„Rössle hat die Mordmaschinerie an der Charité in Gang gehalten“

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  • Der Fall Robert Rössle : Ute Linz: „Rössle hat die Mordmaschinerie an der Charité in Gang gehalten“
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    19.10.2021 - Sie fordert die Umbenennung der Straße in Berlin-Pankow. Der Pathologe trage Mitschuld an den NS-Rassentheorien – und damit am Euthanasie-Mord an ihrer Oma.

    Ute Linz empfängt zum Interview in ihrem Haus in Marzahn-Hellersdorf. Ein architektonisches Schmuckstück, durch das sie manchmal Besuchergruppen führt, denen sie erzählt, wie verfallen das Haus war und wie sie und ihr Mann es jahrelang sanieren ließen. Die pensionierte Ärztin aus Aachen ist eine hartnäckige Frau. Auch im Fall Robert Rössle. Rössle leitete von 1929 bis 1948 das Pathologische Institut der Charité. In Berlin-Pankow ist eine Straße nach ihm benannt. Linz wirft Rössle vor, Vordenker von Hitlers Rassentheorien gewesen zu sein, denen auch ihre Großmutter zum Opfer fiel. Sie hat Tausende von Akten gelesen und kämpft seit Jahren für die Umbenennung der Straße. Am Küchentisch sprechen wir mit ihr über diesen Kampf und über ihre Großmutter.

    Frau Linz, wie sind Sie auf den Fall Robert Rössle gekommen?

    Ich habe damals in Jülich am Forschungszentrum gearbeitet und oft Post von dieser Adresse bekommen: Robert-Rössle-Straße 10, weil da das Max-Delbrück-Centrum ist. Aber ich wusste nicht, wer Robert Rössle war.

    Bei Wikipedia steht als Erstes, dass er einer der großen deutschen Pathologen war.

    Ja, aber auch, dass er in der Karl-Brandtschen Kommission war. (Karl Brandt war der höchste Naziarzt und wurde bei den Nürnberger Prozessen zum Tode verurteilt, d. Red.) Ich habe mir alte Arbeiten von Rössle besorgt. Und da sind mir dann doch ein paar Aussagen aufgefallen.

    Welche zum Beispiel?

    In einem Lehrbuch für Studenten aus dem Jahr 1936 ist die Rede vom „Ausmerzen von Lebensunwertem“. Ich habe gedacht, vielleicht musste er das schreiben zu dieser Zeit und habe mir frühere Auflagen des Lehrbuchs besorgt. Das erste, an dem er mitgearbeitet hat, ist von 1911. Da ist die Rede von der „künstlichen Ausscheidung von menschlichen Minusvarianten“, er hat also schon damals die Eugenik zum Ideal der ärztlichen Tätigkeit gemacht.
    Überbewertung der weißen Rasse

    Eugenik heißt Rassenhygiene?

    Ja, Erbgesundheitslehre, die Auswahl von sogenannten besonderen Menschen, die Unterteilung in unterschiedliche Gruppierungen im Dienst der Wissenschaft. In München war er Anfang des 20. Jahrhunderts Assistent bei Max von Gruber, einem der Väter der deutschen Rassenhygiene. Auch in seiner Privatkorrespondenz erkennt man eine Überbewertung des Deutschen, der weißen Rasse.

    War das zu der Zeit nicht üblich?

    Nach dem Ersten Weltkrieg, als Tausende gefallen waren und viele Versehrte aus dem Krieg zurückkehrten, kamen diese Gedanken verstärkt auf: Sterben die Deutschen aus? Müssen wir die Kranken durchschleppen oder nur die Besten fördern? Es dauerte jedoch Jahre, bevor man so etwas für ein breiteres Publikum schrieb. Im Jahr 1911 in einem Lehrbuch die künstliche Ausscheidung von menschlichen Minusvarianten zum Ideal ärztlicher Prophylaxe zu erklären, hieß Vordenker und nicht Nachfolger der NS-Rassenideologie zu sein.
    Nur noch arische Mitarbeiter

    Aber Rössle war nie Mitglied der NSDAP. Ist das nicht ein Widerspruch?

    Das hatte er in seiner Position nicht mehr nötig. Er war im Jahr 1933 älter als 50. Kaum einer der älteren Instituts- oder Klinikchefs an der Charité war NSDAP-Mitglied.

    Wie hat er sich verhalten, als 1933 nach der Machtergreifung Hitlers die jüdischen Mitarbeiter der Charité entlassen wurden?

    An der Charité haben viele Professoren im vorauseilenden Gehorsam noch vor Inkrafttreten des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums Entlassungslisten aufgesetzt. Am Rössle‘schen Institut war es folgendermaßen: Rössle war gerade im Urlaub in Italien. Sein Stellvertreter Paul Schürmann, der nichts ohne seinen Chef entschied, erstellte die Liste für die Verwaltung. Rössle kam zurück und stimmte bis Mai allen Kündigungen zu. Ab 1. Juli 1933 gab es bei ihm nur noch arische Mitarbeiter. Später hat er noch dafür gesorgt, dass die Büste seines Vorgängers Otto Lubarsch, der Jude war, entfernt wurde.

    Mit welcher Begründung?

    Das wurde von einem Kollegen vorgeschlagen nach dem Motto, in der Ahnengalerie seien zu viele Juden. Ich habe die Aktenvermerke dazu gelesen, und interessanterweise schreibt Rössle „Heil Hitler“ darunter, andere Kollegen, darunter der SS-Sturmführer Max de Crinis, aber nicht.

    Hat Rössle als Pathologe von den Nazis profitiert?

    Er bekam während dieser Zeit ganze Familien auf den Sektionstisch, die Suizid begangen hatten oder bei Bombenangriffen ums Leben kamen. Er nannte das „Massenanfall“, und es war sehr günstiges Obduktionsmaterial für ihn, denn er hat sich für Erbkrankheiten in Familien interessiert. Außerdem hat er Hoden von sogenannten Sexualverbrechern untersucht, dazu wurden auch Homosexuelle gezählt. Dabei wusste man damals schon, dass sich ihre Hoden nicht von denen anderer Männer unterscheiden. Rössle stellt das ebenfalls fest und sagt trotzdem, es ist in Ordnung, dass den Männern ein gesundes Organ entfernt wurde, weil im Hoden des Sexualverbrechers sozusagen das Böse angelegt sei. Er argumentiert also wider besseres Wissen, aber ganz im Sinne der nationalsozialistischen Regierung.

    Waren unter den Familien, die er obduzierte, auch jüdische?

    Ich habe zusammen mit meinem Mann etwa 8000 Sektionsberichte von 1937 bis 1941 gelesen. Da waren einige Dutzend Juden dabei. Ab 1939 waren sie an den Namenszusätzen zu erkennen: Sarah oder Israel. Rössle hat sie ohne Genehmigung obduziert. Nach jüdischem Glauben darf man den Toten nicht mehr berühren.

    Können Sie ein Beispiel nennen?

    Felix Hirschfeld war Professor in Berlin und ist, so steht es in der Akte, an einer Morphinbarbiturat-Vergiftung gestorben, hat also Selbstmord begangen. In einer Publikation mit dem Titel „Nichtarische Hochschullehrer im Exodus“ habe ich dann gelesen, dass Hirschfeld bis 1938 in Berlin tätig war und danach als verschollen galt. Das heißt, Rössle hat niemanden über seinen Tod benachrichtigt. Dabei war Hirschfeld ein hochgeachteter Physiologe, der noch im Virchow‘schen Labor gearbeitet hatte, ein Kollege also.

    Haben Sie geahnt, dass Ihre Recherche so tief führen wird?

    Ich habe nicht gedacht, dass ich noch das blutige Messer finden muss, wie es hieß.

    Wer hat das gesagt?

    Ein Mitglied der historischen Kommission vom Campus Buch, die den Fall untersucht hat. Ich sollte den Täter überführen. Dabei war für mich längst klar, dass Rössle ein Täter war. Oskar Gröning, der sogenannte Buchhalter von Ausschwitz, hat auch niemanden selbst getötet, aber er wurde 2015 vom Landgericht Lüneburg verurteilt, weil er das Geld der KZ-Häftlinge gezählt und damit die Mordmaschinerie in Gang gehalten hat.

    Gröning hat in Auschwitz gearbeitet und wusste von dem Massenmord an den Juden, Rössle hat an der Charité Leichen obduziert. Kann man das vergleichen?

    Ja, denn Rössle hat die Mordmaschinerie an der Charité in Gang gehalten. Er hat Zwangssterilisationen beschrieben. Er hat bei der Leiche eines Kriegsgefangenen aus Algerien beschlossen: Den Schädel tun wir ins Museum. Der sieht interessant aus. Er war an geheimer Luftwaffenforschung beteiligt, die im Zusammenhang mit Menschenversuchen im KZ Dachau stand, und hat versucht, sie beim Nürnberger Ärzteprozess zu verheimlichen. Er war Mitglied im Kuratorium des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Hirnforschung in Buch und hat mit Julius Hallervorden Hirne ausgetauscht. Das ist übrigens die einzige enge Beziehung von Rössle zum Standort Buch. (Hallervorden untersuchte in der NS-Zeit Hunderte Hirne von Euthanasie-Opfern, nach dem Krieg arbeitete er in Gießen am Max-Planck-Institut. 2017 wurde ihm die Ehrendoktorwürde aberkannt, d. Red.)

    Auch Ihre Großmutter war Euthanasie-Opfer der Nazis. Wann haben Sie das herausgefunden?

    Kurz bevor ich mit meinen
    Nachforschungen zu Rössle anfing. Aber es war für mich der letzte Anstoß, dass ich das meiner Großmutter schuldig bin. Ich kann nicht ignorieren, dass jemand wie Rössle Thesen aufgebracht hat, die letztlich zu ihrer Ermordung führten.

    Was wissen Sie über Ihre Großmutter?

    Nicht viel. Meine Mutter ist nicht bei ihren Eltern aufgewachsen. Ihre Familie, hieß es, war gegen die Beziehung mit meinem Großvater, weil er Musiker war, evangelisch und nicht katholisch wie sie selbst. Die Eltern meiner Großmutter sollen auch dafür gesorgt haben, dass Tochter und Schwiegersohn in die Psychiatrie kamen, er kam irgendwie wieder raus. Mehr wusste ich nicht, bis ich 2008 den Namen und das Geburtsdatum meiner Großmutter bei Google eingegeben habe und auf eine hebräisch-englische Webseite gestoßen bin.

    Da fanden Sie den Namen Ihrer Großmutter?

    Ja, unter 8000 anderen Namen. Da stand, dass sie ein Euthanasie-Opfer war. Ich schrieb ans Bundesarchiv und erhielt ihre psychiatrische Akte. Zum ersten Mal hielt ich etwas von meiner Großmutter in der Hand.

    In Pirna ermordet

    War sie psychisch krank?

    In der Akte wurde Schizophrenie angegeben. Aber das war die häufigste Ursache, die bei der T4-Aktion, dem Euthanasieprogramm der Nazis, als Grund für die Tötung angegeben wurde. Sie wurde in Pirna ermordet, am 23. Mai 1941.

    Und Ihre Mutter hat nie selbst nach ihrer Mutter geforscht? Auch sonst niemand?

    Es hieß immer, dass die Mutter wegen der Ablehnung durch die Eltern die Kinder nicht zu sich nahm. Damit gab es keinen Grund zu recherchieren. Die Idee entstand erst nach dem Tod meiner Mutter.

    Und als Sie damit fertig waren, haben Sie mit der Rössle-Recherche begonnen?

    Nicht sofort. Ein Anstoß war ein Besuch mit meinem Mann in der Berliner Philharmonie. Davor gibt es ein T4-Denkmal. Jedes Mal, wenn ich dort war, habe ich gedacht, das Thema ist zu wichtig, man muss da weiter nachforschen. Ich ging allerdings davon aus, dass die Umbenennung ein Selbstläufer ist, wenn ich meine Erkenntnisse dem Bezirk mitteile.

    Wann war das?

    Im November 2015. Dann ist erstmal fast zwei Jahre gar nichts passiert.
    Rache an der DDR

    Ihre Erkenntnisse haben die Pankower Politiker und Bürger nicht beeindruckt?

    Nein. Mit manchem BVV-Vertreter habe ich mich fast eine Stunde unterhalten oder später eine große Datei mit Unterlagen zum Fall geschickt, die dann nicht runtergeladen wurde. Bei der Bürgerversammlung in Buch 2019 hatte ich nur 15 Minuten Redezeit. Da konnte ich gar nicht alle meine Erkenntnisse darstellen oder auf Kommentare reagieren. Ein Bürger hat gesagt, dass Rössle so viel Gutes für Buch getan hat, was lächerlich ist, weil er da ja nie gearbeitet hat. Aber dieser Mythos hält sich. Das Schlimmste war der Vorwurf: Das ist Rache an der DDR!

    Wer hat das gesagt?

    Jens Reich vom Max-Delbrück-Centrum. Er hat auch gefragt, warum wir uns nicht für die Umbenennung der Manfred-von-Richthofen-Straße in West-Berlin einsetzen.

    Und warum nicht?

    Weil ich mich jetzt erstmal um die Robert-Rössle-Straße kümmere. Das Ganze hat doch nichts mit der DDR zu tun, nur weil die Straße in der Zeit benannt wurde. Es ist alles nicht zu glauben. Die Rössle-Klinik heißt ja schon seit Jahren nicht mehr so, denn die Charité und das Helios-Klinikum haben die Krebsklinik übernommen und den Namen aufgegeben. Aber an jeder Ecke findet man ihn auf dem Campus Buch, überall steht Robert-Rössle-Klinik.

    Aber Sie geben nicht auf.

    Nachdem im März das Käthe-Beutler-Haus in Buch eingeweiht wurde, habe ich den Hauptrednern E-Mails geschickt, dem Regierenden Bürgermeister, der Forschungsministerin und Bruce Beutler, dem Enkel von Käthe Beutler, Medizinnobelpreisträger aus den USA. Dann bekam ich zu meiner großen Überraschung aus dem Forschungsministerium eine E-Mail: Dem Vorstand vom Max-Delbrück-Centrum sei mitgeteilt worden, dass sie sich für die Umbenennung einsetzen sollen.
    Post vom Nobelpreisträger

    Hat der Nobelpreisträger geantwortet?

    Erst nicht. Aber ich habe nochmal nachgehakt und dann einen sehr schönen Brief bekommen, den er auch an die Verantwortlichen geschickt hat.

    Gibt es eigentlich sonst noch irgendwo eine Straße, die nach Rössle benannt ist?

    Ich kenne keine. Ich würde Rössle auch eher in die zweite Reihe einordnen. Das war kein Ferdinand Sauerbruch.