Du willst etwas ändern in Berlin? Mach’ es ohne die Verwaltung. Du hast sie sowieso gegen Dich.
8.9.2022 von Thomas Kilian - Im Bezirksamt Mitte wird ein Stück gespielt, von dem ich nicht anzugeben weiß, ob es eine Komödie oder eine Tragödie sein soll. Dabei meine ich nicht in erster Linie die mittlerweile durchgeführte Abwahl von Bezirksbürgermeister Stephan von Dassel, der bekanntlich über eine anrüchige Personalie gestolpert ist. Das ist nur die bezeichnende Spitze eines Eisberges, der sich unter Wasser bis ins scheinbar Harmlose und Kuriose verzweigt.
Ich habe als Sprecher des Begleitausschusses für Bürgerbeteiligung über ein halbes Jahr an den Sitzungen des zuständigen Ausschusses teilgenommen. Von fünf in dieser Zeit beratenen Vorlagen stammten drei von mir. Sonst fand dort Unterricht für Nachwuchspolitiker:innen statt – vorwiegend durch das Bezirksamt selbst mit dem Unterton, dass die Verwaltung schon alles richtig mache.
Ich mache seit fast 20 Jahren Stadtteilpolitik im Soldiner Kiez im Wedding, an der Grenze zum Prenzlauer Berg und zu Pankow. Wir sind einer der ärmsten Quartiere in Berlin. Daher sind ich und meine Freund:innen vom Bürgerverein Soldiner Kiez e. V. es gewohnt, uns Schmutz und Problemen zu stellen. Hochglanzansichten entsprechen nicht unseren Erfahrungen.
Die Verantwortlichen in Mitte halten viel auf Marketing, begehen aber dabei den Anfängerfehler, dem Publikum eine rosa Brille verpassen zu wollen. Mit einer solchen Öffentlichkeitsarbeit ist die katholische Kirche eigentlich schon im 14. Jahrhundert gescheitert. Vielleicht wäre es klüger, Probleme zu benennen und nach Möglichkeit sogar Lösungen vorzuschlagen?
Auch ansonsten knirschte es: Manche:r wurde nicht eingeladen, eine Beschlussvorlage erreichte den Ausschuss nicht, eine Einladung erfolgte nach Kreuzberg statt in den Wedding, und die Anschreiben waren weder verbindlich noch ansprechend. Das eine oder andere wurde dann zwar im zweiten Anlauf verbessert, aber es blieb insgesamt der Eindruck einer maroden Organisation.
Meine Frage nach meiner rechtlichen Stellung im Ausschuss wurde mir beantwortet, indem ich ein Bündel von Gesetzen und Verordnungen ausgehändigt bekam. Das führte zu interessanten Gesprächen und Kontakten, aber eigentlich hätte mir der Verweis auf die Geschäftsordnung der Bezirksverordnetenversammlung genügt. Dort ergibt sich, dass die Vertreter:innen der vom Bezirk eingerichteten Begleitausschüsse in den regulären Ausschüssen einfach Gäste sind, denen die richtigen Mitglieder das Wort erteilen können. Alle anderen Gesetze ergaben darüber hinaus nichts weiteres.
Folklore statt Gesetze und Verordnungen
Mir wurde mit der Zeit auch klar, warum die Geschäftsordnung selbst im geschäftsführenden Büro für die Bezirksverordnetenversammlung (BVV-Büro) nicht wirklich beherrscht wird: Bezirkspolitiker:innen und die maßgeblichen Beamt:innen halten eine gewisse, eingelebte Tradition eigentlich für wichtiger. Diese vormodernen Bräuche haben durchaus auch ihre freundlichen Seiten, sind aber für Außenstehende erst einmal nicht durchschaubar. Wer neu hinzukommt, ob als gewählte Vertreterin oder gewählter Vertreter, als berufener Deputierter oder berufene Deputierte oder als ständiger Gast für eine Quartiersvertretung oder einen Begleitausschuss, muss die Feinheiten dieser Regeln über die Jahre anhand seiner Beobachtungen und Erfahrungen erschließen.
Eine solche informelle Ordnung hat viele Funktionen. Sie schafft unter anderem eine Gemeinschaft unter denjenigen, die ihr angehören. Die Losung, dass man gemeinsam für den Bezirk arbeite, findet dann auch bei geringem Erfolg immer wieder Bestätigung. Für mich und andere Neulinge und Außenstehende bedeuten die ungeschriebenen Regeln eine deutliche Zurücksetzung gegenüber dem Old-Boys/Girls-Network der langjährigen Politiker:innen und Verwaltungsleute. Dieses Netzwerk ist in Mitte geradezu zu einer vielköpfigen Familie zusammengewachsen, die abseits der offiziellen Institutionen und Foren die Dinge unter sich ausmacht.
Mir blieb viel Studium erspart, indem mich ein erfahrener Bezirkspolitiker zur Seite nahm. Vorher hatte er mich zusammen mit anderen und in Absprache mit einer Verwaltungsbeamtin im Ausschuss noch auflaufen lassen. Diese Unterweisung war wohl eine Ehre, die manchem Verordneten nicht so schnell widerfährt. Denn auch in den Fraktionen gibt es Insider und Outsider. Gleichzeitig ist diese Umarmung bezeichnend: Die Mitglieder dieser Familie lieben sich nicht einfach, sondern bisweilen necken sie sich oder streiten. Aber nach außen hin hält man zusammen. Die eigentlichen Konflikte erschließen sich selbst professionellen Beobachter:innen nicht immer.
Vor allem zwei goldene Regeln gab mir dieser besagte alte Fahrensmann mit auf den Weg. Kritisiere nie offen die Verwaltung. Die sitzt immer am längeren Hebel. Und: Du musst gezielt Verbündete sammeln und deine Gegner:innen ausmanövrieren. Er verwendete ausdrücklich das Wort „Klüngeln“. Wohlgemerkt: Er hatte eben erst an einer kleinen Intrige gegen mich teilgenommen, die auf kaum mehr zurückging als auf das Rachebedürfnis einer Beamtin, die ich unbotmäßig angegangen war. Tatsächlich kenne ich die wesentlichen Beteiligten seit über zehn Jahren. Trotz meiner inneren Distanz wurde ich nicht mehr mit Nachsicht als Außenstehender behandelt. Die Angelegenheit hatte die Dynamik eines Familienkrachs bekommen.
Wer will zu dieser Familie gehören?
Für mich stellten sich nun einige Fragen: Will ich überhaupt zu so einer Familie gehören? Schließlich ist es nicht mein Umgang, andere zu bestrafen, indem ich harmlose Projekte zur technischen Verbesserung von Bürgerbeteiligungsverfahren verzögere, die dem Grundgedanken dessen entsprechen, was ich selbst auf den Weg gebracht habe. Ich rede lieber mit den Leuten. Weil ich die Verärgerung der besagten Beamtin nachvollziehen konnte, war ich vor ihrem Manöver mit zwei Schreiben auf sie zugegangen – offensichtlich nicht mit der von ihr erwarteten Demut.
Als Soziologe überlegte ich auch: Was bedeutet es für eine Organisation von 3000 Menschen, die notwendige Dienstleistungen für 300.000 erbringt, wenn dort solche Sitten herrschen und die informelle Struktur die offiziellen Prozesse überwuchert?
Der Berliner Betriebswirtschaftsprofessor Georg Schreyögg nennt die intriganten Spielchen des Klüngels schlicht „dysfunktional“. In der Wirtschaft führten sie regelmäßig zum Bankrott, weil sie von der eigentlichen Arbeit ablenkten. Verwaltungwissenschaftler:innen und Jurist:innen diskutieren über die Rechtsstaatswidrigkeit und Demokratiefeindlichkeit ausufernder Informalität. Die Familie kann sich nur noch mit der Behauptung rechtfertigen, dass doch alles nicht so schlimm sei ...
Der Fall Stephan von Dassel legt nahe, dass die Provinzposse durchaus tragische Dimensionen annehmen kann. Denn die Ineffektivität der Verwaltung ist im Bezirk Mitte der Elefant im Raum, über den normalerweise nicht gesprochen wird. Von Dassel wollte dieses Monster zähmen. Die Leitung des Steuerungsdienstes ist dafür vielleicht der wichtigste Posten, der zu vergeben ist.
Stephan von Dassel: Die Posse wird ernst
Mit seinem geradezu verbissenen Ehrgeiz stellte von Dassel in der teils betulichen und eher verschmitzten Familie im Bezirksamt Mitte eine unbequeme Außenseiterfigur dar. Neben seinem schwierigen Charakter lag dem Erfolg von Dassels aber noch eine zentrale Fehleinschätzung im Weg. Als Mitglied der Familie dachte er, seine Pläne mit den Methoden dieser Familie umsetzen zu können. Und für Intrige und Manipulation braucht es keinen in erster Linie fähigen Steuerungschef, sondern vor allem einen loyalen. Also holte von Dassel den Parteifreund und verhandelte mit dem qualifizierten, aber abgelehnten Bewerber über Schweigegeld. Als dieses Manöver aufflog, wurde er abgewählt.
Sachfremde Erwägungen sind bei Stellenbesetzungen und Beförderungen im Bezirksamt Mitte häufig. So belegen es die Einträge von Beschäftigten auf der Plattform kununu, wo Mitarbeiter:innen potenzielle Bewerber:innen über ihren Arbeitgeber informieren: Regelmäßig ist von „Günstlingswirtschaft“ in Mitte die Rede. Diese Kultur führt gerade nicht zu einer effektiven Organisation, auch wenn sie von Politiker:innen und Beamt:innen über die Parteigrenzen hinweg und in verschiedener charakterlicher Ausformung geteilt wird. Das Bezirksamt Mitte braucht kein Durchregieren, sondern einen Wandel, der bei den Maßgebenden der besagten Familie beginnen müsste. Doch in diesen Spiegel hat auch ein Stephan von Dassel nie geblickt.
Als Sprecher eines Begleitausschusses für Bürgerbeteiligung stellte sich mir dann die Frage, was ich im übernommenen Amt für die Sache erreichen könnte. Die zwei Bürgerbeteiligungsverfahren nach Maßgabe der neuen Leitlinien hatten zwar Aufmerksamkeit in der Bezirksamtsfamilie erzeugt. Aber es kam eben nicht zu geregelten Verfahren, sondern zu Gunstbezeugungen. Diese erweisen sich zudem als von einer gewissen Unzuverlässigkeit: Einmal war das Entgegenkommen nur vorbehaltlich, im anderen Fall hat das Gartenbauamt die zugesagte Sanierung am Magdeburger Platz nur unvollständig ausgeführt. Die halbe Familie versucht nun, das Malheur wieder zu bereinigen.
Einige Ämter und Abteilungen des Bezirksamtes fühlen sich seit Langem von der klüngelnden Familie missachtet und vernachlässigt. Gerade die Kernaufgaben der Kommune hatten die Hauptlast der vergangenen Sparrunden zu tragen, nicht zuletzt, weil sie nicht gut genug mitmauschelten. Diese verkannten Ämter verweigern nun die Zusammenarbeit. Die Familie droht zu einer Dame Unterleib zu werden und muss sich auf symbolische Politik konzentrieren. Das fiel zunächst in der allgemeinen Marketingorientierung kaum auf. Langsam zeigen sich jedoch die Folgen.
Mangels Kapazität und demokratischer Praxis beim Bezirk kann mein Amt als Sprecher und Mitglied des Begleitausschusses also nur Teil einer schlechten Inszenierung sein. Bürgerbeteiligung hat Voraussetzungen, nicht nur bei den Bürger:innen, sondern auch bei den Behörden. Dabei verlangt niemand Perfektion, aber mindestens ausreichende Transparenz. Ich dringe aus der Position im Begleitausschuss auch nicht durch, um zur Änderung der kaputten Betriebskultur am Bezirksamt beizutragen. Vielleicht findet sich irgendwann ein anderer Zugang. Aber es gibt noch andere Freuden als die Kommunalpolitik. Ich trete also zurück in meinen Kiez.
Das ist ein Beitrag, der im Rahmen unserer Open-Source-Initiative eingereicht wurde.