So kanns einem gehen, wenn man als junger Mensch noch nichts von Gewerkschaften gehört hat. In diesem Artikel wird ein gutes Dutzend üblicher Verstöße gegen Arbeitsschutz und Sicherheit beschrieben. Aber als vorlauter Grünschnabel gibt man zu gerne den Held. Davon profitieren ausbeuterische Chefs. Leider erfahren wir hier nicht, um welchen Lichterfelder Fuhrbetrieb es geht.
10.1.2024 von Christian Hartwich - Berge von Schnee und Wahnsinnskälte: Im Winter vor 45 Jahren wollte man in Berlin das Haus am liebsten nicht verlassen. Aber unser Autor hatte wichtige Fracht auszuliefern.
45 Jahre ist es jetzt her, aber vergessen werde ich ihn nicht, diesen Jahrhundert-Winter 1978/79. Wahnsinnskälte, Berge von Schnee in den Straßen, Eis überall. Da freute man sich, wenn man die kuschelige Wohnung nicht verlassen und nach draußen auf die Straße musste.
Kuschelig? Nicht auf die Straße? Bei mir sah es damals geringfügig anders aus. Von kuschelig konnte nicht die Rede sein, und auf der Straße war ich ständig: Als Transportfahrer auf einem 7,5-Tonner quälte ich mich täglich durch die Straßen von West-Berlin.
Im September 1978 hatte ich bei „Brosch-Transporte“ (Name geändert) in Lichterfelde angeheuert. 19 Jahre jung, den Führerschein seit gut vier Monaten in der Tasche, den Trucker-Film „Convoy“ noch frisch im Gedächtnis – was konnte da schief gehen? Ich war doch sowieso der Schärfste (dachte ich). Das Irrste: Der alte Brosch stellte mich tatsächlich vom Fleck weg ein, und das obwohl ich in den zurückliegenden Wochen lediglich ab und zu den knallroten, klapprigen Opel Kadett meiner Mutter gefahren war. Die ausgiebige, fünfminütige Probefahrt mit einem seiner Trucks hatte ihn offenbar restlos von meinen Fähigkeiten überzeugt. Keine Frage, der Alte hatte Klasse. Und er war ein Visionär, anders war es kaum erklärlich, warum er mich nicht nach zwei Tagen wieder rauswarf. Schließlich hatte ich bereits an meinem zweiten Arbeitstag drei Außenspiegel von arglos am Straßenrand parkenden Pkw auf dem Gewissen. Es gab eben doch kleine Unterschiede zwischen einem 7,5-Tonner Daimler und einem Opel Kadett.
Nun ja, das waren Kinderkrankheiten. Tatsächlich konnte ich nach relativ kurzer Zeit mit den Lkw von Brosch recht gut umgehen. Wir hatten fünf Wagen, wobei zwei mit Tiefkühl-Laderäumen ausgestattet waren. Einer von den Lastern hatte es besonders in sich; ihm fehlte die Servolenkung. Das war dann immer richtig toll für denjenigen, der dieses Ungetüm für den Tag zugeteilt bekam. Dabei war Brosch gerade auf diese Kiste besonders stolz: „Der iss zuverlässig, Herr Hartwich, der iss unbedingt zuverlässig…“ Was er nicht sagte, war, dass man massiv zu ackern hatte, wenn man die Kutsche überhaupt einigermaßen geschmeidig durch den Straßenverkehr bewegen wollte. Zum Glück hatte ich den Wagen nicht ständig, sonst hätte ich irgendwann noch Arme im Schwarzenegger-Format bekommen.
Rekordwinter 1978/79: Minus zwanzig Grad am Morgen
Immer wieder freitags kam Freude auf. Nachdem wir unsere Fahrten (übrigens mit Lade- und teilweiser Montagearbeit) am späten Nachmittag erledigt hatten, hieß es „abschmieren“. Mit Schmierpumpen bewaffnet, fetteten wir dann die Fahrzeuge an den dafür vorgesehenen Schmiernippeln komplett ab. Eine wunderbare Arbeit zum Wochenende. Ähnlich erfreulich waren die Starthilfen im Winter, wenn wir morgens um sechs Uhr bei minus 20 Grad Celsius die ausgekühlten Diesel mit Hilfe von Bunsenbrennern zum Leben erweckten.
Kurzum, es war kein leichter Job, und er hatte auch Null-Komma-nichts gemein mit Filmen à la „Convoy“ oder TV-Opern wie „Auf Achse“. Diese Landstraßen-Märchen haben nämlich regelmäßig ein gemeinsames Alleinstellungsmerkmal: Es wird nicht gearbeitet. Die Wirklichkeit sah (und sieht) ganz anders aus. Ich hatte das schnell begriffen, und kapiert hatte ich auch rasch, dass ich in meinem neuen Job nicht gerade das große Geld verdienen würde. „Brosch & Sohn – große Klappe, kleiner Lohn“ - unser Lichterfelder Betrieb hatte einen gewissen Ruf in unserer schönen Halbstadt, und diesen Spruch bekam ich anno 78/79 von externen Kollegen öfter zu hören.
Trotzdem hatte ich in meinem Job viel Spaß. Erstens war ich froh, überhaupt mein erstes eigenes Geld zu verdienen. Zweitens bekam ich dort in einem dreiviertel Jahr etwas geliefert, was man mit Geld nicht kaufen kann: Reife. Noch heute sage ich, dass mich die harte und lange Arbeit, das frühe Aufstehen am Morgen, hat mich erwachsen werden lassen. So eigenartig es sich heute vielleicht anhören mag, aber in wenigen Monaten war aus dem Zehlendorfer Vorstadt-Bubi mit endlosen Flausen im Kopf ein junger Mann geworden.
Meine legendäre „Hähnchen-Tour“ durch West-Berlin
Besonders in Erinnerung aus dieser Zeit ist mir ein Tag im Winter. Noch heute, wenn ich mit Freunden zusammen sitze, lachen wir über die legendäre „Hähnchen-Tour“, die ich an einem schönen, bitterkalten Donnerstag auf vereisten Straßen zu absolvieren hatte. Dabei war das damals alles andere als komisch, aber der Reihe nach. Frühmorgens wurde ich für einen unserer Tiefkühler eingeteilt. Es ging darum, mehrere Filialen der Kaufhauskette Hertie mit tiefgekühlten Hähnchen zu beliefern. Das Federvieh war in glatten Kartons verpackt und auf Paletten gestapelt. Ziele waren die Restaurants der Hertie-Häuser unter anderem in Neukölln, Friedenau und Spandau. Die Kartons waren fein säuberlich gestapelt, und damit nichts umstürzte waren sie auf einzelnen Paletten mit Packriemen aus (angeblich) reißfestem Kunststoff festgezurrt.
Und so fuhr ich an jenem Tag vom Gehöft. Ich hatte vielleicht einen Kilometer zurückgelegt, da geschah es: An einer Kreuzung musste ich voll auf die Luftdruckbremse steigen, weil mir plötzlich auf eisglatter Fahrbahn ein Pkw entgegenschleuderte. Mein Truck kam – Eis hin, Eis her - augenblicklich zum Stehen, gleichzeitig rutschte der Pkw an mir vorbei und prallte gegen den Bordstein. In diesem Augenblick ging ein dumpfes Poltern durch meinen Wagen, und ich wusste sofort, was passiert war.
Das Übel der autogerechten Stadt: Wie Willy Brandt West-Berlin veränderte
Meine Kindheit auf dem Abenteuerspielplatz West-Berlin
Durch die Vollbremsung waren die Packgurte der Paletten gerissen und die Hähnchen flogen wild durch den Laderaum. Ich fuhr an den Straßenrand, stellte den Motor ab, ging um den Wagen herum und öffnete die Ladebordwand am Heck. Und da lagen sie, die zahllosen Kartons, völlig durcheinander, manche eingerissen und offen. Völlig idiotisch, aber irgendwie spukte mir bei dem Anblick der Spruch „aufgescheuchte Hühner“ durch den Kopf. Zum Lachen war mir allerdings nicht zu Mute. Es half alles nichts, ich musste mit Hilfe der Lieferscheine die Stapel neu aufbauen und notdürftig stabilisieren. Die Packgurte (reißfest!) waren ja nicht mehr zu gebrauchen.
Nach einer halben Stunde hatte ich es geschafft, und die Tour konnte weiter gehen. Ich hatte die erste Filiale fast erreicht, da passierte es ein zweites Mal. Diesmal reichte schon eine leichte Bremsung um die Hähnchen zum Fliegen zu bringen. Zähneknirschend rollte ich mit dem Lkw zur Laderampe vor, pickte dann die für die Filiale bestimmten Kartons heraus und lieferte den ersten Teil meiner Fracht ab. Anschließend stapelte ich die übrigen Kartons wieder aufeinander und startet zum nächsten Kaufhaus.
Ich wurde immer besser, denn inzwischen schaffte ich ungefähr fünf Kilometer, bis zum erneuten Abflug der Tiefkühl-Biester in meinem Rücken. Ich entschloss mich, die Vögel im Laderaum erstmal liegen zu lassen. Was nutzte es schließlich, wenn ich jetzt wieder eine Pause einlegte, nur um die Viecher in ihren aalglatten Kartons bis zu ihrem nächsten Absturz wieder sinnlos übereinander zu stapeln?
Passanten auf dem verschneiten Kurfürstendamm in Berlin
Passanten auf dem verschneiten Kurfürstendamm in BerlinUnited Archives/dpa
Das alte Berlin: Chaos und rauer Humor
Tatsächlich kam ich auf diese Weise einigermaßen über den Tag. Da sich die Zahl der tiefgekühlten Hähnchenleichen in ihren Pappsärgen von Filiale zu Filiale reduzierte, wurde der Haufen in meinem Rücken somit auch immer kleiner, und das Stapeln bei der Auslieferung ging auch schneller von der Hand.
Dann kam Hertie-Spandau. Es war mein letzter Kunde an diesem denkwürdigen Tag. Ich war zur Anlieferung auf den Hof der Filiale gefahren und hatte kurz vor einem Lastenaufzug die letzte Hühnerpalette gestapelt. Zack, fuhr ich mit den Greifarmen eines Hubwagens unter die Palette, stemmte die Ladung in die Höhe und rollte in den Aufzug. Da geschah es: zwischen Aufzug und davor liegender Bordstrecke war eine kleine Lücke. Und genau die reichte aus, um das wacklige Konstrukt auf der Palette mit einem enormen Poltern zum Einsturz zu bringen. Dutzende von tiefgekühlten Gummiadlern krachten in den Aufzug und blockierten die Türen.
Wohnen in West-Berlin: Wie ich als Lehrling ein Häuschen mit Garten bezog
Entstehung der Berliner Kinderläden: Kindergärtnerin „trägt Vollbart“ und „reinste Anarchie“
Ich war am Ende. Als dann noch zwei superschlaue Packer daherkamen und ihre Witzchen machten, war es vorbei. Ich sprang auf, drehte mich nach den beiden Burschen um, schiere Mordlust in den Augen. „Lass ma´ brennen“, sagte der eine da schnell beschwichtigend. „Wir helfen dir, die Viecher wieder auf de Reihe zu kriejen.“ Ich war sprachlos, biss mir auf die Lippe, damit die Verwünschungen, die mir auf der Zunge lagen nicht plötzlich unkontrolliert ins Freie quollen. Keine fünf Minuten später hatten wir zu dritt das Chaos beseitigt. Ich fuhr die geflügelte Fracht zur Annahme wo mir ein Lagerist den Empfang bestätigte.
Als ich wieder draußen war, standen da noch die beiden Packer, die mir zuvor geholfen hatten, das Malheur zu beseitigen. Vor sich drei Pappbecher mit Kaffee. „Komm´ ma her, Kolleje“, meinte der eine und zwinkerte mir aufmunternd zu. „Nimm erst ma n Kaffe und ne Zijarette, siehst ja aus wie n abjenagter Hühnerknochen.“ Das kam in etwa hin, und in dem Augenblick konnte ich mir ein Grinsen nicht verkneifen, denn so eine (Tor-)Tour hatte ich während meiner gesamten Zeit bei „Brosch-Transporte“ noch nicht gehabt. Wir haben dann noch ein paar Minuten zusammen gestanden, geklönt über dies und das, und dann ging und fuhr jeder seiner Wege. Tja, auch das war West-Berlin: Chaos, rauer Humor und Hilfsbereitschaft.