9.9.2024 von Holger Teschke -Joseph Conrad entlarvt in seiner vor 125 Jahren erschienenen Erzählung »Herz der Finsternis« die bürgerliche Kolonialpolitik ebenso wie deren verspätete Kritik
»Der Literat fristet sein Dasein, indem er immer wieder die Erinnerung beschwört und das Gespräch mit den Schatten sucht«, schreibt Joseph Conrad in seinen Lebenserinnerungen von 1919. Dieser Ansatz zeichnet all seine Romane und Erzählungen aus, die bis heute nichts von ihrer sprachlichen Strahlkraft und ihrer politischen Weitsicht verloren haben. Aber in kaum einem anderen Werk hat Conrad die Schatten seiner Erinnerungen so dunkel und gleichzeitig so blendend heraufbeschworen wie im »Herz der Finsternis«.
Geboren am 3. Dezember 1857 in Berditschew in der heutigen Ukraine, wuchs Józef Teodor Konrad Korzeniowski als einziges Kind des Schriftstellers und Übersetzers Apollo Korzeniowski und seiner Frau Eva in einem patriotischen Elternhaus auf. Vater und Mutter gehörten polnischen Oppositionskreisen an, die gegen die russische Okkupation nach der dritten Teilung Polens Widerstand leisteten. Aus einer verarmten Familie kleiner Landadliger kommend, hielt Apollo seine Familie mit Übersetzungen von Shakespeare, Dickens und Victor Hugo über Wasser. 1861 wurde er verhaftet und nach sechs Monaten Untersuchungshaft nach Wologda im Nordosten Russlands verbannt. In der Verbannung las der kleine Konrad, der mit fünf Jahren Lesen und Schreiben gelernt hatte, aus Mangel an Kinderbüchern die Romane von Cooper und Marryat sowie die Berichte des britischen Afrikareisenden Henry Morton Stanley. Als Neunjähriger will er vor einer Landkarte Afrikas gestanden, auf einen weißen Fleck im Herzen des Landes gezeigt und gesagt haben: »Dort will ich hin, wenn ich erwachsen bin.«
Hauptsache weg
Nach dem frühen Tod seiner Eltern wuchs er bei Tadeusz Bobrowski, einem Bruder seiner Mutter auf, der sich auch um die Schulbildung seines Neffen in Kraków kümmerte. Aber der junge Konrad wollte zur See fahren und setzte sich schließlich mit Beharrlichkeit gegen den Widerstand seines Vormunds durch. »Die Hauptsache war: wegzukommen«, schreibt er lakonisch in seinen Erinnerungen.
Schließlich drohten ihm ein langjähriger Militärdienst in der russischen Armee und eine unsichere Zukunft als Sohn eines politisch Verurteilten. Dann schon lieber »Pökelfleisch und Schiffszwieback«, aber eben auch die Aussicht, etwas von der Welt zu sehen. 1874 konnte er endlich einen Zug besteigen, der ihn nach Marseille brachte.
Konrad fuhr zunächst als Leichtmatrose in die Karibik, musste aber nach einem Abenteuer als Waffenschmuggler, bei dem er sein gesamtes Geld verlor, Frankreich verlassen. Deshalb ging er nach England und heuerte bei der britischen Handelsmarine an. Dort fuhr er zwischen 1878 und 1880 als Vollmatrose bis nach Australien, bestand seine Steuermannsprüfung und fuhr anschließend als Zweiter Offizier auf Handelsseglern nach Bombay und Kalkutta. 1886 erwarb er die britische Staatsangehörigkeit und das Kapitänspatent. Er machte als Erster Offizier Reisen nach Borneo und Java und schließlich als Kapitän der Dreimastbark »Otago« nach Singapur und Sydney. Auf der Rückreise von Australien nach England begann er 1889 auf einem Dampfer seinen ersten Roman »Almayers Wahn« zu schreiben. Das Manuskript hätte er auf einer Reise in die alte Heimat zu seinem Onkel beinahe auf dem Berliner Bahnhof Friedrichstraße verloren, als er eine Tasche in einem Café stehenließ. Ein aufmerksamer Gepäckträger brachte sie ihm zu seinem Zug nach und rettete so den ersten Roman von Joseph Conrad.
Da er während der Zeit der großen Londoner Dockstreiks kein Schiff als Kapitän finden konnte, versuchte er es auf dem Kontinent und bekam durch Vermittlung seiner umtriebigen Tante Marguerite Poradowska in Brüssel das Angebot der »Société Anonyme Belge pour le Commerce du Haut-Congo« (SAB), das Kommando auf einem Flussdampfer im Kongo zu übernehmen. Die »Florida« sollte eine Expedition bis zu den Quellgebieten des Kongo unternehmen. Nach der Berliner »Kongo-Konferenz« 1884, auf der die europäischen Mächte den afrikanischen Kontinent unter sich aufgeteilt hatten, war der Kongo an den belgischen König Leopold II. gefallen, der ihn als seinen Privatbesitz betrachtete und rücksichtslos ausbeuten ließ. Diesen Umstand verschleierte der König mit angeblichen »Forschungsexpeditionen«. 1876 hatte er auf einer Afrikakonferenz in Brüssel verkündet: »Die Zivilisation in den einzigen Teil der Erde zu bringen, in den sie noch nicht vorgestoßen ist, ist ein Kreuzzug, der diesem Zeitalter des Fortschritts würdig ist.« Heute nennt man Kreuzzüge nicht mehr beim Namen, sondern »Nation Building« oder »Demokratieförderung«.
In dreizehn Jahren raffte Leopold II. mit Hilfe seiner Kolonialverwaltung und ihrer Agenturen 80 Millionen Mark zusammen, wobei zehn Millionen Menschen, fast die Hälfte der dortigen Bevölkerung, durch gezielte Ausrottungsfeldzüge, Hunger und Zwangsarbeit ums Leben kamen. Die Eingeborenen hatten monatlich festgelegte Mengen an Elfenbein und Kautschuk an die Agenten des Königs abzuliefern. Erreichten sie das Quantum nicht, wurden sie ausgepeitscht und verstümmelt, ihre Dörfer von Strafexpeditionen niedergebrannt und ihre Frauen und Kinder in die Sklaverei deportiert.
Brutalität wird öffentlich
Zwar versuchten die Beamten des Königs und die mit ihnen kooperierenden US-Unternehmer wie Morgan und Rockefeller alles, um Nachrichten darüber zu unterdrücken oder als Lügen darzustellen. Aber durch einen Bericht des britischen Konsuls Roger Casement kamen 1904 viele diese Ungeheuerlichkeiten ans Licht der Öffentlichkeit. Mark Twain schrieb daraufhin 1905 mit »König Leopolds Selbstgespräch« eine seiner bittersten politischen Satiren, die von der britischen »Congo Reform Association« (CRA) veröffentlicht wurde, weil sich in den USA kein Verlag dafür fand.
Es gab einen Aufschrei, man setzte eine Reformkommission ein, der Staat kaufte dem König seine Kolonie ab und machte dann in angeblich humaner Weise mit der Ausbeutung des Landes weiter. Casement, den man vom Kongo nach Brasilien versetzt hatte, wurde 1916 wegen seiner Unterstützung des irischen Unabhängigkeitskampfs als Hochverräter von einem britischen Gericht zum Tode verurteilt und gehängt. Conrad lernte ihn auf seiner Reise in den Kongo kennen und beschrieb ihn in seinem Reisetagebuch als »äußerst intelligent und sympathisch«. Als sich Arthur Conan Doyle und Bernhard Shaw für Casements Begnadigung einsetzten und an den US-Präsidenten Woodrow Wilson und den Erzbischof von Canterbury appellierten, ließ die britische Regierung eilends Tagebücher veröffentlichen, die Casement als »homosexuell und sehr interessiert an jungen Afrikanern« darstellen sollten. Die Authentizität dieser Schriften ist bis heute umstritten, zumal ihr »Entdecker«, der Direktor von Scotland Yard, Basil Thomson, 1920 als Fälscher russischer Dokumente entlarvt wurde.
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Joseph Conrad reiste im Mai 1890 mit einem Dreijahresvertrag der SAB von Bordeaux über die Kanaren und die Elfenbeinküste in den Kongo. Auf der Fahrt hoffte er, weiter an »Almayers Wahn« schreiben zu können, aber auf dem französischen Schiff »Ville de Maceió« begann er statt dessen ein Reisetagebuch zu führen. Er beobachtete die Arroganz und Menschenverachtung der mitreisenden Geschäftsleute und Beamten und hielt sie detailliert fest. Die Notizen in diesem Tagebuch sollten acht Jahre später zur Grundlage für das »Herz der Finsternis« werden.
Inszenierte Kannibalen
Am 12. Juni 1890 ging die »Ville« vor Boma an der Mündung des Kongo vor Anker. Auf einem Dampfer fuhr Conrad flussaufwärts bis zum Handelsposten Matadi, wo er zwei Wochen blieb und Casement kennenlernte, der dort Vermessungsarbeiten für eine Eisenbahnstrecke durchführte, die bis nach Stanley Pool, dem heutigen Pool Malebo, führen sollten. Während er dort auf die Weiterreise wartete, musste er für die »Société« Elfenbein in Fässer verpacken, eine »idiotische Beschäftigung«, wie er im Tagebuch schrieb. Erst am 28. Juni ging es mit Trägern und einem Führer durch den Urwald weiter. Am 2. August kam die Karawane erschöpft in Kinshasa an. Das Grauen, das ihm im Busch begegnet war, hielt Conrad ebenfalls in seinem Tagebuch fest: ein an Pfähle gefesseltes Skelett, namenlose Gräber und verbrannte Dörfer. In Kinshasa erfuhr er, dass die »Florida«, deren Kommando er übernehmen sollte, Schiffbruch erlitten hatte und im Reparaturdock lag. Daher bekam er den Auftrag, als Offizier auf dem Flussdampfer »Roi des Belges« weiter flussaufwärts zu fahren, um dabei zu helfen, ein anderes gescheitertes Schiff wieder flottzumachen. So gelangte Conrad ins innerste Afrika bis nach Stanley Falls, dem heutigen Kisangani, wo der erkrankte französische Handelsagent George Klein an Bord kam, um nach Frankreich zurückzukehren.
Klein starb wenige Wochen später und hat möglicherweise mit seinem Namen für den Protagonisten Kurtz Pate gestanden. Den wesentlichen Anstoß zu dieser Figur gab aber der britische Kolonialoffizier Edmund Musgrave Barttelot, der für seine exzessive Brutalität bekannt und 1888 von einem afrikanischen Stammeshäuptling nach der Misshandlung von dessen Frau erschossen worden war. Conrad hatte an Barttelots Grab am Oberen Kongo gestanden und dort viele Berichte, die über dessen Grausamkeit kursierten, gehört. Ein Londoner Korrespondent der New York Times hatte unter anderem berichtet, dass Barttelot für Forscher einer Stanley-Expedition, die er begleitete, Überfälle von »Kannibalen« auf Dörfer im Busch inszenierte, bei denen die Angreifer ihre Opfer nicht nur töten, sondern auch verzehren mussten, um den Wissenschaftlern Anschauungsunterricht über »Barbarei« zu geben. Natürlich wurden diese Berichte später in England empört als Greuelmärchen zurückgewiesen. Conrad ging es nach der Veröffentlichung von »Herz der Finsternis« nicht viel besser.
Kritiker warfen ihm vor, er hätte immer nur Andeutungen gemacht und könne keine Belege für seine Behauptungen vorweisen. Dabei wusste der Autor schon damals, dass das wahre Grauen im Kopf der Leser entsteht.
Joseph Conrad erkrankte auf dieser Reise und war zeitweise dem Tod nah. Nach der Behandlung auf einer baptistischen Missionarsstation und einer aufreibenden Rückreise kündigte er seinen Vertrag und kehrte im Dezember 1890 nach Boma zurück. Am 1. Februar 1891 kam er wieder in London an, gezeichnet von Krankheiten und Schreckensbildern, die ihn bis ans Ende seines Lebens verfolgen sollten. Erst nach acht Jahren fand er die Kraft, mit »Herz der Finsternis« eine der eindringlichsten und wirkungsstärksten Erzählungen über Ursachen und Auswirkungen des europäischen Kolonialismus zu schreiben.
Ein anonymer Erzähler berichtet von einem Abend an Bord einer Segelyacht auf der Themsemündung, auf der sich eine Gruppe von Freunden – Direktor, Buchhalter und Rechtsanwalt einer Handelsgesellschaft – versammelt haben, um der Geschichte des Seemanns Marlow von einer Reise ins innerste Afrika zuzuhören. Der Erzähler beschwört zunächst die Schönheit des abendlichen Flusses und die große Geschichte der britischen Seefahrt herauf, die von der Themse aus ihren Anfang genommen hat – von Francis Drake bis John Franklin. Dann beginnt Marlow mit seiner weitaus weniger heroischen Geschichte. »Die Eroberung der Erde, das heißt meist, dass man sie denen nimmt, die eine andere Hautfarbe haben. Keine schöne Angelegenheit, wenn man sich gründlich damit befasst.«
Keine Entschuldigung
Marlow hat sich gründlich mit dieser Geschichte befasst und beschreibt seine Reise wie die Dantes ins Inferno. Dabei durchschreitet er drei Kreise: vom Brüsseler Büro der Handelsgesellschaft bis an die Küste Afrikas, von der Mündung des Kongo bis zur Station, auf der er sechs Monate bis zur Reparatur des Dampfers verbringen muss und schließlich die Fahrt zur Station von Kurtz und seine Erlebnisse in dessen Machtbezirk. Die Reise wird, wie bei Dante, zu einer Reise zu sich selbst. Was er dabei mit Entsetzen entdeckt, sind nicht nur die Gefahren des Dschungels, sondern die Gefahr, die der eigenen Persönlichkeit durch die Teilnahme an den barbarischen Ausbeutungsverhältnissen droht, die dort ohne Einschränkungen von Recht und Gesetz wüten. Er begreift inmitten von Fieber und Tod, dass das Gerede von »Fortschritt« und »Zivilisation« nur der Legitimierung von Verbrechen dient und dass es für den, der daran teilhat, keine Entschuldigung gibt. Die politischen und religiösen Beschwichtigungen, die das System für seine Komplizen bereitstellt, helfen ihnen am Ende ihres Lebens nicht mehr.
Für die Machthaber in den Konzern- und Regierungszentralen, für die Völkermord und Umweltzerstörung nur Zahlen und Statistiken sind, dient die Ideologie vom Preis des Fortschritts bis heute als Beruhigungsmittel. Aber eines Tages ereilt auch sie das Grauen. »Das eben ist der Fluch der bösen Tat, dass sie, fortzeugend immer Böses muss gebären«, lässt Schiller im »Wallenstein« Octavio Piccolomini erkennen. Conrad wie Marlow beschreiben Kurtz nicht als einen sadistischen Psychopathen, dessen Verbrechen biographisch oder psychologisch zum Einzelfall erklärt werden können, sondern als ein Produkt eines Systems. »Ganz Europa hatte dazu beigetragen, Kurtz hervorzubringen«, resümiert Marlow, der bis zum Ende von dem charismatischen Dschungeldespoten ebenso fasziniert wie abgestoßen ist.
Darin liegt die erzählerische Leistung Conrads, die sprachlich zwischen Halluzinationen und Traumbildern schwankt, bis sie sich angesichts der Tatsachen zu einer klaren Erkenntnis durchringen muss. Marlow findet in Kurtz’ Hütte einen Bericht, den der für eine »Internationale Gesellschaft zur Abschaffung barbarischer Sitten« verfasst hat und in der er auf siebzehn Seiten über die »Macht des Guten« räsoniert. Der »Zauberfluss dieser glühenden und edlen Worte« erweist sich als Ansammlung von Phrasen. Marlow entdeckt eine Nachschrift, die Kurtz nach seiner Machtübernahme angefügt hat und die lautet: »Exterminate all the brutes!« – »Ausrotten das Kroppzeug!«
Durch sie erkennt Marlow auch, wie weit seine eigene Verfinsterung des Herzens durch die Teilnahme am kolonialen Alltag bereits fortgeschritten ist. An Kurtz’ Sterbebett begreift er, dass da kein »Gesandter der Barmherzigkeit, der Wissenschaft und des Fortschritts« liegt, sondern nur ein besonders eloquenter Kolonialherr, der sein Charisma und seine tödlichen Waffen dazu benutzt hat, sich zu einer Gottheit zu erheben, um seine Untergebenen für Gewinn und Karriere hemmungslos ausbeuten zu können. Aber Conrad geht noch einen Schritt weiter. Er lässt Kurtz noch vor seinem Tod erkennen, dass er seine eigenen Lügen zu lange selbst geglaubt hat und dass es für seine Verbrechen keine Gnade geben wird. Das steckt in dem Ausruf, den der Sterbende flüstert: »The horror! The horror!« – »Das Grauen! Das Grauen!«
In dieser doppelten Verfremdung, die an Hitchcock und Brecht erinnert, liegt die Wirkungskraft von Conrads Erzählung. Marlows Geschichte, bei der einige seiner Zuhörer sogar einschlafen oder offen ihr Gelangweiltsein zeigen, ist deswegen so wirkungsvoll, weil er nicht von der hohen Kanzel moralischer Überlegenheit herab predigt, sondern von seiner eigenen Schuld und Zerrissenheit berichtet. »Wir müssen den Sklaven in uns tröpfchenweise herauspressen«, hat Anton Tschechow einmal geschrieben.
Elend der Symbolpolitik
Das gilt auch für den Rassisten und den Genießer der Privilegien der Ausbeutung in uns, und dieser Prozess ist ebenso langwierig wie schmerzhaft. Die Crux der deutschen Erinnerungskultur liegt eben auch darin, dass sie immer noch in idealistischer und selbstgerechter Weise daran glaubt, diesen schmerzhaften individuellen Prozess durch Kranzniederlegungen, Denkmäler und Workshops ersetzen zu können. Ein paar gestohlene Artefakte im Jumbojet aus deutschen Museen in ferne Kolonien zurückzubringen, die unter anderem wegen der Emissionen solcher Jets im Meer zu versinken drohen und sich dabei von einem Tross aus Kameras und Journalisten begleiten zu lassen, zeugt von moralischem Größenwahn, der an Abgehobenheit schwer zu überbieten ist. Der wahre Moralist sucht den Komplizen der Verbrechen nicht im Anderen, sondern in sich selber. Davon erzählt große Literatur seit Homer, und vielleicht soll sie auch deswegen – und nicht wegen ihrer »sprachlichen Kompliziertheit« – aus den Lehrplänen verschwinden.
Die schleichende Zerstörung sämtlicher humanistischer Werte durch die tagtägliche Barbarei des neoliberalen Imperialismus in aller Welt wird durch solche Symbolpolitik nicht einmal mehr kaschiert. Im Gegenteil – sie macht sie schlagartig sichtbar. Allerdings gehen die Empörungswellen dagegen am Kern des Problems, den Eigentums- und Produktionsverhältnissen, lauthals vorbei. Denn mit dem Austausch der Repräsentanten allein ändert sich für die Ausgebeuteten und Unterdrückten dieser Welt gar nichts. Die durch Ausbeutung, Kriege und Umweltzerstörung ausgelösten Migrationsströme haben da schon eine andere Wucht. Dass Politik ernsthaft glaubt, Europa dagegen auf lange Sicht mit Grenzkontrollen, Einreisesperren und Abschiebelagern in »sicheren Drittländern« zur uneinnehmbaren Festung machen zu können, zeigt nur, dass sie von dem Elend, das in diesen Ländern herrscht, noch immer keinen Begriff haben.
Die Romane und Erzählungen Joseph Conrads zu lesen – statt sie auf den Index setzen zu wollen –, könnte dabei hilfreich sein. Denn der polnische Exilant, dessen englische Prosa bis heute von ihrer Klarheit und Schärfe nichts verloren hat, ist seinem Credo bis zu seinem Tod in all seinen Werken treu geblieben: »Durch die Macht des geschriebenen Worts euch hören zu lehren, euch fühlen zu lehren und vor allem sehen zu lehren.«
Holger Teschke wurde 1958 auf Rügen geboren und fuhr nach der Schulzeit bis 1980 zur See. Heute arbeitet er als Autor und Dramaturg in Berlin und Sassnitz. 2016 schrieb er für den Deutschlandfunk Kultur das Hörspiel »Die Schattenlinie« über Joseph Conrads letzte Seereise. Er schrieb an dieser Stelle zuletzt am 5. September 2024 über den Maler Caspar David Friedrich.