Der Bund schiebt Ausländer in gecharterten Privatflugzeugen ab und vertuscht die Flüge. Werden die Menschenrechte eingehalten? Jetzt schaltet sich die Antifolterkommission ein.
Die Beechcraft 1900D ist eine kleine, zweimotorige Propellermaschine, die häufig auf kurzen Strecken zum Einsatz kommt: als Frachtflugzeug, für Geschäftsreisen oder – wie in diesem Fall – für Abschiebungen.
Am 31. Mai 2022 steht eine solche Propellermaschine der Airline Twin Jet auf dem Rollfeld des Zürcher Flughafens, Flugnummer T7 1272, der Abflug ist für 12.05 Uhr geplant. Kurz vor dem Start bringt die Flughafenpolizei Zürich zwei Algerier zum Flugzeug. Reason for deportation steht auf einem Dokument, das die Behörden für sie ausgestellt haben und: illegal stay – die Männer sollen abgeschoben werden, weil sie sich illegal in der Schweiz aufhielten.
Der Flug gilt laut Staatssekretariat für Migration (SEM) als regulärer Linienflug. Das ist er dem Anschein nach auch: Er ist im Linienplan eingetragen, und auf der Website der Fluggesellschaft Twin Jet führt eine kurze geschwungene Linie von Zürich nach Lyon.
Aber es gibt keine Möglichkeit für gewöhnliche Reisende, den Flug zu buchen: Auf der Website von Twin Jet gibt es keine Flugdaten, Tickets stehen nicht zum Verkauf. Auch auf explizite Nachfrage weigert sich der Betreiber Twin Jet, der Republik ein Ticket zu verkaufen. Es handle sich um Privatflüge – des vols privés.
Wie ist das möglich?
Recherchen der Republik zeigen: Der Bund hat letztes Jahr unter der damaligen Justizministerin Karin Keller-Sutter klammheimlich ein System für Abschiebeflüge eingerichtet, mit dem er unerwünschte Ausländer gegen ihren Willen ausschaffen kann, ohne öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen und ohne dass Menschenrechtsbeobachter an Bord wären. Diese Sonderflüge auf der Strecke von Zürich nach Lyon in Frankreich deklariert der Bund fälschlicherweise als gewöhnliche Linienflüge. Bei Abschiebungen auf Linienflügen gelten weniger strenge menschenrechtliche Standards: Die Beobachterinnen der Antifolterkommission, die jeden Sonderflug überwachen, begleiten nur äusserst selten Abschiebungen auf Linienflügen.
Von der Republik auf diese Abschiebeflüge hingewiesen, kündigt die Antifolterkommission an, diese künftig zu überwachen, um allfällige Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren.
«Rechtsstaatlich fragwürdige Praxis»
Es ist nicht das erste Mal, dass das Staatssekretariat für Migration diese umstrittene Praxis anwendet. Doch bis vor kurzem ging man davon aus, dass das SEM diese Flüge längst aufgegeben habe. Schliesslich hatte das Bundesverwaltungsgericht diese Form der Abschiebungen 2016 in einem Urteil als «rechtsstaatlich fragwürdige Rückführungspraxis» beschrieben.
Zwei Jahre zuvor, im Sommer 2014, hatte die Schweizer Antifolterkommission diese Flüge entdeckt und kritisiert: In einem Prüfbericht zeigte sich die Kommission «beunruhigt», die Flüge seien «problematisch», der Flugzeugtyp «nicht geeignet», es gebe «keine medizinische Begleitung». Bei Notfällen sei zu wenig Platz da, um angemessen zu reagieren. Zudem würden die Passagiere systematisch voll gefesselt, also Hände und Füsse in Handschellen gelegt und die Hände an einem speziellen Hüftgurt festgemacht – selbst wenn Kinder mit an Bord seien.
In der Folge zeigten Medienrecherchen die Hintergründe dieser ominösen Abschiebeflüge.
Das Staatssekretariat für Migration hatte die kleinen Privatflugzeuge der französischen Firma Twin Jet zwar gechartert, diese offiziell aber als reguläre Linienflüge eintragen lassen. Die Antifolterkommission nannte sie ominös «T7-Flüge», angelehnt am Airline-Code von Twin Jet: T7. Alle zwei Wochen flogen diese Flüge von Genf nach Mailand. So schob das SEM zwischen Juni 2012 und März 2015 insgesamt 235 Personen nach Italien ab. Die Falschdeklaration der Flüge als Linienflüge diente dazu, die italienischen Behörden zu täuschen und sie über den wahren Zweck der Flüge im Dunkeln zu lassen. Das ging später aus einem geheimen Schreiben des damaligen Staatssekretärs Mario Gattiker hervor.
Als die fragwürdigen Manöver des SEM aufzufliegen drohten, wehrte sich die Migrationsbehörde bis ans Bundesverwaltungsgericht, um die Verträge mit der französischen Fluggesellschaft vor Journalistinnen geheim zu halten, und verlangte, dass selbst die Begründung für die Geheimhaltung geheim gehalten werde.
Die Verträge musste das SEM schliesslich doch herausgeben. Sie liegen der Republik vor.
Twin Jet sicherte damals schriftlich zu, dass auf diesen Flügen sämtliche 19 Plätze exklusiv den Schweizer Behörden zur Verfügung stehen. Das geht aus mehreren Verträgen aus den Jahren 2012 bis 2014 hervor, die der Republik vorliegen. Die heutigen Verträge dürften ähnlich ausgestaltet sein. Sicher ist das nicht. Das SEM erteilt grundsätzlich «keine Auskunft über einzelne Rückführungen oder über die Fluggesellschaften, mit denen es dabei zusammenarbeitet». Es bestätigt noch nicht einmal, dass es mit Twin Jet eine Zusammenarbeit gibt, und verweigert auch jeden Kommentar zum Flug, der am 31. Mai 2022 von Zürich aus abhob.
Zwei Passagiere, zwölf Polizisten
Die Maschine mit den zwei Algeriern an Bord fliegt an diesem Tag nicht direkt nach Nordafrika, sondern lädt die beiden Männer in Frankreich ab, am Flughafen Lyon Saint-Exupéry. Dort sollen sie mit Unterstützung der französischen Polizei auf ein Flugzeug der ASL Airlines gebracht werden, die sie weiter nach Algier fliegt. Das geht aus behördlichen Dokumenten zum Flug hervor, die der Republik vorliegen.
Zwar gibt es seit letztem Jahr wieder einen direkten Linienflug aus der Schweiz nach Algerien (während der Corona-Pandemie war der Direktflug gestrichen worden). Aber im Mai 2022 akzeptieren die algerischen Behörden gemäss SEM nur freiwillige Rückkehrer auf diesen Flügen, keine polizeilich begleiteten Zwangsrückführungen.
Das gilt insbesondere für sogenannte Sonderflüge. So heissen Charterflüge, die ausschliesslich der Abschiebung unerwünschter Ausländerinnen dienen. Sonderflüge geraten immer wieder in die Kritik, weil die Menschen auf diesen Flügen nur mit Zwang, also polizeilicher Gewalt und in manchen Fällen sehr viel polizeilicher Gewalt, in ihre Herkunftsländer gebracht werden. Dabei kommt es immer wieder zu Menschenrechtsverletzungen.
Auch die beiden Algerier auf dem Flug T7 1272 im Mai vergangenen Jahres gehen nicht freiwillig. Sie werden begleitet von insgesamt zwölf Polizisten, je sechs pro Person. Das hatte das SEM bereits zwei Wochen vor Abflug festgelegt.
«Anzahl der notwendigen Flugbegleiter» heisst es im entsprechenden Dokument: 6 Männer, 0 Frauen; 1 Equipenleiter, 5 Begleiter.
Einen der beiden ausgeschafften Männer kann die Republik nach seiner Abschiebung telefonisch in Algerien erreichen. Er beschreibt die Geschehnisse des Tages so:
Er habe vor dem Abflug in einer Zelle des Flughafengefängnisses Zürich gleich neben der Rollbahn gewartet. Dann seien mehrere Polizisten gekommen und hätten ihn «vollständig gefesselt»: an Armen, Händen, Füssen, Hüfte, sagt der Mann. Zudem habe man ihn auf einen Rollstuhl gebunden, sodass er sich nicht mehr habe bewegen können. Zusammengeschnürt wie ein Paket habe man ihn zum Flugzeug gebracht. Als er einmal versucht habe, sich an einer Stange festzuhalten, hätten die Polizisten auf ihn eingeschlagen. Er habe am ganzen Körper blaue Flecken davongetragen.
Die Kantonspolizei Zürich äussert sich nicht zu den Vorwürfen. Ihr lägen keine Informationen dazu vor.
Das SEM will den Flug grundsätzlich nicht kommentieren. Es hält fest, dass es weder nach Frankreich noch nach Algerien Sonderflüge durchführe. «Es nutzt aber die Möglichkeit, weggewiesene Personen per Linienflug zurückzuführen. Anders als in einem Sonderflug kommen keine Zwangsmassnahmen wie etwa Vollfesselung zur Anwendung.»
Was genau auf dem Flug T7 1272 geschah, kann niemand unabhängig bezeugen. Der Mann hat keine Fotos seiner Verletzungen. Und ausser den mutmasslichen Tätern und Opfern war niemand anwesend. Keine Passagiere, keine Ärztin – und auch keine Menschenrechtsbeobachter.
Übermässige Polizeigewalt, rechtswidrige Fesselungen
Leo Näf weiss, wie es auf Abschiebeflügen zu- und hergehen kann. Er ist seit 2011 Mitglied der Nationalen Kommission zur Verhütung von Folter, besser bekannt als Antifolterkommission. Er ist so lange dabei wie kein anderes Mitglied. Dieses Jahr wird er die Kommission wegen der Amtszeitbeschränkung verlassen.
Vierzig oder fünfzig Flüge habe er im letzten Jahrzehnt begleitet und beobachtet, sagt Näf. Vom Abholen im Gefängnis über den Transport ins Flugzeug bis zur Ankunft im Zielland. Immer waren es Sonderflüge, die aus menschenrechtlicher Sicht besonders heikel sind.
Das Mandat, Ausschaffungsflüge zu überwachen, hat die Antifolterkommission im Jahr 2012 vom Bund erhalten. Zwei Jahre zuvor war Joseph Ndukaku Chiakwa bei den Vorbereitungen für einen Sonderflug nach Nigeria gestorben. Eine Uno-Kommission kritisierte, dass die Schweiz bei Zwangsausschaffungen keine unabhängigen Beobachterinnen zuliess. Die Schweiz passte darauf ihre Praxis an und liess seither alle Sonderflüge überwachen, so wie es die entsprechende EU-Rückführungsrichtlinie vorsieht.
Regelmässig veröffentlicht die Antifolterkommission seither Prüfberichte «betreffend das ausländerrechtliche Vollzugsmonitoring». Darin dokumentieren die Beobachter der Antifolterkommission unverhältnismässige Polizeigewalt, rechtswidrige Fesselungen oder dramatische Einzelfälle, bei denen grundlegende Menschenrechte missachtet werden.
Im jüngsten Bericht etwa ist ein Fall beschrieben, bei dem eine schwangere Frau vor ihren Kindern gefesselt wurde und ihr Kleinkind in Handschellen stillen musste. Danach wurde die Frau, die über Schmerzen im Bauch klagte, «auf inadäquate Art» von mehreren Polizistinnen die Treppe hinuntergetragen und in einen Kleinbus gebracht, der sie zum Flughafen fuhr. Die Antifolterkommission beurteilte das Vorgehen der Polizei als «erniedrigend und unmenschlich».
Die Wirkung solcher Berichte ist allerdings begrenzt: Die Kommission kann nur Empfehlungen aussprechen, keine Sanktionen verhängen. Ihr fehlt es auch an Ressourcen, um nicht nur Sonderflüge zu überwachen, sondern auch andere heikle Flüge.
Im Jahr 2021 – aktuellere Zahlen hat das SEM nicht – fanden insgesamt 43 Sonderflüge statt, auf denen 165 Personen abgeschoben wurden. In der gleichen Zeit wurden auf Linienflügen 248 Personen zur Rückkehr gezwungen, wobei in der Regel auf Linienflügen nur einzelne Personen abgeschoben werden. Die Zahl der Linienflüge will das SEM nicht bekannt geben, sie dürfte aber deutlich höher sein als jene der Sonderflüge.
Und so kam es auch, dass die Antifolterkommission erst durch eine Anfrage der Republik erfahren hat, dass das SEM im vergangenen Jahr die umstrittene Praxis der falsch deklarierten Sonderflüge mit Twin Jet wiederaufgenommen hat.
Einen Tag bevor der Flug T7 1272 von Zürich nach Lyon abhob, ging zwar um 8.33 Uhr eine E-Mail bei der Antifolterkommission ein, in der das SEM den Flug ankündigte, so wie es der Kommission alle zwangsweisen Rückführungen vorgängig meldet. Aber der Flug wurde nicht als T7-Flug gemeldet, wie das in den Jahren 2012 bis 2015 der Fall war. Und schon gar nicht als Sonderflug, denn dann wäre auf jeden Fall ein Kommissionsmitglied mitgeflogen und hätte die Geschehnisse an Bord beobachtet.
Stattdessen verschickte das SEM «mit freundlichen Grüssen» eine leere Mail mit Anhang, in der es über einen verhältnismässig harmlosen «Linienflug» informierte.
Leo Näf von der Antifolterkommission kann nichts dazu sagen, ob die Migrationsbehörden die Flüge falsch deklarierten, um die Überwachungen durch die Kommission zu umgehen. «Die Flüge werden uns als Linienflüge gemeldet. Wir müssen davon ausgehen, dass das stimmt. Aber wir haben das nicht überprüft und verifiziert.»
Er könne deshalb auch nicht beurteilen, ob auf den aktuellen T7-Flügen alles korrekt ablaufe, denn die Kommission war nicht dabei. «Ich kann mich also nur auf die früheren Flüge beziehen. Und damals kritisierten wir sie, weil sie wegen der engen Platzverhältnisse grundsätzlich nicht geeignet waren für Rückführungen. Diese Kritik gilt im Grundsatz auch heute noch.»
Kritik gab es jüngst auch von der Uno-Subkommission gegen Folter. Ihr gegenüber wurden mehrere Vorwürfe wegen übermässiger Zwangsanwendungen auf Linienflügen geäussert. Dabei ging es vor allem um zu enge Fesselungen hinter dem Rücken und eine Technik, «bei der stark auf den Adamsapfel gedrückt wurde, um die rückzuführenden Personen am Schreien zu hindern».
Von der Republik auf die Wiederaufnahme der sogenannten T7-Flüge hingewiesen, kündigt die Antifolterkommission an, diese künftig zu überwachen, um allfällige Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren.
Abschiebung über Istanbul, Paris, Barcelona, Rom, Doha
Als Karin Keller-Sutter 2019 das Justizdepartement übernahm, betonte sie nach knapp 100 Tagen im Amt, wie wichtig eine «glaubwürdige Asylpolitik» sei. Sie meinte damit vor allem: dass man jene, die kein Asyl erhalten, konsequent abschiebt. Das habe für sie höchste Priorität, sagte sie.
Es ist seit jeher das Credo der Schweizer Asylbehörden: dass man grosszügig sei beim Anerkennen von Flüchtlingen, aber dafür streng beim Wegschicken der Abgewiesenen.
Im Fall von Algerien aber liegen die Dinge anders. Da lautet das Motto: rigorose Ablehnung von Asylsuchenden. Und noch konsequentere Abschiebung.
Letztes Jahr gingen bis Ende November 1239 Asylgesuche aus Algerien ein, 7 Personen erhielten Schutz. 332 Personen verliessen das Land freiwillig, 101 Algerier wurden unter polizeilichem Zwang ausgeschafft.
Dabei scheuten die Behörden offenbar keinen Aufwand und schoben die abgewiesenen Algerier auf Linienflügen mit Zwischenstation in Istanbul, Paris, Barcelona, Rom oder Doha ab.
Mehrere Algerier, mit denen die Republik gesprochen hat, berichten, dass sie auf diesen Flügen von Polizisten beschimpft und geschlagen worden seien.
In einem Fall, der von der Antifolterkommission ebenfalls nicht beobachtet wurde, kam es demnach zu einer Vollkörperfesselung an Oberarmen, Händen, Hüften und Füssen. Der Mann sagte der Republik, er sei auf einen Rollstuhl geschnürt und ihm sei ein sogenannter Schutzhelm mit Spucknetz aufgesetzt worden. Er hätte aus der Schweiz über Istanbul nach Algier abgeschoben werden sollen. Als die Polizisten ihn im Flugzeug aber auf den Stuhl hätten setzen wollen, habe er sich gewehrt, sei zu Boden gedrückt und geschlagen worden. In diesem Moment hätten reguläre Passagiere das Flugzeug betreten und angefangen zu filmen, worauf die Abschiebung abgebrochen worden sei.
Beim zweiten Versuch im November 2022 habe ihn die Polizei in einem Minivan nach Mulhouse gebracht, wo sie ihn in eine Maschine der ASL Airline direkt nach Algier gesetzt habe. Wieder voll gefesselt, aber dieses Mal hinter einem Vorhang, der als Sichtschutz diente, damit die anderen Passagiere nicht gestört würden.
Diese Praktiken sind nicht verboten. Sie sind fast alltäglich in diesem Land. Ob sie menschenwürdig sind oder sinnvoll, ist eine andere Frage.
Einer der abgeschobenen Algerier sagte der Republik im Gespräch, er komme bald zurück in die Schweiz. «Ich kenne einen», sagte er, «der macht mir für 1000 Euro einen neuen Pass. Vielleicht 1500. Und dann fahre ich wieder nach Europa.»