restaurant. Zunächst betrieb Christel Keller ihre Küche recht pragmatisch. Auf einem Campingkocher mit nur einer Herdplatte briet sie die ersten Bratkartoffeln mit Spiegelei für die Bauarbeiter. Doch das habe schnell begonnen auszuufern, sagt sie. Die einen wollten zwei Spiegeleier, die Nächsten gleich vier oder sogar acht, und sie fragten auch nach Fleisch.
Also kramte Christel Keller auch die Kochbücher ihrer Großmutter mit original Berliner Küche heraus und begann, sie nachzukochen. Der provisorische Campingherd wurde durch einen größeren Elektroherd ersetzt, und sie schaffte sich ein paar Töpfe und Pfannen an.
Ihre Hausmannskost kommt bis heute bei den Gästen gut an. Besonders die Königsberger Klopse. „Die Portionen sind richtig groß mit jeweils 200 Gramm Klopsen“, betont die Seniorin. Davon drehe sie an einem Tag auch schnell mal 180 Stück.
Von jenem Tag an, als sie ihr Angebot von süß auch auf herzhaft erweitert hatte, sei ihr Geschäft explodiert, sagt Christel Keller. Wenn sie mittwochs ihren Schnitzeltag anbietet oder ihre Klopse auf den Tisch kommen, müssen die Gäste vorbestellen. Ähnlich bei ihren Themenabenden mit Tanz, die regelmäßig stattfinden.
Ein älterer Herr hat an einem der Tische Platz genommen und wartet auf sein Schnitzel. Er kommt häufiger zu „Christel“, die meisten Gäste nennen sie nur bei ihrem Vornamen. „Das Essen erinnert mich an meine Kindheit. Schon damals habe ich paniertes Fleisch geliebt“, erzählt er.
Ein Hochschulprofessor in Rente isst am liebsten „süßsaure Eier“ und kommt gern wegen seines Lieblingsgerichts ins Sonnenschein. „Er schwärmt immer, dass ich genauso gut kochen kann wie seine Mutter“, freut sich Christel Keller.
Aber nicht alle kommen nur wegen der guten Küche hierher. Manche auch aus Einsamkeit. „Viele schütten hier ihr Herz aus und erzählen von ihren Sorgen und Nöten“, sagt Christel Keller. Dann werde solange diskutiert, bis man gemeinsam eine Lösung gefunden habe. Denn eine Lösung gibt es in den Augen von Christel Keller für nahezu jedes Problem.
Sie hat in den 16 Jahren schon viel Freud und Leid mit ihren Stammgästen geteilt. Geburtstage und Hochzeiten, Beerdigungen und Trennungen. „Es ist bei uns ein bisschen so wie in einer Familie“, findet Christel Kellers 76-jährige Freundin Gitti, die im gleichen Haus lebt und ab und zu bei ihr aushilft.
Gerade nach der Pandemie hätten die Sorgen zugenommen, hat Christel Keller beobachtet. „Es gibt Gäste, die können sich noch nicht mal mehr ein Stück Kuchen zu ihrem Kaffee leisten.“ Für sie hat die Chefin auch mal eine Donauwelle gratis. Es sei ihr sehr wichtig, menschlich zu bleiben, auch wenn es gesellschaftlich sehr rau zugehe.
Wer ins Café und Restaurant Sonnenschein kommt, findet keine Speisekarte auf den Tischen. An der Wand hängt stattdessen eine Wunschliste, auf der jeder Gast sein Lieblingsgericht, das er gern von Christel einmal gekocht haben würde, eintragen kann. Draußen steht eine Tafel, auf die jeden Tag das aktuelle Gericht mit Kreide geschrieben wird.
Jeder Gast darf sich ein Gericht wünschen
Morgen gibt es von der Wunschliste Kohlrouladen. Sie hat schon 20 Anmeldungen dazu. Ein Gericht kostet etwa zwischen 8,50 und 12 Euro. Die frischen Zutaten kauft Christel Keller regional bei einem Biobauern um die Ecke.
Früher, als sie noch kein Auto hatte, habe sie die Einkäufe aus dem Großhandel alle in der Bahn transportiert. „Das war immer ein ganz schöner Akt, weil die Tüten so schwer waren“, erinnert sie sich.
Bei Christel Keller wurden mehrere Bandscheibenvorfälle diagnostiziert und sie hat zwei künstliche Hüftgelenke eingesetzt bekommen. Doch von ihren Beschwerden ist nichts zu bemerken. „Ich gehöre nicht zu den Menschen, die permanent über ihre Krankheiten sprechen oder über sie nachdenken. Das nützt ja nichts“, sagt sie.
Ob sie deshalb so glücklich ist, weil sie sich nicht so viele Gedanken macht? Mit Ehemann Bernd, der als Möbeltischler gearbeitet hat und längst in Rente ist, will sie im kommenden Jahr die goldene Hochzeit feiern. „Wir akzeptieren uns mit unseren Problemen und bearbeiten sie gemeinsam“, sagt Christel Keller. Sie überlegt kurz und sagt dann noch schnell hinterher: „Okay, vielleicht bin ich manchmal etwas zu dominant.“ Sie lacht wieder. Sie sei eben eine Macherin.
Aber jetzt hat sie keine Zeit mehr, weil sie die Kohlköpfe für die Rouladen bearbeiten muss. „Sie haben doch jetzt genug gefragt, oder?“ Christel Keller ist auch gern direkt. Ein echtes Berliner Urgestein.