4.3.2025 von Johann Voigt - Die besten Galerien, Concept-Stores und ein mehrstöckiger Sexshop verkaufen hier Ideen für ein besseres Morgen – oder das Ende der Welt. Ein Besuch.
„Ich bin vor über einem Jahrzehnt aus Berlin-Mitte weggegangen, weil es mir dort zu kommerziell geworden ist“, sagt Andreas Murkudis an diesem Morgen in seinem Concept-Store auf der Potsdamer Straße. Er trägt schlichte, dunkle Kleidung und strahlt eine Ruhe aus, die mit dem Lärm von draußen bricht.
Baustellen machen es einem teilweise unmöglich, sich als Fußgänger sicher fortzubewegen. Das Hupen der Autos im stockenden Verkehr verklebt die Gedanken. Die Potsdamer Straße ist ein Ort der Widersprüche Berlins. Diese Straße ist nicht zum Flanieren gemacht und trotzdem reihen sich hier Galerien und Concept-Stores aneinander, kauft eine Frau einen Hut für 600 Euro bei Fiona Bennett, der besten Hut-Designerin der Stadt. Und einige Meter weiter besorgt sich jemand illegale Substanzen für den nächsten Schuss.
In den 1980er-Jahren kamen die Hausbesetzer, dann kamen Kriminalität und Prostitution, dann die Galerien. Zweieinhalb Kilometer der Gegensätze. Schöneberg und Tiergarten, das alte Westberlin mit seiner verwinkelten Staatsbibliothek und der Potsdamer Platz im Osten als Versuch eines urbanen Zentrums voller Glas.
Wegen dieser Gegensätze ist auch Andreas Murkudis hierhergekommen. Wenn man in Berlin etwas Besonderes kaufen will, ein rosafarbenes Designer-Kuscheltier-Schwein, ein paar knallbunte Schuhe des belgischen Designers Dries van Noten, etwas Hochwertiges also, das kein anderer besitzt, dann geht man zu ihm.
Murkudis Laden befindet sich in einem Hinterhof. Der Concept-Store, angesiedelt in einer kargen Halle mit weißen Wänden, ist ein Hort der schönen Dinge. „Ich bin auf diesen Hof gekommen, alles stand leer, es war recht ungastlich.“ Einige Kunden hätten gesagt: „Wir kommen nicht hierher“. Murkudis dachte nur: „Ist mir egal.“ Er kennt die Gegend, besuchte die in einer Nebenstraße gelegene Sophie-Scholl-Schule.
„Es ist eine hässliche Straße, eine Durchgangsstraße, nach wie vor“
Ob sich hier viel verändert hat, im Vergleich zu früher? Nein, sagt Murkudis. Der Fleischer, der Bäcker und der Schreibwarenhandel von früher sind noch da. Und auch die Joseph-Roth-Diele, ein uriges Restaurant, benannt nach dem jüdischen österreichischen Schriftsteller. Passend zur Potsdamer Straße heißt eine Novelle von ihm: „Triumph der Schönheit“, ein anderer Roman „Rechts und links“.
„Es ist eine hässliche Straße, eine Durchgangsstraße, nach wie vor“, sagt Murkudis. Direkt an der Straße befindet sich der zweite Raum seines Ladens. Blickt man nach draußen, dann sieht man Müll und das Wintergartenvarieté. Drinnen stehen Plattenspieler. Bleistiftzeichnungen von eigenartigen Räumen, die aussehen wie Büros in toten Fabriken, hängen an der Wand. Sie stammen von dem Künstler Carsten Nicolai. Als Alva Noto macht er geisterhafte Experimentalmusik.
Am Wochenende steht er in diesem Raum, den ihm sein Freund Andreas Murkudis zur Verfügung gestellt hat. Man kann hier mit ihm zusammen seine Musik hören, wenn man das will. Wieder so ein Ruhepol. Im März wird all das verschwunden sein. Ein Ort so fluide wie die Potsdamer Straße selbst. Murkudis bespielt den Raum ständig neu. „Man muss seine Kunden hierherholen“, sagt er noch und meint damit die Potsdamer Straße im Allgemeinen. „Einige, vor allem internationale Kunden, finden den Laden nicht, irren umher.“
Umherirrende erblicken dann vielleicht den Slogan „This Will Not End Well“, der am Gebäude der Neuen Nationalgalerie zu lesen ist. Dort läuft gerade die Nan Goldin-Retrospektive. Oder LSD, Love, Sex and Dreams, in roten Lettern an einem mehrstöckigen Sexkaufhaus einige hundert Meter entfernt, in dem sich Sexarbeiterinnen Zimmer mieten können. Oder sie sehen in einem Café namens Need a break?! Autor:in Hengameh Yaghoobifarah sitzen und teilnahmslos aus dem Fenster schauen.
Entlang der Potsdamer Straße versprechen Zeichen und Sätze die Zukunft und verkünden gleichzeitig das Ende. Diese beiden Extreme passen ganz gut zur wachsenden Metropole Berlin. Nirgendwo werden die Gegensätze so gut abgebildet, wie hier zwischen den Wohnblocks, dem Acne-Store und all der Kunst. Denn in den letzten zehn, fünfzehn Jahren sind unzählige Galerien auf die Potsdamer Straße gezogen. Man sieht sie nicht sofort. Sie sind in den Hinterhöfen angesiedelt, in Altbauwohnungen versteckt.
Einige Meter entfernt von Murkudis Store befindet sich die Galerie Esther Schipper. Man fährt mit einem Fahrstuhl hinauf und steht gewissermaßen über den schönen Dingen. Auch sie ist vor ein paar Jahren auf die Potsdamer übergesiedelt. Ein Mitarbeiter schwärmt von der experimentierfreudigen Szene in der Gegend, von junger Kunst, die hier gezeigt wird. Im Hintergrund hört man düstere Musik. Es ist gerade die Show „Road Runner“ von der Künstlerin und Autorin Cemile Sahin zu sehen. Sahins Arbeiten spiegeln indirekt auch die Ambivalenzen der Potsdamer Straße. Das Schöne, das Rohe, die Gewalt, die Sinnlichkeit.
„Road Runner“ ist ein dystopisches Video, das auch mit den Ästhetiken von TikToks spielt, mit Action und AI. Die Dialoge hat Sahin geschrieben, sie beschreiben den Kampf einer Heldin. Sie schießt und springt. An den Wänden hängen dazu Abbildungen von Patronen und pinken Bentleys, von Waffen und Wüstensand. Darauf gesetzt sind mit künstlicher Intelligenz generierte Textfetzen. „The future is hot and dry“, steht da unter anderem. Die Zukunft ist heiß und trocken.
Auf der Potsdamer Straße passiert Diskurs – sie lockt eine internationale Szene an
In der Galerie Esther Schipper wird klar: Auf der Potsdamer Straße passiert Diskurs. Man kann das zynisch finden, weil es nicht unbedingt ein Angebot für Menschen ist, die auch wirklich dort leben. Man kann es aber auch spannend finden, weil die Concept-Stores, die Designer, die Galerien sich gegenseitig befruchten und eine internationale Szene auf die Potsdamer Straße treiben.
So denkt auch Fiona Bennett, die um die Ecke den renommiertesten Hutladen Berlins betreibt. „Ich habe immer die Galerie-Nähe gesucht“, sagt Bennett. „Galeristen, Sammler, Künstler waren immer meine Kunden. Hier fühlt man sich gut eingebettet.“ In ihrem Laden gibt es Hüte, in die Kaschmir-Schals integriert sind. Bunte Hüte, edle Hüte, Hüte für Pferderennen und Hochzeiten. Viele sehr teure Hüte. Bennett hat ihre eigene Manufaktur in Berlin, war auch für die Hüte der Schauspieler in „Babylon Berlin“ verantwortlich.
Genau wie Andreas Murkudis ist auch sie von Mitte auf die Potsdamer Straße gezogen. „Ich bin vor 14 Jahren mit meinem Geschäftspartner hier hergekommen“, sagt sie. „Murkudis war schon im Hof. Wir haben zur Straße hin geöffnet – damals gab es noch den Straßenstrich fast vor der Tür, das Haus stand weitestgehend leer. In den letzten Jahren hat sich alles zu einem spannenden Ort entwickelt.“ Gerade ist deswegen auch noch das junge Berliner Modelabel Working Title mit eingezogen. Björn Kubeja, ein Architekt und neben Designerin Antonia Goy einer der beiden Betreiber, sitzt neben Fiona Bennett und sagt: „Die Kunden hier sind Individualisten. Leute aus Asien, aus Amerika – sie wissen genau, dass hier der Spot für sie ist.“
Was Kubeja und Bennett eint, ist ihr Sinn für Nachhaltigkeit. Ihre Mode ist entschleunigt, sie soll lange überdauern können. Ein Gegenentwurf zum Ausstellungstitel der Show in der Neuen Nationalgalerie also, der besagt, dass das hier alles nicht gut enden wird. Die Sachen von Working Title sind schlicht, sleek, unisex. Kubeja sagt: „Wenn man unsere Stücke gar nicht mehr restaurieren kann, dann kann man sie guten Gewissens gehen lassen. Sie bestehen nur aus Naturmaterialien.“
Laut, aber nicht ekelhaft laut
„Ich finde, die Straße hat was sehr Urbanes, ist sehr laut, aber nicht ekelhaft laut, hat ein gutes Grundtempo, einen urbanen Beat, ist multikulturell“, sagt Kubeja. Wenn er spricht, klingt es jetzt auch wie ein Beat. Er macht eine kurze Denkpause und fügt hinzu. „Es ist all das, was Berlin ausmacht.“
Nur das Nachtleben fehlt hier weitestgehend. Es gibt die Stripclubs und die Kaschemmen auf der einen Seite und die Victoria Bar und das Kumpelnest für die Szene-Leute auf der anderen Seite. Sonst sieht es mau aus. Das Studio 1111 von Nachtleben-Urgestein Till Harter versucht parallel dazu Marken und Partys zusammenzubringen und die Leute, die hier arbeiten, auch am Abend auf der Straße zu halten. Keine einfache Aufgabe. Die meisten gehen dann doch lieber zurück nach Neukölln oder Kreuzberg.
„In der Nacht verändert sich das Publikum auf der Potsdamer Straße“, sagt auch Hannes Schmidt. „Die Menschen, die hier in den Agenturen und Galerien arbeiten, gehen in ihre Viertel zurück.“ Er steht in einer Altbauwohnung auf der Potsdamer Straße und ist in Eile. Schmidt ist Künstler, hat kleine Projekt-Spaces geleitet und betreibt hier nun seine Galerie Schiefe Zähne. Sie ist ein Bindeglied zwischen Orten wie der Esther Schipper Galerie, den Läden von Murkudis oder Bennett und der Gegenkultur der 80er-Jahre. An diesem Tag Ende Februar läuft eine Gruppenausstellung, die sich kritisch mit dem Konzept Gruppenausstellung auseinandersetzt: „Ten thousand ugly inkblots | Part 3/3.“
Schiefe Zähne ist ein ursprünglicher Ort, der mit der Sterilität anderer Galerien bricht. Die Kunst, die dort gezeigt wird, ist hoch-diskursiv, kritisch gegenüber dem Kunstmarkt, kritisch gegenüber Kunst selbst. „Man profitiert von der Galeriendichte“, sagt Schmidt noch, während er sich einen Kaffee holt und dann schnell weiter hastet.
Die Potsdamer Straße ist kein Ort des Innehaltens. Wer sie besucht, muss in ständiger Bewegung bleiben, kann kurz in den Läden, in der Mode, in der Kunst abtauchen, aber landet am Ende doch wieder auf dem Gehsteig dieser launigen und dreckigen Hauptverkehrsader. Das erdet.