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  • ’Überfressen am Übernahmehunger’: Wie New Yorker das Taxigewerbe in Chicago plünderten
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    8. Oktober 2019 von 8. Oktober 2019 - Bereits im Mai berichteten wir vom Preisverfall der New Yorker Taxikonzessionen, deren Ursache auch in gewerbeinternenen Spekulationen begründet war. Nun wird klar: Das Konzept wurde auch in anderen Regionen der USA angewandt, allen voran in Chicago.

    Im Herbst 2006 veranstaltete Chicago eine Auktion zum Verkauf von Taxikonzessionen (in USA als ‘Medallions’ bezeichnet). Hunderte von Angebote gingen ein, einschließlich einiger Angebote, die deutlich über dem Marktpreis lagen. Die Stadt sammelte Millionen von Dollar. Beamte erklärten damals den Verkauf zu einem Erfolg.

    Die Auktion hatte jedoch etwas Merkwürdiges: Keiner der Gewinner lebte in Chicago. Sie hatten ihren Wohnsitz hunderte Kilometer entfernt in New York, entdeckte New York Times Journalist Brian Rosenthal, der in den vergangenen Monaten bereits ausführlich über ähnliche Spekulation und Manipulation auf dem New Yorker ‘Medallionsmarkt’ berichtet hatte.

    Er entdeckte in Chicago ein ‘Feeding Frenzy’, frei übersetzt einen ‘zügellosen Übernahmehunger’, durch den im Laufe des nächsten Jahrzehnts die führenden Unternehmen des New Yorker Taxigewerbes – Flottenbesitzer, Makler und Finanziers – die Kontrolle über den Konzessionsmarkt in Chicago übernahmen und ihn regelrecht auspressten. Mit schon in New York verfeinerten Taktiken verdienten sie Millionen von Dollar, trugen aber letztendlich dazu bei, eine Branche in Trümmern und das Leben von Fahrern mit Migrationshintergrund am Rande des Ruins zu hinterlassen.

    Die New Yorker verwendeten in Chicago eine ähnliche Methode wie auch in mehreren anderen Städten in den USA: Sie erhöhten die Medaillonpreise, stellten Käufern Kredite mit hohem Risiko zur Verfügung und sammelten eifrig Zinsen und Gebühren – bis die ‘Medallionsblasen’ schließlich platzte und die Märkte zusammenbrachen. Die Preise für Medaillons waren bis dahin teilweise um das Siebenfache gestiegen: auf 700.000 Dollar (637.000 Euro) in Boston, 550.000 Dollar (500.726 Euro) in Philadelphia, 400.000 Dollar (364.165 Euro) in Miami und 250.000 Dollar (227.600 Euro) in San Francisco.

    Die ehrgeizigste Expansion richtete sich jedoch gegen Chicago, Heimat der zweitgrößten Taxi-Industrie des Landes, wie Rosenthals Recherche ergab. Die New Yorker kauften letztendlich fast die Hälfte der Medaillons der Stadt, wie offizielle Aufzeichnungen belegen. Einige gingen laut Dokumenten und Interviews besonders aggressiv vor. Zuerst kauften sie Medaillons zu Schnäppchenpreisen und stellten große Taxiflotten auf. Dann trieben sie die Medaillonpreise in die Höhe. Schließlich verkauften sie ihre Medaillons kurz vor dem Zusammenbruch an ihre Fahrer und an konkurrierende Flottenbetreiber.

    Die Invasion schuf außergewöhnlichen Wohlstand für eine kleine Anzahl von New Yorkern. Ein New Yorker Unternehmensnetzwerk beispielsweise kaufte Chicago-Medaillons im Wert von 30 Millionen Dollar (27,3 Millionen Euro) und verkaufte sie später für 185 Millionen Dollar (168,4 Millionen Euro). „Sie nutzten uns aus, um reich zu werden“, sagte Demetrios Manolitsis, 52, ein Chicagoer Taxifahrer aus Griechenland.

    Manolitsis, der 1992 mit dem Taxifahren begann und ein zusätzliches Medaillon als Investition besaß, sagte, die New Yorker in Chicago hätten ihn überzeugt, sich Geld zu leihen, um 15 weitere Medaillons auf dem Höhepunkt der Blase zu kaufen, als die Preise explodierten und der Vermögenswert unbesiegbar schien. Er ist jetzt unter einem Berg von Schulden begraben und kurz davor, alles zu verlieren. “Wir haben ihre Kredite aufgenommen und wurden ausgelöscht“, sagte Manolitsis.

    Der Durchschnittspreis eines Chicagoer Medaillons war zum Höhepunkt der Blase auf fast 400.000 Dollar (364.000 Euro) gestiegen. Ab 2013 waren die Preise dann gesunken. Sie wurden 2006 für weniger als 50.000 Dollar (45.500 Euro) verkauft. Als die New Yorker den Medaillonmarkt übernahmen und die Preise stiegen, schlossen sich Hunderte von Einheimischen dem Ansturm an. Mehr als 770 Einwohner von Illinois haben in diesem Zeitraum mindestens ein Medaillon gekauft. Viele waren eingewanderte Taxifahrer, die kein fließendes Englisch sprachen und Kredite unterzeichneten, die sie sich nicht leisten konnten, angezogen von dem Versprechen eines leichten Reichtums und einer sicheren Zukunft.

    Die Kollegen vom Taximagazin Chicago Dispatcher haben 2011 schon mahnend über den Preisanstieg der Medallions berichtet. Unter der heutigen Taxidepression in Chicago leidet auch die Taxi-Fachzeitschrift. Der Verleger Georg Lutfallah hat Anfang Oktober den Laden dichtgemacht. Foto: Wim Faber
    Seit dem Platzen der Blase haben mehr als 200 von ihnen Insolvenz angemeldet, ebenso wie viele andere, die Medaillons früher gekauft und ihre ursprünglichen Kredite refinanziert haben, während die Preise hoch waren.

    Heutzutage ist ein Chicagoer Taxi-Medaillon höchstens 30.000 Dollar (27.300 Euro) wert, und viele Eigentümer haben aufgegeben. Vierzig Prozent der Taxis sind derzeit nicht in Betrieb.

    Davon profitieren vor allem Uber und Lyft, denn anders als in New York, wo Vorschriften und die Dichte des Stadtkerns die gelben Taxis teilweise vor den Auswirkungen der Konkurrenz durch Uber & Co geschützt haben, wurde das Taxigewerbe in Chicago und anderen Städten von Uber und Lyft verwüstet. Aber Branchenveteranen sagten, die rücksichtslosen gewerbeinternen Spekulationspraktiken hätten unabhängig davon zu einer Krise geführt.

    „Im Nachhinein sollte es Alarmglocken auslösen“, sagte Michael Negron, politischer Berater des ehemaligen Bürgermeisters Rahm Emanuel, über die Einreise der New Yorker nach Chicago. „Externe Investoren kamen herein, um die Branche zu ‘verbessern’, und alle haben es irgendwie verpasst.“

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