Taxi

Reality Check - Geschichten rund ums Taxi in Berlin und weltweit - Materialsammlung, Bilder, Videos, Texte

  • Faust in der Tasche
    https://www.spiegel.de/politik/faust-in-der-tasche-a-222ec4d1-0002-0001-0000-000014327877

    22.2.1981 - DER SPIEGEL 9/1981 - Die Sozialdemokraten versuchen, Kontakte zur alternativen Szene zu knüpfen.

    Sie gründeten Mietervereine und Genossenschaften, inszenierten Theaterstücke und stählten ihren Leib in eigenen Vereinen. Sie ließen ihren Nachwuchs in Kinderrepubliken Demokratie erproben und sorgten in Wohlfahrtsorganisationen für sozial Benachteiligte — die Sozialdemokraten zu Anfang dieses Jahrhunderts.

    Sie bauen Wärmepumpen und Windräder, plombieren in genossenschaftlichen Praxen Zähne, kümmern sich um alleinstehende Alte. Sie instandbesetzen leerstehende Häuser, holen Fixer von der Droge, verwalten ihre eigene Kreditbank — die Alternativen, achtzig Jahre später.

    Doch über den gemeinsamen Ausgangspunkt hinaus verbindet Genossen und Alternative bislang wenig. Für die meisten Sozialdemokraten ist die neue Gegenkultur Schwärmerei, der Rückzug aus herkömmlicher Politik eine S.42 »bürgerlich-romantische Antwort auf die Krise unseres Industriezeitalters« (der schleswig-holsteinische SPD-Fraktionschef Klaus Matthiesen). Dem Durchschnittsgenossen steht der Arbeitersohn aus Gelsenkirchen, der täglich zur Uni Bochum pendelt, näher als die Industriellentochter, die in einer Frauenbudike Berlin-Kreuzbergs Mollen zapft.

    Was die Jugendlichen ihrerseits von der Politik der SPD halten, schildert Thomas Krüger, Berliner Alternativer: »Ein neues Jugendzentrum kann die arbeitslosen Hauptschulabgänger nicht über die Trostlosigkeit ihrer Situation hinwegtrösten, die neueste Hochschulreform den Studenten nicht eine sinnvolle Perspektive geben, ein neues Krankenhaus nicht den zunehmenden Streß am rationalisierten Arbeitsplatz wegkurieren, ein saniertes Stadtviertel nicht die zunehmende Isolation verhindern.« Die SPD sei, so Krügers Schluß, für die Alternativen »langweilig«.

    Der designierte SPD-Bundesgeschäftsführer Peter Glotz: »Es ist so, als ob sich Chinesen mit Japanern verständigen sollten.«

    Jetzt beginnen allmählich Versuche zu dolmetschen. Seit einigen Monaten sind die Genossen bemüht, die Kluft zu überwinden. Minister laden Alternative zu Diskussionen in ihre Amtsstuben, Funktionäre debattieren in Programmkommissionen über die Bewegung, Parlamentarier besuchen Wohngemeinschaften und Arbeiterkollektive in den Mietskasernen und Hinterhöfen von Berlin, Frankfurt oder Köln.

    Die Sozialdemokraten haben erkannt, daß in dem Milieu der Alternativen mittlerweile über 200 000 Bürger praktizieren, was ihrer Partei nicht immer fern war: Suche nach neuen Lebensformen, Solidarität ohne bürokratische Hemmnisse — etwa wenn die Berliner »Fabrik für Kultur, Sport und Handwerk« in einer von Eltern verwalteten Privatschule neue Unterrichtsformen für Grundschulkinder erprobt, das Berliner Taxi-Kollektiv NeTaKo »nicht profitorientiert« die Mitbestimmung im kleinen versucht oder die Gruppe »Offensives Altern« sich um Seniorinnen bemüht.

    Johano Strasser, Mitglied der SPD-Grundwertekommission: »Wir brauchen den Kontakt zu den Gruppen, um unser Fortschrittskonzept zu überdenken.« Hamburgs Bürgermeister Hans-Ulrich Klose assistiert: »Von den alternativen Gruppen können wir lernen.«

    Die Sozialdemokraten treibt freilich nicht nur Sympathie für die Gegenkultur um, sondern auch Sorge um die Nachwuchslinken.

    Die alternative Bewegung, befand der linke SPD-Bundestagsabgeordnete Karsten Voigt bereits 1979, sei zwar zu klein, um parlamentarische Mehrheiten bilden zu können, aber: »Sie ist groß genug, um auf lange Zeit hinaus eine parlamentarische Mehrheitsbildung unter Führung der SPD blockieren zu können.«

    Der damalige Berliner Wissenschaftssenator Peter Glotz im gleichen Jahr: Es sei eine »tödliche Gefahr«, wenn zwischen drei und fünf Prozent des linken Potentials »auf Dauer ausfielen«, wenn 20 oder 30 Prozent der jungen Generation sich daran gewöhnten, »alternativ« oder gar nicht zu wählen.

    In einer Analyse zu den Abgeordnetenhauswahlen im März 1979, bei denen die Alternative Liste 3,7 Prozent S.44 erhielt, sahen die Berliner Sozialdemokraten durch die neue Konkurrenz gar »die Existenzgrundlage der Sozialdemokratie« gefährdet.

    Das Problem ist auch nach dem Zerfall bei den Grünen nicht aus der Welt. Zwar haben bei den Bundestagswahlen im Oktober letzten Jahres 48,9 Prozent der Jung- und Erstwähler die Genossen gewählt, aber nur, so weiß der neue Parlamentarische Staatssekretär im Bonner Bildungsministerium, Eckart Kuhlwein, »mit der Faust in der Tasche«.

    Bernd Schoppe, Referent in der SPD-Zentrale: »Der hohe Anteil der Jungwählerstimmen für die SPD ist eher ein Indiz für die Ablehnung von Strauß als ein Indiz für eine starke positive Orientierung des Jugendlichen auf die SPD.«

    Nach den jüngsten Erkenntnissen im Erich-Ollenhauer-Haus würden unter den 18- bis 25jährigen derzeit rund acht Prozent keine der etablierten Parteien wählen. Vor allem in den Stadtstaaten Bremen, Hamburg und Berlin komme das Problem, so ein SPD-Stratege, »ganz massiv auf uns zu«.

    Meinungsforscher ermittelten, bei dem Berliner Votum am 10. Mai könnten die Alternativen 13 Prozent erreichen — und damit im Parlament die dritte Kraft spielen, als Koalitionspartner der Etablierten oder als Oppositionspartei, die eine Große Koalition des Partei-Establishments erzwingt.

    Eine Hoffnung haben sich die Genossen jedoch schon abgeschminkt: Innerhalb kurzer Zeit können die abgedrifteten Jugendlichen für die Partei nicht wiedergewonnen werden. Schoppe: »Auf der Tagesordnung steht nicht, junge Leute von der Richtigkeit sozialdemokratischer Positionen zu überzeugen — dieser Zug ist längst abgefahren.« Zunächst müßten die Sozialdemokraten versuchen, mit den jungen Leuten wieder ins Gespräch zu kommen.

    Um seinen Genossen die Scheu zu nehmen, macht Strasser bei seinen Vorträgen in Ortsvereinen und Arbeitsgemeinschaften »Reklame für die Alternativen«. Zudem versucht der linke Parteitheoretiker auf Seminaren der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung Jugendliche aus dem Sub-Milieu und Sozis einander näherzubringen.

    Einen anderen Weg geht Bildungsminister Björn Engholm. Noch als Parlamentarischer Staatssekretär bot er an, »bildungspolitisch relevante« Projekte aus der alternativen Szene mit 200 000 Mark aus seinem Etat zu fördern -um ein »bescheidenes Beriechen« zu ermöglichen, »ohne politische Hintergedanken oder Vorbedingungen«.

    Über Szenen-Kenner wie den einstigen SDSler Bernd Rabehl und den Politologen Tilman Fichter gelang es den Ministerialen, Fäden ins Milieu zu spinnen und ein paar Alternativler unter dem Siegel der Verschwiegenheit zu einem Treffen im Jugendbildungszentrum Oberursel zu bewegen. Es kamen unter anderen: die Arbeiterselbsthilfe Frankfurt, ein von ehemaligen Arbeitslosen verwalteter Handwerksbetrieb, die Schäfereigenossenschaft Finkenhof, das Autonome Bildungszentrum (ABC) Hamburg, spezialisiert auf Seminare für Jugendliche.

    Doch die Diskussion blieb ergebnislos: Die Bonner blieben auf ihrem Geld sitzen, ihre Gesprächspartner verweigerten sich. Zu groß war die Furcht, durch die »Staatsknete« (Szenen-Jargon) korrumpiert zu werden. Das Ministerium, so das ABC Hamburg, S.46 wolle doch nur versuchen, »die Jugend wieder stärker in dieses Gesellschaftssystem zu integrieren«. Zudem stifte »ein so großer Batzen Geld Unruhe bis hin zur Zwietracht«.

    Mittlerweile aber deutet sich ein Sinneswandel an. Die »Fabrik« akzeptierte 100 000 Mark des Berliner Senats sowie einen Kredit in gleicher Höhe, um gemeinsam mit der Technischen Universität eine Wärmepumpe zu entwickeln. Und ein Arbeitskreis »Finanzierung von Alternativprojekten« schlug in Berlin vor, die Bewegung müsse »den Kampf um Steuergelder aufnehmen — bei gleichzeitiger Wahrnehmung der Autonomie«.

    Kämpfen wollen unter anderem soziale Gruppen wie der Verein zur Beratung Drogenabhängiger, der Arbeitslosenladen Kreuzberg, die Beratungsstelle für Schwule und Lesben, der Stadtteilladen »Langer Erdmann«, aber auch politische Vereinigungen wie die Arbeitsgemeinschaft »Bürger beobachten die Polizei« oder das »Komitee für Grundrechte und Demokratie«.

    Ihre »gesellschaftlich sinnvolle Arbeit«, so die Begründung, leisteten sie zur Zeit unter Bedingungen, die »persönlich, beruflich und politisch auf längere Sicht kaum oder nur sehr schwer durchzuhalten« seien. Denn es fehle häufig selbst am Nötigsten, für Miete und Porto. Wenn sich die Lage nicht ändere, befand der Arbeitskreis, bestehe die Gefahr, daß die Berliner alternative Szene »zum omnibus-verglasten Zoo-Programm« für Touristen verkomme.

    Ein Befürworter der Staatsknete ist der Berliner Sozialwissenschaftler Peter Grottian, Mitglied des »Netzwerks Selbsthilfe«, eines Hilfsfonds für alternative Projekte (SPIEGEL 40/1980). Wenn die Sozialdemokraten in größerem Umfang Projekte förderten, so seine These, könnten sie in den von ihnen regierten Ländern bessere und effektivere Sozialarbeit leisten.

    So unwahrscheinlich ist dies nicht. Denn die Alternativen haben sich Sektoren erschlossen, in denen staatliche Helfer weitgehend machtlos sind. Beispiel: Während Sozial-Inspektoren gegen prügelnde Eltern nur mit Anzeigen oder dem Entzug des Sorgerechts vorgehen können, versucht das Berliner Kinderschutz Zentrum unter strenger Diskretion mit Beratung und Therapie zu helfen.

    Noch aber sind selbst die Bedingungen einer Finanzhilfe für alternative Projekte nicht geklärt. So muß die staatliche Seite aus haushaltsrechtlichen Gründen prüfen, ob die Mittel sinnvoll ausgegeben werden, einige Gruppen dagegen wollen aus Angst um ihre Unabhängigkeit lieber ohne Auflagen kassieren.

    Einen Befürworter haben sie bereits in den Reihen der SPD: den Vorsitzenden der Jungsozialisten Willi Piecyk: »Wir sollten die Musik bezahlen«, so der Juso-Chef, »aber die Leute spielen lassen.« Auf diese Weise könne die SPD beweisen, daß sie es mit ihrem Dialog-Wunsch ernst meine.

    Um die Glaubwürdigkeit der Partei geht es auch SPD-Referent Bernd Schoppe. Er plädiert dafür, daß sich Mandatsträger in Zukunft häufiger in Jugendzentren sehen lassen und mehr mit jungen Leuten diskutieren.

    Vor allem sollten die Funktionäre öfter Themen ansprechen, die Jugendliche besonders berühren, etwa Umweltschutz, Friedens- und Abrüstungspolitik.

    Da haben die Genossen derzeit freilich schlechte Karten.

    #Berlin #Politik #Alternative_Liste #SPD #Taxi #Taxikollektiv #1981