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  • « Asozial » und « unerwünscht » - NS-Jargon in der deutschen Gegenwartssprache | Riccardo Altieri and Philipp Amendt - Academia.edu
    http://www.academia.edu/14637543/_Asozial_und_unerw%C3%BCnscht_-_NS-Jargon_in_der_deutschen_Gegenwartssprac
    Dans l’allemand parlé aujourd’hui on peut identifier plusieurs expressions courantes qui ont une connotation nazie ou sont une invention de l’époque 33-45. Elles facilitent par leur omniprésence la renaissance d’idées réactionnaires, racistes, antisociales et et fascistes. Pour les gens sans formation politique particulière leur utilisation irréfléchie fait partie du bon sens, du gesunder Menschenverstand , qui est une notion quasi fasciste en soi. Ce texte a le mérite de nous informer sur l’étymologie et la signification précise d’une petite sélection de ces termes.

    Philipp Amendt und Riccardo Altieri Würzburg, im August 2015.

    1. Einleitung

    Der vorliegende Essay befasst sich mit dem Phänomen gegenwärtiger Alltagssprache, die ihre Wurzeln im Vokabular des Nationalsozialismus hat. Um etwaigen Fragen gleich zu Beginn vorzubeugen: Termini wie „Arisierung“, „Blitzkrieg“, „Gleichschaltung“ oder „Herrenrasse“ werden hier dezidiert nicht abgehandelt. Ferner geht es auch nicht um NS-Miranda wie „Volk“, „Leben“ oder „Blut“, wie sie in Bezug auf eine germanisch-mystifizierte Antike zur Anwendung kamen.1 Vielmehr geht es um Begrifflichkeiten des täglichen Lebens, die von einem unbedarften Teil der deutschsprachigen Gesellschaft vorwiegend unfreiwillig verwandt werden. Ziel des Essays ist es daher, ein Gespür für sensiblen Sprachgebrauch zu schaffen.

    Der Forschungsstand beruft sich in weiten Teilen primär auf die oben explizit ausgeschlossene Sprache, obwohl er jedoch peripher einige Aspekte der hier zu behandelnden Begriffe abdeckt. Die prominenteste und gleichzeitig erste Publikation zur Sprache des „Dritten Reiches“2 ist die sog. Lingua Tertii Imperii (LTI) von Victor Klemperer.3 Auf diesem Werk baut im Grunde die komplette Sekundärliteratur auf, wenn schon Klemperer4 nicht im Mindesten mehrfach zitiert werden muss. 1957 erschien das Wörterbuch des Unmenschen von Sternberger, Storz und Süskind.5 Ihm folgte – in ähnlich spitzfindiger Titelfindung – das Lexikon der Mörder von Joseph Wulf.6 Sigrid Frinds Aufsatz7 erläutert im Detail, wie Hitler und seine Propaganda gerade durch Sprache gezielt erfolgreich waren und wie die Rhetorik

    des Diktators die Massen begeisterte. Im selben Format erschienen zwei Jahre später ein analytischer Aufsatz von Gerhard Lange8, der die Rezeption des Gesprochenen und dessen an die Bedürfnisse der Bevölkerung angepasste Reformen behandelt, und ein weiterer Aufsatz von Andrea Hoffend zum Ursprung des nationalsozialistischen Sprachgebrauchs.9 Die Rezeption des Gesprochenen wurde auch von Erich Straßner in Bezug auf die soziale Integration in eine Gesellschaft geäußert: „Nur auf der Basis intersubjektiver Information, Kommunikation und Handlungsbeeinflussung können rekurente, d. h. zurückgreifende, zeitlich stabile und reflexiv einklagbare soziale Strukturen entstehen und gestützt werden.“10 Zu den Euphemismen und Verschleierungstaktiken äußerte sich in der Folge ausführlich Siegfried Bork.11 Den kollektiven Aspekt der zu schaffenden „Volksgemeinschaft“ in Bezug auf eine Vereinheitlichung der Sprache innerhalb der sozialen Gruppe beleuchtete Utz Maas.12 Wolf Oschlies untersuchte 1985 die zum Teil repressive Sprache der Gefangenen-, Konzentrations- und Vernichtungslager sowie deren Diversitäten im Vergleich zur sonstigen Sprache der SS.13 Der speziellen und auf Massenbegeisterung ausgerichteten Rhetorik von Hitler und Goebbels widmete sich unter anderem Johannes Volmert in einem Aufsatz.14 Auf der Ebene der pragmatischen Textlinguistik hat Christian Braun mit seiner Dissertation das neueste Standardwerk vorgelegt.15

    In all diesen Studien überwiegt die Fokussierung auf dem Sprachgebrauch während öffentlicher Reden oder innerhalb öffentlichkeitswirksamer Dokumente. Die gegenwärtige Alltagssprache nimmt – wenn überhaupt – stets nur eine unbedeutende Nebenrolle ein.16 Doch wie kann nationalsozialistisches Vokabular als ungewollte Tradition identifiziert werden?

    2. Zu behandelnde Begriffe

    Die Sammlung der hier behandelten Begriffe stellt lediglich eine subjektive Auswahl des Autorenkollektivs dar, erhebt demnach freilich nicht den Anspruch auf Vollständigkeit. Dennoch sollen zentrale Begriffe der Gegenwartssprache auf ihre historische Entwicklung hin untersucht, eingeordnet und ausgewertet werden. Dabei stellt sich bei sämtlichen Begriffen die Frage danach, inwieweit es sich jeweils um eine Wortneuschöpfung des Nationalsozialismus handelte, wo Begriffe in Bezug auf einen Wortinhalt auf derbe Weise übersteigert verwandt wurden und wo es sich um bereits existente Begriffe des Deutschen handelt, die durch die Begriffsbesetzung17 durch die Nationalsozialisten eine nachhaltig negative Konnotation erfuhren. Hierbei geht es jedoch nicht um die Stigmatisierung explizit unverfänglicher deutscher Wörter, sondern um die Darstellung historischer Sprachentwicklung.

    Methodisch kann hier nur ein historischer Deskriptivismus18 gewählt werden, da sich jegliche Präskription schon aus wissenschaftsethischen Gründen verbietet. Zudem soll die Arbeit keinen lexikographischen Charakter verfolgen, sondern über Sprachentwicklung- bzw. konkrete Begriffsverwendung in der Zeit des Nationalsozialismus aufklären. Strukturell werden die einzelnen Abschnitte, die in alphabetischer Reihenfolge sortiert sind, keine inhaltliche Überleitung gewähren können, da diese einerseits konstruiert wären und andererseits in weiten Teilen nicht zu bewerkstelligen sind. Demnach ist jeder Unterpunkt des zweiten Kapitels auch als eigener Absatz zu verstehen, der autonom von voranstehenden oder folgenden Absätzen gelesen werden kann. Ein vollständiger lexikalischer Charakter darf den Kapiteln jedoch nicht unterstellt werden. Zu diesem Zweck wird jeweils auf die entsprechende Sekundärliteratur verwiesen. In wenigen Ausnahmefällen werden Begrifflichkeiten ob ihres gemeinsamen historischen Kontextes in einem Punkt zusammengefasst, wie es bereits im ersten Absatz praktiziert wurde.

    2.1. Arbeitsscheu – Asoziale – asozial

    Der Begriff „asozial“ wird in der deutschen Gegenwartssprache zweifellos ohne Problematisierung verwendet. Das Adjektiv findet dabei ebenso Anwendung wie die Substantivierung „Asoziale“. Der Duden definiert „asozial“ als „unfähig zum Leben in der

    Gemeinschaft; sich nicht in die Gemeinschaft einfügend; am Rand der Gesellschaft lebend.“19 Einen Hinweis auf den nationalsozialistischen Ursprung des Wortes liefert der Duden nicht. In der Soziologie und der Psychologie werden für das beschriebene Phänomen Begriffe wie „dissozial“ und „randständig“ verwandt.

    Wo besteht nun allerdings der Zusammenhang zum Nationalsozialismus? Damals wie heute diffamierte der Begriff „arbeitsscheu“ ein Individuum der Gesellschaft, das als Arbeitsloser, Sozialhilfeempfänger, Hartz-IV-Empfänger und dergleichen mehr wahrgenommen wird. Die eigene Verschuldung dieses Umstandes oder das Gegenteil wird selten konkretisiert. In der NS-Zeit wurden unter dem Begriff „arbeitsscheu“ sog. „Asoziale“ zusammengefasst. Dazu zählten Bettler, Prostituierte, Obdachlose, Alkoholkranke, „Nichtangepasste“ und „Aussteiger“.20 Schon 1933 begann das NS-Regime mit der Verfolgung, ab 1937 auch mit Inhaftierungen dieser Menschen in Konzentrationslager. Dort unterwarf man sie unmenschlichen Zwangsmaßnahmen, indem man sie beispielsweise – den Verlautbarungen der „Rassenhygienischen und bevölkerungspolitischen Forschungsstelle“ folgend – zwangssterilisierte, weil man ihre Fortpflanzung als „Schädigung des Volkskörpers“ ansah. Bei der Aktion „Arbeitsscheu Reich“21 im Jahr 1938 wurden rund 10.000 „Asoziale“ verhaftet. Dabei war die Einstufung der Menschen als „arbeitsscheu“ oft die Folge einer ungeprüften Denunziation durch argwöhnische Mitbürger, die man nur selten detailliert nachverfolgte. Die Bundeszentrale für politische Bildung formuliert hierzu treffend: „Die Rechtlosigkeit des Einzelnen, die Preisgabe des Individuums gegenüber der Willkür der Behörden, die dem Wunsch der diesen Begriff Benutzenden entspricht, kommt in der Diskriminierung ‚arbeitsscheu‘ zum Ausdruck.“22 Die flächendeckende Aktion „Arbeitsscheu Reich“ hatte gerade deshalb so viel „Erfolg“, da die Anzahl der Opfer nur deshalb so groß sein konnte, weil die zivile Bevölkerung den uniformierten Staatsdienern dabei half, die zum Teil unbekannten, untergetauchten oder umherziehenden Menschen ausfindig zu machen.23

    2.2. Arsch der Welt – Anus mundi (Polen)

    Der vulgäre Ausdruck, etwas läge am „Arsch der Welt“, wurde während des Zweiten Weltkriegs von deutschen Soldaten verwandt,24 um die Entlegenheit Polens, konkret den dortigen Einsatzort (z. B. Auschwitz), zu bezeichnen. Die SS-Ärzte Heinz Thilo (1911-1945) und Johann Paul Kremer (1883-1965) bezeichneten ihren Arbeitsplatz als „anus mundi“.25 Der Zeitzeuge Wiesław Kielar (1919-1990) greift in seiner Monographie die latinisierte Version des Ausdruckes auf.26 Hier wird der Dualismus der Wahrnehmung deutlich. Während die Soldaten ihre Versetzung nach Schlesien als Strafe empfanden und sich in einer Opferrolle wiederfanden, bekam das Vernichtungslager Auschwitz II – Birkenau für Häftlinge eine weitaus hoffnungslosere Dimension. Die Erkenntnis, am „Arsch der Welt“ zu sein, war gleichbedeutend mit der Aussichtslosigkeit auf Hilfe jedweder Art. Im Vergleich zu den Empfindungen der Häftlinge wirkt das Lamentieren der Soldaten unbedeutend. Besonders grotesk wirkt der Ausdruck Kremers, als dieser am 18. August 1947 während des Krakauer Auschwitzprozesses zu seiner Verteidigung aussagte: „Diese Bezeichnung [Anm.: „anus mundi“] gebrauchte ich deshalb, weil ich mir gar nichts Abscheulicheres und Ungeheuerlicheres vorstellen konnte.“27 Hierbei bezog er sich auf einen Vorfall, bei dem etwa 800 jüdische Frauen in den Gaskammern umgebracht wurden, woran er selbst beteiligt war. Bizarr wirkt dabei der perspektivische Wechsel vom gelangweilten Offizier hin zum mitfühlenden Täter. Wie höhnisch die Aussage tatsächlich war, lässt sich feststellen, wenn man Tagebücher des zum Zeitpunkt der Tat 58-Jährigen hinzuzieht, in denen sein grausamer Sinn für schwarzen Humor ersichtlich wird.28

    Aus der Perspektive der Opfer wurde der Begriff Synonym für die Schrecken in Auschwitz. Neben der Monographie von Wiesław Kielar haben auch andere Häftlinge ihr Überleben des Konzentrationslagers schriftlich festgehalten, so zum Beispiel der italienische Jude Primo Levi (1919-1987), der einen Aufsatz „Buco nero di Auschwitz“ nannte.29 Wenn er auch eine Aufwertung des Begriffes vornahm (schwarzes Loch), ist der Bezug dennoch klar ersichtlich.

    2.3. Bodenständiger Kapitalismus

    Wenn man den Begriff „bodenständiger Kapitalismus“ betrachtet, erscheint das Konstrukt wie ein Kompromissversuch, um Gegner des Kapitalismus durch den Begriff „bodenständig“ zu überzeugen. Damit wird suggeriert, der Nutznießer dieses „Kapitalismus“ sei nicht abgehoben, weil er beispielsweise unsagbar reich geworden ist, sondern bliebe bei aller geschäftlichen Flexibilität „bodenständig“, also anständig.

    Im Nationalsozialismus war damit allerdings im wahrsten Sinne des Wortes ein „sesshafter“, auf die nationale Wirtschaft ausgerichteter Kapitalismus gemeint. Das Gegenteil war der „nomadische Kapitalismus“30, der unproduktiver sein sollte, finanzielle Spekulationen befürwortete und von Juden dominiert wäre. Sprachgeschichtlich ist die Verbindung von nomadischen Aspekten mit dem Judentum31 beinahe so alt wie der Antisemitismus32 selbst. Die Nationalsozialisten bedienten sich angeblich nur des „schaffenden“, die Juden vor allem des „raffenden“ Kapitals.33 Wenn die Begriffsentwicklung auch schon weit vor der nationalsozialistischen Herrschaft begonnen haben mag, ihren Höhepunkt hatte sie zwischen 1933 und 1945. Der Begriff „bodenständiger Kapitalismus“ ist demnach durch den NS-Jargon entscheidend mitgeprägt worden.

    2.4. Chefsache

    Schon das Französische bezeichnete Adolf Hitler neben „Guide“ auch als „Chef“34. Mit „Chefsache“ – zumeist „Chefs.“ abgekürzt35 – versehene Dokumente zeigten an, dass ihr Inhalt unter Geheimhaltung stand und zu den Angelegenheiten des „Führers“ gehörte. So wurde beispielsweise die Propaganda gegen die UdSSR, in der Russland als „jüdisch- bolschewistischer Weltfeind“ seine „Roten Horden aus den asiatischen Steppen“ auf die „Festung Europa“36 entsendete, zur „Chefsache“ erklärt.37 Wenn in der nationalsozialistischen Besatzungspolitik zudem Operationszonen geschaffen wurden, dann handelte es sich zunächst um „führerunmittelbare Territorien“, deren Verwaltung in führerstaatlicher Manier zur „Chefsache“ erklärt wurden, wenngleich Hitler diese Aufgabe für gewöhnlich rasch an seine Obersten Kommissare delegierte.38 Bereits beim Angriff auf die Tschechoslowakei im Aufmarschplan „Grün“ vom 21. Dezember 1937, der zur „Lösung des deutschen Raumproblemes“39 beitragen sollte, sprach man von „Chefsache“.40

    Auch bei „Chefsache“ handelt es sich um einen Begriff, der nicht im Nationalsozialismus erfunden wurde. So verwendete ihn beispielsweise Erich Ludendorff (1865-1937) bereits im Jahr 1917, um sich das neue Medium Film, worin er „eine Waffe erkannte“, zu eigen zu machen.41 Eine Profilierung des Begriffes zwischen 1933 und 1945 ist jedoch offensichtlich.

    2.5. Daseinskampf

    Schon Immanuel Kant (1724-1804), Johann Gottfried Herder (1744-1803) und Augustin- Pyrame de Candolle (1778-1841) kannten den Begriff des „Daseinskampfes“. Seine für die Biologie entscheidende Prägung erfuhr der Begriff in erster Linie durch Charles Darwin (1809-1882). Ursprünglich beschrieb Darwin damit die Selektion innerhalb der Adaptiogenese, einem Vorgang der Entstehung von Anpassungen in der Phylogenie, der insbesondere Aspekte dynamischer Anpassung betont. Exakt dieses naturwissenschaftliche Phänomen übertrug man auf die menschliche Art, indem man im Zeitalter des Rassismus die Menschheit in unterschiedliche Rassen kategorisierte.42

    Im Nationalsozialismus galten Leidensfähigkeit, Toleranz und Friedfertigkeit nicht mehr als Zeichen moralischen Auserwähltseins, sondern als Indizien für die Unfähigkeit, sich im „Daseinskampf“ zu behaupten.43 Demzufolge wurden junge Männer in den verschiedensten Kaderschmieden ideologisch darauf abgerichtet, kein Mitleid mit „Minderwertigen“ oder „Lebensuntauglichen“ zu haben, da dies den „Daseinskampf“ verfälschen würde.44 In dieser Initialhaltung verbirgt sich bereits die Akzeptanz von Euthanasie und Todesstrafe, mit der man sich unliebsamer Menschen entledigen konnte. Wer die natürliche Auslese – was in der Biologie noch als „Selektion“ bezeichnet wurde – behindere, ließe demnach „Entartung“45 zu. Neben dem Krieg als „moralischer Lehranstalt“ stellte der „rassenbiologische Antisemitismus (…) den weltanschaulich-ideologischen Begründungsrahmen zur Überführung der sozialdarwinistischen Rhetorik von Daseinskampf und Volksgesundheit in die politische Pragmatik der systematischen Vernichtung der Juden bereit.“46

    2.6. Deutsche Christen (DC)

    Was auf den ersten Blick harmlos wirkt, beinhaltete eine rigorose Ausschließung all dessen, was nicht Deutsch und christlich (= evangelisch) war. „Deutsche Christen“ bezeichnete eine Gruppierung von Menschen innerhalb der Evangelischen Kirche, die eine Synthese von Christentum und Nationalsozialismus anstrebten.47 Neben der „Entjudung“ der Gesangsbücher stand auch die Streichung des Alten Testaments als Beseitigung „judenchristlicher Legenden“ aus der Bibel auf der Agenda. Bereits im Mai 1933 forderte man schließlich die „Reichskirche luth. Prägung“, denn auf dem Antisemitismus Martin Luthers konnte man aufbauen.48 Im November desselben Jahres verkündete Reinhold Krause (1893-1980), stellvertretender Berliner Gauobmann der Glaubensbewegung, dass „die Vollendung der deutschen Reformation im Dritten Reich“ abgeschlossen sei; künftig sei ein „artgemäßes Christentum“ möglich.49 Zwischenzeitlich war auch die Gleichschaltung der Evangelischen Kirche abgeschlossen. Die innerkirchliche Opposition war damit abgesetzt, das „Führerprinzip“ eingeführt und sog. Judenchristen wurden exkommuniziert.50 Ab sofort wurde Jesus zum „Held“ stilisiert, Pazifismus und Internationalismus wurden abgelehnt.51 Dabei standen die „Deutschen Christen“ erstens „auf dem Boden des Parteiprogramms“, zweitens „auf dem Boden des reinen Evangeliums“ und drittens baute die Glaubensbewegung „auf dem Führerprinzip auf und stellt[e] sich geschlossen hinter ihren Reichsleiter Hossenfelder.“52 Wenngleich die Organisation bereits zwischen 1927 und 1930 in Thüringen entstand,53 konnte sich eine extreme Profilierung des Begriffes „Deutsche Christen“ erst nach Hitlers „Machtergreifung“ ergeben, was den Terminus heute zu einem ausschließlich auf die Zeit des Nationalsozialismus bezogenen macht.

    2.7. Fahnenflucht

    Im § 16 des Wehrstrafgesetzes (WStG) der Bundesrepublik Deutschland wird das Thema „Fahnenflucht“ behandelt. So wird die Straftat der Desertion heute mit einer „Freiheitsstrafe bis fünf Jahren bestraft.“54 Im Nationalsozialismus fielen die Strafen deutlich härter aus. Ab dem 1. Januar 1934 wurden die militärischen Strafgerichte rehabilitiert. 1935 und nach Kriegsbeginn, etwa ab 1940, wurde der Tatbestand der „Fahnenflucht“ erheblich verschärft.55 Wenn ein Wehrmachtssoldat in der Heimat mehr als sieben, im Feld mehr als drei Tage unerlaubt von der Truppe fernblieb, so erwarteten ihn zehn Jahre Freiheitsentzug.56 Im § 6 der Kriegssonderstrafrechtsverordnung (KSSVO) vom 17. August 1938 wurde darüber hinaus auch die Option der Todesstrafe, die zuvor im Kaiserreich abgeschafft worden war, wieder eingeführt. Bei etwa 30.000 gefällten Todesurteilen, wurden rund 23.000 auch vollstreckt.57 Warum der Nationalsozialismus die Todesstrafe bei „Fahnenflucht“ wieder einführte, liegt auf der Hand. Die „milde Behandlung der Fahnenflucht“58 im Ersten Weltkrieg wurde als „Versagen der deutschen Militärjustiz“59 wahrgenommen. Für Hitler konnte die Flucht vor der Hakenkreuzfahne nur eine Konsequenz haben: „An der Front kann man sterben, als Deserteur muß man sterben.“60

    2.8. Festung Europa

    Was gegenwärtig in schier endloser Wiederholung in den Medien auftaucht, um diejenigen politischen Kräfte zu kritisieren, die sich auf eine konservative Europapolitik stützen, ist der Begriff „Festung Europa“. Seinen Ursprung hat der Terminus ebenfalls im „Dritten Reich“. Einige Forscher behaupten, er tauche erstmals in einem Bericht des Reichsministeriums für Rüstung und Kriegsproduktion im September 1943 auf.61 Dem steht jedoch entgegen, dass schon Ende 1942 mehrere Presseanweisungen den Gebrauch des Wortes untersagten.62 Nachdem sich Hitler nach und nach mit dem Begriff „Europa“ anfreunden konnte, war ihm die Metapher „Festung Europa“ zuwider, da sie zu der Zeit aufkam, als die Wehrmacht im Osten erste Rückschläge durch die Rote Armee hinnehmen musste. Der Begriff suggerierte quasi, man müsse sich künftig nur noch verteidigen, weitere Eroberungen seien nicht mehr möglich. Klemperer schrieb dazu: „Sooft der Name Europa während der letzten Jahre in der Presse oder in Reden auftaucht – und je schlechter es um Deutschland steht, um so öfter und um so beschwörender geschieht das –, immer ist dies sein alleiniger Inhalt: Deutschland, die ‚Ordnungsmacht‘, verteidigt die ‚Festung Europa‘.“63 Nachdem die Wehrmacht in der Folgezeit überall zurückgedrängt wurde, machte der Begriff nach und nach dem Begriff „Festung Deutschland“ Platz. Zuletzt sprach man sogar von der „Festung Berlin“.64

    2.9. Ghetto

    Der aus dem Italienischen stammende Begriff65 – im Deutschen auch Getto – bezeichnete bereits im Mittelalter abgegrenzte Wohnviertel für Menschen jüdischen Glaubens. In der Terminologie des Nationalsozialismus bezeichnete ein „Ghetto“ die Zwischenlager in Polen und der Tschechoslowakei, in denen Jüdinnen und Juden bis zur Deportation in die Konzentrations- und Vernichtungslager gefangen gehalten wurden.66 In euphemistischer Tradition bezeichnete man die „Ghettos“ gegenüber der Öffentlichkeit aber auch als „Jüdische Wohnbezirke“ und „Wohnsiedlungen“.67 Dass dabei zum Teil mehrere Familien in zweistelliger Kopfzahl in einem Zimmer leben mussten, verschleiern diese Beschönigungen ganz bewusst. Die „Ghettoisierung“ verfolgte, trotz ihrer unterschiedlichen Praktiken vor Ort, nur den einen Zweck, jüdische Gefangene, die von ihrem Schicksal nichts wissen durften, auf die Deportation und Ermordung vorzubereiten. Bereits 1943 waren alle polnischen „Ghettos“ aufgelöst, die Insassen ermordet oder in die Lager verschleppt.68 Neben den „Ghettos“ des Nationalsozialismus gab es auch ethnische Enklaven in Großbritannien, Nordirland, auf dem Balkan, in Marokko, in Shanghai und in besonderem Ausmaß in den USA, wo Afroamerikaner aus rassistischen Motiven zum Teil nicht nur in „Ghettos“ leben mussten, sondern auch nur bestimmte Arbeitsplätze besetzen, Dienste in Anspruch nehmen sowie Konsumeinrichtungen oder Transportmittel nutzen durften.69 In der deutschen Gegenwartssprache bezeichnet der Begriff „Ghetto“ laut dem Duden Stadtviertel, in denen „diskriminierte Minderheiten, Ausländer oder auch privilegierte Bevölkerungsschichten zusammen leben.“70 In jedem Fall ist ein pejorativer Charakter unweigerlich hörbar, wenngleich der Begriff seit der Zeit des Nationalsozialismus paradoxerweise eine inhaltliche Aufwertung erfuhr.

    2.10. Gutmensch

    Der heute negativ konnotierte Begriff „Gutmensch“ hatte seinen herablassenden Charakter bereits vor der Zeit der Konzentrations- und Vernichtungslager der Nationalsozialisten.

    Jüdische Häftlinge verwandten den jiddischen Begriff „a gutt Mensch“, der von den Unterdrückern in „Gutmensch“ umgebildet wurde und künftig „lebensunwertes Leben“ betitelte. Im Jiddischen handelt es sich allerdings um einen Pleonasmus, da schon das Wort „Mensch“ die Bedeutung „herausragender guter Mensch“ beinhaltet, ein Attribut wäre demnach gar nicht nötig.71 Schon Friedrich Nietzsche (1844-1900)72 und Julius Streicher (1885-1946)73 echauffierten sich über die „guten Menschen“. Seinen Ursprung hatte das Wort allerdings bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts, konkret in einem Buch des Pädagogen Christian Oeser.74 Seinen gegenwärtigen Wortinhalt erhielt das Werk Ende der 1980er und 1990er Jahre, konkret durch Autoren wie Rainer Jogschies und Klaus Bittermann.75 Bedauerlicherweise öffnete vor allem Jogschies eine inexistente Linearität zwischen dem nationalsozialistischen Unwort „Untermensch“ und dem gegenwärtig als Diffamierung verwendeten Stigmawortes „Gutmensch“. Beide Begriffe existierten jedoch bereits in der Zeit des Nationalsozialismus. Als „Untermenschen“76 oder „Gutmenschen“ bezeichnete Opfer des NS-Regimes erwartete oftmals die Euthanasie.

    2.11. Jedem das Seine

    Der geflügelte Ausdruck ist im wahrsten Sinne in aller Munde. Es existiert keine gesellschaftliche Problematisierung des Begriffes. Als Ausdruck einer eigenen Ablehnung gegenüber einer Tatsache, die man einer dritten Person pseudotoleranter Weise nicht missgönnt, hat „Jedem das Seine“ in der deutschen Gegenwartssprache Hochkonjunktur. Dabei stammt der philosophische Grundgedanke aus der griechischen Antike.

    Platon äußerte in seiner Politeia: „Wenn man das Seine tut und nicht vielerlei Dinge treibt“.77 Der Begriff wurde über das lateinische „suum cuique“ in die Rechtsphilosophie Mitteleuropas transportiert. In dieser lateinischen Version fand der geflügelte Begriff auch Einzug in das preußische Militär, wo er ab 1701 auf dem von Friedrich I. (1657-1713) gestifteten Schwarzen Adlerorden zu sehen war.78 Ein lustvolles Gedicht Eduard Mörikes mit dem Titel „Jedem das Seine“79 aus dem Jahr 1862 fand schließlich über Hugo Distler Einzug in ein Chormusikstück, das in nationalsozialistischer Zeit in Bayern entstand.80

    Im Konzentrationslager Buchenwald in Thüringen brachten die Nationalsozialisten am versperrten Eingangstor die Inschrift „Jedem das Seine“ an. Dabei waren die Lettern nicht wie gewöhnlich – vergleiche beispielsweise Auschwitz und den „Arbeit mach frei“-Schriftzug – von außen lesbar, sondern von innen. Die Gefangenen sollten also durch die Gitterstäbe hindurchblickend erkennen, dass sie es verdient hatten, verhaftet und eingesperrt zu sein, während diejenigen, die sie durch das Tor sehen konnten, zurecht in Freiheit lebten. Dies entsprach der nationalsozialistischen, lebensgesetzlich begründeten Gerechtigkeits- philosophie, die nicht „Jedem das Gleiche“, sondern „Jedem das Seine“ zusprach.81 Die einzige Gleichheit in der Gefangenschaft bestand letztlich in der Sterblichkeit der Inhaftierten.82 Damit konnte das erste Konzentrationslager, das bereits 1933 gegründet wurde, vorwiegend politische Häftlinge über den gesamten Zeitraum der nationalsozialistischen Herrschaft mit dem kruden Ungleichheitsverständnis der SS konfrontieren und ihnen somit zeigen, dass sie mit Kommunismus, Sozialdemokratie oder christlich-liberalem Konservatismus die „falsche Seite“ gewählt hatten und nun ihre gerechte Strafe verbüßten.83

    Eine Berufung auf die historische Tradition rechtfertigt gegenwärtig die Verwendung des Begriffes. So findet sich die Aufschrift „Jedem das Seine“ heute noch in Gerichtsgebäuden in ganz Deutschland. Zudem führen die Feldjäger der deutschen Bundeswehr in ihrem Barettabzeichen den Schriftzug: „suum cuique“.84

    2.12. Lügenpresse

    Mit dem Stigmawort „Lügenpresse“ sollen Medien jeder Art diskreditiert werden. Grund hierfür ist die Meinung desjenigen, der den Begriff verwendet, die besagt, dass Äußerungen in Druck, Funk und Fernsehen schlecht recherchiert oder gar erfunden beziehungsweise bewusst erlogen seien. Ein weiterer Begriff, der vergleichbares bezeichnet, ist die durch den österreichischen Publizisten Karl Kraus (1874-1936) geprägte „Journaille“.85

    Schon im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit existierten Begriffe wie „Lügenbrief“, „Lügenblatt“, „Lügenrede“, „Lügenreich“ oder „Lügenschrift“. Sie bezeichnen, von evangelischer oder katholischer Seite geäußert, die jeweiligen Publikationen der anderen Religionsgemeinschaft und bezichtigen diese der Lüge, also einem Verstoß gegen den Dekalog.86 Im Deutsch-Französischen Krieg von 1870-1871 bekam der Begriff „Lügenpresse“ erneut Aufschwung, diesmal zur Denunziation der französischen Zeitungen.87 Und auch die Propaganda des Ersten Weltkrieges kannte den Begriff, intensivierte seinen Gebrauch und schürte neue Ressentiments.88

    Im „Dritten Reich“ wurde der Begriff weniger von Adolf Hitler, als vielmehr von Alfred Rosenberg (1892-1946) verwandt: „Das Volk wird seine großen Künstler, Feldherren und Staatsmänner nicht mehr als ein ihm Entgegengesetztes empfinden – als welches eine Lügenpresse sie uns darstellen möchte –, sondern, umgekehrt, als den höchsten Ausdruck seines oft dunklen, noch unbestimmten Wollens.“89 Damit war die Brücke zwischen dem Hass auf andersdenkende Medien und dem völkischen Nationalismus geschaffen. Am 25. Februar 1939 schrieb Joseph Goebbels: „Wer in diesen Tagen und Wochen die ausländische Hetz- und Lügenpresse durchblättert, könnte leicht auf den Gedanken kommen, daß Europa am Rande eines neuen Weltkrieges steht.“90 Ganz gleich, ob man selbst log oder nicht, die Besetzung des Begriffes „Lügenpresse“ war in der NS-Zeit wichtiger als je zuvor oder danach. Deshalb hatte er auch dort seine Hochphase, was den Begriff bis heute färbt.

    2.13. Männerbund

    Der selbsterklärende Begriff „Männerbund“ bezeichnet eine Gemeinschaft von Männern; Frauen91 werden entsprechend nicht aufgenommen. Der Begriff entstand zwar erst Anfang des 20. Jahrhunderts92, bezeichnete allerdings zum Teil auch bestimmte Vereinigungen, die weit älter sein konnten. Beispiele wären die mittelalterlichen Ritterorden, studentische Korporationen oder Handelszünfte. Besonders verbreitet waren „Männerbünde“ in der islamischen Welt.93

    Im Nationalsozialismus maß man dem Terminus noch eine deutlich wichtigere Rolle bei. So äußerte Adolf Hitler 1935 auf einem Parteitag in Nürnberg:

    Der Knabe, er wird eintreten in das Jungvolk, und der Pimpf, er wird kommen zur Hitlerjugend, und der Junge der HJ, er wird dann einrücken in die SA, in die SS und die anderen Verbände, und die SA-Männer werden eines Tages einrücken zum Arbeitsdienst und von dort zur Armee; und der Soldat des Volkes wird zurückkehren wieder in die Organisationen der Bewegung, in SA und SS, und niemals mehr wird unser Volk dann so verkommen, wie es leider einst verkommen war.94

    Die SS als Keimzelle der „neugermanischen Religion“ unter Heinrich Himmler gilt als das Musterbeispiel für einen „Männerbund“.95 Der Gedanke wurde jedoch bereits ab 193196 adaptiert und für die Verwendung im NS-Staat präpariert, wo er 1934 erstmals größere Bedeutung erhielt.97 Schwer fiel der NS-Ideologie die rigorose Distanz zur ursprünglich ebenfalls existenten Komponente der Homoerotik, die in SS und SA vollständig tabuisiert war.98 Das prominente Beispiel Ernst Röhm, dessen offen praktizierte Homosexualität im Kontext des „Männerbundes“ SA für stete Anfeindungen sorgte, wurde bereits hinlänglich untersucht.99

    2.14. Mischling – Rasse – reinrassig

    Ganz selbstverständlich wird die hier behandelte Trias heute von den meisten Rezipienten mit der Hundezucht in Verbindung gebracht. Doch auch diese, letztlich der Biologie entstammenden Begriffe wurden in der Zeit des Nationalsozialismus auf entwürdigende Weise auf den Menschen transfiguriert. Zunächst wurde im übersteigerten Rassismus der NS- Ideologie die Religion eines Menschen jüdischen Glaubens zu dessen „Rasse“ erklärt. Der Begriff der „jüdischen Rasse“ ist während der gesamten nationalsozialistischen Herrschaftszeit präsent.100 Doch auch hierbei handelt es sich um ein rassistisches Konstrukt, das die Nationalsozialisten nicht erfunden hatten. Friedrich Müller bezeichnete in seiner Allgemeinen Ethnographie aus dem Jahr 1873 die Juden bereits als „Mischrasse“:

    Wenn schon in geistiger Beziehung der heutige Jude für einen reinen Semiten nicht mehr gehalten werden kann, so kann er in leiblicher Beziehung noch weniger auf einen reinen unvermischten Stamm Anspruch erheben. – Im Durchschnitte ist der heutige Jude ein Mischling, der neben dem Echt-Semitischen an dem Charakter jener Rasse Theil nimmt, innerhalb derer sich seine Vorfahren aufgehalten haben und innerhalb derer er selbst wohnt.101

    Natürlich bekommt die Kategorisierung der jüdischen Gläubigen als eigene „Rasse“ einen bitteren Beigeschmack, wenn man den Entwicklungsprozess bis zur Shoah untersucht. Von Anfang an betrachteten sich die Nationalsozialisten im „Daseinskampf“102 der „arischen Rasse“ gegen die „jüdische Rasse“, die Lebensraum, Kultur und schöpferisches Potential des „Dritten Reiches“ bedrohte.103 Noch bevor diese Denkweise die Vernichtung der europäischen Juden zur Folge hatte, wurden nach und nach auch Menschen ins Visier genommen, die von den Nationalsozialisten als „Mischlinge“ betrachtet wurden. In der jüdischen Tradition wird die Religion immer von der Mutter an die Nachkommenschaft weitergegeben. War nun ein getaufter Jude mit einer Nichtjüdin liiert, so galten deren Enkelkinder – dem Rasseverständnis der Nationalsozialisten folgend – als „Vierteljuden“, waren beide Großelternteile, jedoch nicht beide Elternteile jüdischen Glaubens, galten die Enkelkinder als „Halbjuden“.104 „Während die meisten Völker Mischrassen darstellten, seien die Deutschen noch weitgehend reinrassig arisch.“105

    2.15. Mittelstand

    Parteien und Arbeitnehmer der Bundesrepublik Deutschland sorgen sich um die Zukunft des deutschen „Mittelstands“. Der Terminus besitzt eine vergleichsweise positive Konnotation, wird bisweilen mit einer nostalgischen Wehmut geäußert, rückblickend auf Zeiten, als es dem „Mittelstand“ noch besser ging. Eine eindeutige, zufriedenstellende, abschließende Definition dessen, was „Mittelstand“ eigentlich bedeutet, konnten bis heute weder Wirtschaftswissenschaften noch Geschichtswissenschaften liefern.106

    Im Vorfeld der „nationalsozialistischen Machtergreifung“ gelang es der NSDAP, eine Mehrheit im Arbeiterlager zu erlangen. Waren die Arbeiter während der Weimarer Republik in der Masse bei der SPD, seltener bei der KPD, zu verorten, so gelang den Nationalsozialisten bereits sehr früh eine Spaltung der Arbeiterschaft.107 Dabei galt besonders der Mittelstand als anfällig für nationalsozialistische Parolen.108 Positivistische Darstellungen sprechen hingegen vom „Mittelstand“ als „willige[m] Opfer der Versprechungen des Nationalsozialismus.“109 Theodor Geigers erklärte dieses Phänomen als Reaktion auf die Weltwirtschaftskrise,110 andere Autoren, vor allem Seymour Martin Lipset111, sahen darin eine Entwicklung, die sie mit dem Terminus „Extremismus der Mitte“ bezeichneten. Hauptinstrument der NSDAP zur Überzeugung der Arbeiterschaft war der 1932/1933 entstandene „Nationalsozialistische Kampfbund für den gewerblichen Mittelstand“.112 Hauptaufgabe der Schlägertrupps des Kampfbundes war die gewaltsame Zurückdrängung jüdischer Mittelstandsunternehmen, die als Konkurrenz wahrgenommen wurden.

    Heute macht es gerade die Heterogenität des Begriffes „Mittelstand“ möglich, seine unproblematisierende Verwendung zu rechtfertigen. Bedauerlich bleibt hierbei die Vielzahl an unzufriedenstellenden Erklärungsansätzen und Definitionsversuchen.113

    2.16. Pünktlich wie ein deutscher Zug (On time like a German train)

    Diese vor allem im amerikanischen Sprachgebiet verbreitete Wendung betont ganz klar den positiv konnotierten deutschen Pünktlichkeitsanspruch und wird daher nur selten problematisiert. Seinen Ursprung hat das Sprichwort allerdings in Auschwitz. Dort waren die Deportationszüge der Reichsbahn dafür bekannt, nahezu nie unpünktlich zu sein. Angehörige des Fachpersonals der Gedenkstätte in Auschwitz berichten während ihrer Führungen oft von „weniger als zwei Minuten Verspätung.“114 Die sekundären Tugenden Pünktlichkeit, Pflichterfüllung, Gehorsam, Diensteifer und Reinlichkeit als dezidiert nationalsozialistische und damit zu vermeidende Persönlichkeitsideale zu reduzieren, darf mit Leo Strauss freilich als „reductio ad Hitlerem“ (in einer Abwandlung der „reductio ad absurdum“) betrachtet werden.115 Anders verhält es sich mit der Formel „pünktlich wie ein deutscher Zug“, da diese exakt und ausschließlich Bezug nimmt auf die Deportationszüge nach Auschwitz und in die Konzentrationslager.

    2.17. Seelenbelastung

    Der Begriff „Seelenbelastung“ bezeichnete im Nationalsozialismus die Leiden der Henker, die sie während einer Massenexekution erlitten.116 Nachdem zunächst die Wehrmacht im Russlandfeldzug für die Hinrichtung politisch unliebsamer Gefangener zuständig war, häuften sich nach und nach die Beschwerden der diensthabenden Offiziere beim Oberkommando der Wehrmacht, da ihre „einfachen Soldaten“ nicht für die psychische Belastung von Massenhinrichtungen geeignet gewesen seien.117 Die hierbei entstandene „Seelenbelastung“ sorgte dafür, dass derartige Kommandos nach und nach durch SS-Einheiten ersetzt wurden, denen die Exekution wehrloser Menschen nicht so nah ging.118 Letztlich kann hierin eine der Ausgangssituationen identifiziert werden, die schließlich zur systematischen Vernichtung der europäischen Juden führte, da die Anonymisierung des Tathergangs durch das Gaskammersystem auf skurrile Weise „perfektioniert“ wurde.119 Die „Seelenbelastung“ der Henker und sonstigen Mitarbeiter des Krematoriums wurde effektiv gemindert.

    2.18. Sonderbehandlung

    Beim Begriff „Sonderbehandlung“ handelt es sich erneut um einen Euphemismus des NS- Jargons. Entgegen der Wortbedeutung erhielten die Opfer der „Sonderbehandlung“ keine gesonderte, irgendwie andersgeartete, womöglich sogar bessere Behandlung, sondern wurden stattdessen umgebracht. Der Chef der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes, Reinhard Heydrich, gilt als Urheber des Begriffes. In einem Runderlass vom 20. September 1939 schrieb er:

    Bei den Fällen zu Ziffer 1 (Zersetzung der Kampfkraft des Deutschen Volkes) ist zu unterscheiden zwischen solchen, die auf dem bisher üblichen Wege erledigt werden können und solchen, welche einer Sonderbehandlung zugeführt werden müssen. Im letzteren Falle handelt es sich um solche Sachverhalte, die hinsichtlich ihrer Verwerflichkeit, ihrer Gefährlichkeit oder ihrer propagandistischen Auswirkung geeignet sind, ohne Ansehung der Personen ausgemerzt zu werden.120

    Die Kenntnis über die wahre Bedeutung des Begriffes blieb auf die innersten Kreise des Systems beschränkt, nur SS, Einsatzgruppen, Auswärtiges Amt und wenige andere wussten von der Hinrichtungsabsicht, die der Terminus bewusst verschleiern sollte. Dies führte letztlich sogar soweit, dass die zivile Bevölkerung auf öffentliche Bekanntmachungen, „Halbjuden“ seien bestimmten „Sonderbehandlungen“ zu unterziehen, mit Argwohn reagierten und das Procedere als „halbe Maßnahmen“ kritisierten.121

    2.19. Überfremdung

    In der Nachkriegszeit des Zweiten Weltkrieges war die europäische Wirtschaft auf intensive Zuwanderung spezieller Arbeitskräfte aus dem Ausland angewiesen. Die über die gesamte Zeit seit 1945 existenten Flüchtlingsbewegungen, die teilweise auch nach Deutschland gelangten, wurden dort von neurechten und neoliberalen Kräften zurückgewiesen, da man den Menschen aus dem Ausland eine „Überfremdung“ der eigenen Residenzgesellschaft unterstellte.

    Der Begriff „Überfremdung“ stammt aus der Ökonomie, lexikalisch tauchte er erstmals 1929122 auf. Im Duden bezeichnete er zunächst eine Majorisierung ausländischer Geldanteile auf dem inländischen Markt. Ab 1934 (Duden, 11. Auflage) bezeichnete der Begriff „Überfremdung“ das Überhandnehmen „fremdrassigen“ Eindringens nach Europa. Ab 1941 (Duden, 12. Auflage) rückt der lexikalische Begriff „Eindringen Fremdrassiger“ noch vor den Begriff „Überfremdung“.123 Ziel der NS-Außenpolitik war demnach das rigorose Einwanderungsverbot bestimmter Bevölkerungsgruppen, die im Reich unerwünscht waren. Zur entsprechenden Einhaltung der „Reinhaltung“ der eigenen „Rasse“ und zur Steigerung des „Blutbewusstseins“ wurde eine „Reichsbehörde für Volkswachstum, Aufartung und Aufnordung“ gegründet. Hauptaufgabe der Behörde war es, alles „Artfremde“ und „Minderwertige“ aus dem deutschen Genpool fernzuhalten, ganz gleich, mit welchen Mitteln.124 Sollten sich dennoch „arische“ Menschen mit „minderwertigen“ Menschen fortpflanzen, so seien dieser Akt und etwaige Kinder dieses Zusammenschlusses nach der Meinung Rosenbergs als „entartet“ zu betrachten.125 Der Wunsch zur „Reinhaltung der Rasse“ ging sogar soweit, dass man Fauna und Flora in „Rassen“ und „Arten“ kategorisierte, die es vor „Überfremdung“ zu schützen galt. Im pflanzlichen Bereich war hier beispielsweise die Rede von „Durchschnittsarten und Dutzendware“, die es abzulehnen galt.126

    2.20. Unerwünscht

    Unter dem Adjektiv „unerwünscht“ wurde im Nationalsozialismus eine ganze Reihe von gesellschaftlichen Gruppierungen zusammengefasst. Im Grunde sind hier all diejenigen Menschen aufzuführen, die vom NS-Staat verfolgt und umgebracht wurden. Neben den Menschen jüdischen Glaubens traf dies unter anderem auf Intellektuelle, Sinti und Roma, Homosexuelle, Menschen mit geistiger oder körperlicher Behinderung und einige mehr zu. So galt es beispielsweise als „unerwünscht“, wenn Mann und Frau nach den Maßgaben des „Ehegesundheitsgesetzes“ nicht in der Lage waren, Kinder zu zeugen. Diese eheliche Verbindung hätte keinen Nutzen für die Volksgemeinschaft gehabt.127 Überdies konnten auch Künstler, die nicht den Vorstellungen der NS-Ideologie entsprachen, Opfer des Nationalsozialismus werden, was meist mit der Deportation der „Unerwünschten“ endete.128 Selbst Jugendorganisationen wie bspw. die „Swing-Jugend“ galten als „unerwünscht“.129

    2.21. Unnütze Esser

    Als „Schädlinge“ oder „unnütze Esser“ bezeichnete man im Nationalsozialismus Menschen ohne Obdach, Prostituierte und Tagelöhner. Ferner existiert eine inhaltliche Deckung mit denjenigen Menschen, die unter dem Begriff „Asoziale“130 subsummiert wurden. Menschen mit geistiger oder körperlicher Behinderung galten zudem als „Ballastexistenzen“, was mindestens ebenso diffamierend war.131

    In dieser sozialdarwinistischen Weltanschauung hatten demnach Menschen, die nicht in der Lage waren, ihren eigenen Lebensunterhalt ohne fremde Hilfe zu erwirtschaften, den Status „unwerten Lebens“. Sie galten im wahrsten Sinne des Wortes als „unnütze Esser“, da deren Mahlzeiten beispielsweise kräftigen, jungen Männern, die ihre Heimat mit dem Leben verteidigten, hätten zukommen können. Während des „Unternehmens Barbarossa“ galten beispielsweise diejenigen Menschen, die in zu besetzenden russischen Gebieten lebten, nicht nur als „slawische Untermenschen“132, sondern auch als „unnütze Esser“. Die diesbezüglichen Planungen der militärischen Eliten vom 2. Mai 1941 antizipierten, dass diese Menschen zur Umsetzung der Siedlungspläne, im Kontext des Germanisierungsvorhabens oder zum Zweck der Lebensmittelversorgung der deutschen „Volksgemeinschaft“ in den osteuropäischen Konzentrations- und Vernichtungslagern umgebracht wurden.133

    2.22. Wunderwaffe

    Wenngleich der Terminus „Wunderwaffe“ (im Englischen: „silver bullet“ oder „wonderweapon“) nicht unbedingt ein Begriff der deutschen Alltagssprache ist, so taucht er medial hin und wieder in Bezug auf neuartige, potentiell konflikt- oder kriegsentscheidende technologische Entwicklungen, die dem jeweiligen „Gegner“ fehlen, auf.

    Im Nationalsozialismus erhielt der Begriff „Wunderwaffe“, der bereits im Ersten Weltkrieg verwandt wurde („Dicke Bertha“, „Paris-Geschütz“), seine nachhaltige Prägung. Hierunter wurden vor allem die V-Raketen sowie bestimmte, „kriegsentscheidende“ Panzer, U-Boote, Flugzeuge und Gleitbomben subsummiert.134

    3. Abschließende Bemerkungen

    Mit der vorliegenden, subjektiven Auswahl an Begriffen des NS-Jargons, die sich bis in die deutsche Gegenwartssprache erhalten haben, konnte gezeigt werden, dass die Problematisierung scheinbar „unbehafteter“ Alltagsbegriffe zur Aufdeckung des unterschwelligen Überlebens der nationalsozialistischen Sprache beitragen kann. Dabei ging es im vorliegenden Essay nicht um eine präskriptive Anleitung zur Vermeidung politisch- fragwürdiger Redewendungen, sondern um die zur Neutralität verpflichteten, wissenschaftlichen Deskription dieser Termini. Hierbei sollte eine gezielte Abgrenzung zu eindeutig nationalsozialistischen Sprachelementen gewährleistet sein, da die Untersuchung dieser Materie, wie der Forschungsstand in der Einleitung zeigen konnte, bereits umfassend vollzogen wurde. Betrachtet man beispielsweise allgemeine Abhandlungen zum Vokabular des Nationalsozialismus, wie unter anderem die von Cornelia Schmitz-Berning in eindrucksvoller Weise vorgelegte Monographie, so konnten einige der Begriffe in dieser umfassenden Schrift wiederentdeckt werden, jedoch längst nicht alle. Der vorliegende Essay will in seinem eingangs gesetzten Ziel einen Beitrag dazu leisten, die scheinbar „unbehaftete“ deutsche Gegenwartssprache exemplarisch daraufhin zu untersuchen, welche Begriffe sich stillschweigend erhalten konnten. Mit insgesamt zweiundzwanzig Beispielen konnte dieses Ziel wenigstens in Teilaspekten erfüllt werden, wenngleich eine intensive Feldforschung durchaus noch weit mehr Begriffe zu Tage fördern dürfte, als dies in den hier zitierten Publikationen der Fall ist.

    Ein sensibler Sprachgebrauch kann und darf nicht vorgeschrieben werden. Dennoch zeichnet sich der Verwender praktikabler Alternativwendungen dadurch aus, die Empfindungen derjenigen Menschen, die sich durch unbeabsichtigte Verwendung des NS- Jargons angegriffen fühlen würden, in angemessener Weise berücksichtigen zu wollen.

    #Allemagne #langue #nazis