• Kaum Überschneidungen zwischen Wähler*innenpotenzial - Rosa-Luxemburg-Stiftung
    https://www.rosalux.de/news/id/51251

    Auch wenn beide Parteien scheinbar ein ähnlich großes Potenzial haben, sind die Überschneidungen voraussichtlich deutlich geringer als erwartet. Nur 13 Prozent der Befragten mit einer klaren Parteipräferenz für DIE LINKE könnten sich vorstellen, evtl. ihre Stimme auch einer von Wagenknecht geführten Partei zu geben.

    Dagegen könnten sich aber 29 Prozent mit einer Präferenz für die AfD und 21 Prozent mit einer Präferenz für die FDP vorstellen, BSW zu wählen. Bei Befragten mit einer Präferenz für DIE LINKE können sich nur vier Prozent vorstellen evtl. auch die AfD zu wählen, umgekehrt sind es Null – zwischen AfD und LINKER gibt also kaum noch oder keine Überschneidungen. Es scheint sich zu bestätigen, dass der Austausch zwischen Wähler*innen der LINKEN und der AfD ist schon seit längerem abgeschlossen ist.

    Von den Nicht-Wähler*innen können sich 12 Prozent vorstellen für BSW zu stimmen, neun Prozent für DIE LINKE. Die Erwartungen, dass BSW die AfD deutlich schwächen und viele derjenigen überzeugen könnte, die sich enttäuscht von «der Politik» abgewandt haben, werden durch die Ergebnisse der Umfrage relativiert.

    Deutliche Unterschiede zwischen der Partei DIE LINKE und BSW gibt es auch mit Blick auf die Altersstruktur: DIE LINKE hat deutlich größere Potenziale bei jüngeren Menschen, während die potenziellen Wähler*innen von BSW strukturell älter sind.
    ...

    #Allemagne #gauche #élections

  • Olaf Kistenmacher : Arbeit und « jüdisches Kapital », Bremen 2016. - Rosa-Luxemburg-Stiftung
    https://www.rosalux.de/news/id/45072/olaf-kistenmacher-arbeit-und-juedisches-kapital-bremen-2016

    Non, le parti communiste allemand KPD n’était pas antisemite. Une dissertation de 300 pages essaye d"apporter des preuves pour la thèse qu’au fond "l’anticapitalisme marxiste" est antisemite, mais le projet de l’auteur est un échec. Peu importe, il a acquis le droit d’inscrire son titre dans son passeport et il poursuivra sans doute une brillante carrière dans les institutions internationales notoirement anticommunistes et sionistes.

    Au fond sa démarche est simple et infaillible : Je te ponds (ou copie) une définition super vague de l’antisemitisme, je rajoute une prise d’antisionisme antisemite et je fais mijoter les ingrédients dans une sauce affinée d’aromates à la théorie critique. C’est une mixture assez riche pour alimenter 300 pages et laisser le lecteur critique sur sa faim malgré tout.

    Bref, le dur exercice de lecture de toutes les éditions du journal des amis de la langue de bois Rote Fahne n’a produit aucune preuve pour l’existance de l’antisemitisme communiste hisorique. Pourtant, l’ami du sionisme anticommuniste s’est donné toute la peine possible. Comme c’est triste.

    Keine andere politische Gruppierung wurde so gnadenlos von den Nationalsozialisten verfolgt wie die Kommunistische Partei Deutschlands. Bereits im März 1933, noch vor allen anderen Parteien, verboten die neuen Machthaber die KPD. Etwa 150.000 Kommunistinnen und Kommunisten sollten bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs verhaftet, 20.000 ermordet werden.

    Dies kam nicht von ungefähr, entsprach die KPD doch vermeintlich dem nationalsozialistischen Feindbild vom «jüdischen Bolschewismus». Hervorgegangen war sie aus der Vorkriegssozialdemokratie und damit aus einer Partei, die sich als entschiedene Gegnerin des Antisemitismus hervorgetan hatte. Zudem standen im Verlauf der Weimarer Republik zahlreiche Personen jüdischer Herkunft an der Spitze der KPD. Zu nennen sind hier beispielsweise Rosa Luxemburg, Leo Jogiches, Paul Levi, August Thalheimer, Arkadi Maslow, Ruth Fischer und Werner Scholem.[1] Prominente Juden wie Ernst Bloch, Hanns Eisler und Egon Erwin Kisch bewegten sich in ihrem Umfeld.

    Angesichts dessen erscheinen die Thesen, die der Hamburger Historiker Olaf Kistenmacher vertritt, durchaus provokant. Seine im Jahr 2010 an der Universität Bremen eingereichte Dissertationsschrift ist nun als Buch erschienen. Darin postuliert er, die KPD-Presse habe Ansichten verbreitet, die man als antisemitisch bezeichnen müsse. Dies sei keineswegs nur gelegentlich passiert, sondern kontinuierlich: Für «alle Perioden der Weimarer Republik» (S. 313) ließen sich entsprechende Aussagen in der Tageszeitung «Rote Fahne» nachweisen. Da es sich bei dem Blatt um das Zentralorgan der Partei handelte, seien solche Positionen zweifellos «Teil der offiziellen Politik» der Kommunisten geworden (S. 13).

    Kistenmacher ist sich bewusst, dass er mit seinem Buch gegen die gesamte bisherige KPD-Forschung anschreibt. So räumt er ein, diese sei zu dem «einhelligen Ergebnis» gelangt, «dass die KPD keine antisemitische Partei war», der Antisemitismus «kein expliziter Bestandteil des Parteiprogramms» gewesen sei (S. 20). Dem versucht er jedoch den Befund entgegenzuhalten, in der Berichterstattung der «Roten Fahne» würden sich «strukturelle Affinitäten» zum antisemitischen Weltbild nachweisen lassen. Dabei handele es sich um «einzelne Bestandteile des modernen Antisemitismus» sowie um «Versatzstücke der antisemitischen Weltanschauung» (S. 18). Daher habe am Anfang seiner Untersuchung die Frage gestanden, «inwieweit die Rote Fahne judenfeindliche Vorstellungen (re-)produzierte und so, ob von der Redaktion oder der Parteiführung gewollt oder nicht, dazu beitrug, antisemitische Vorstellungen zu bestätigen» (S. 29). Zudem wollte Kistenmacher untersuchen, ob die «Rote Fahne» diese Denkweisen in die eigene Gesellschaftskritik integrierte. Ziel seiner Analyse sei es gewesen, «den <produktiven> Moment, den Umschlagspunkt darzustellen, an dem sich aus der unreflektierten Übernahme antisemitischer Ausdrücke etwas eigenes entwickelte, das man als Ansätze eines Antisemitismus von links bezeichnen könnte» (S. 37).

    Um es vorwegzunehmen: Kistenmachers Argumentation weiß nicht zu überzeugen. Dabei ist die Frage durchaus gerechtfertigt, ob sich antisemitische Aussagen in der kommunistischen Presse fanden. Denn tatsächlich gab es Phasen in der Geschichte der KPD, in denen die Partei zumindest ein sehr fragwürdiges Verhältnis zu Nationalismus, Antisemitismus und den entsprechenden politischen Bewegungen hatte. Ein Beispiel hierfür ist etwa der sogenannte Schlageter-Kurs im Sommer 1923. Benannt ist dieser nach dem rechtsextremen Freikorpssoldaten Albert Leo Schlageter, der während der französisch-belgischen Ruhrbesetzung mehrere Sprengstoffanschläge gegen die Besatzer durchgeführt hatte und deswegen von einem französischen Militärgericht zum Tode verurteilt wurde. Es war die Zeit von Krise, Hyperinflation und enormer gesellschaftlicher Polarisierung. Die KPD witterte ihre Chance, doch noch eine erfolgreiche Revolution durchzuführen, den «deutschen Oktober». In diesem Kontext startete sie den Versuch, die völkische Bewegung zu spalten, indem sie Diskussionsveranstaltungen mit einzelnen Vertretern durchführte, sich teilweise deren Sprache bediente und den hingerichteten Schlageter als «mutigen Soldaten der Konterrevolution» portraitierte. Nach nur wenigen Wochen gab sie diesen Kurs wieder auf. Ein weiteres Beispiel bieten die frühen 1930er Jahre. Hier entwickelte die KPD ein mehr als fragwürdiges Verhältnis zum Nationalismus, wie es im «Programm zur nationalen und sozialen Befreiung des deutschen Volks» zum Ausdruck kam.[2] Zudem unterstützte sie zu dieser Zeit einen von Deutschnationalen und Nationalsozialisten initiierten Volksentscheid gegen die sozialdemokratisch geführte preußische Landesregierung. Außerdem nahmen in der Sowjetunion als dem Land, an dem sich die KPD orientierte, in der Periode des Stalinismus antisemitische Stimmungen stark zu.

    Die Geschichtswissenschaft hat diese Prozesse bereits untersucht, sie zumeist in die Historie der kommunistischen Bewegung eingeordnet und gerade die Entwicklungen in den 1930er Jahren als Ausdruck der Stalinisierung der KPD gewertet.[3] Nichtsdestotrotz wären hier durchaus noch Differenzierungen möglich, ebenso wie genauere quellengesättigte Analysen einzelner Ereignisse.[4] Doch das leistet Kistenmachers Buch nicht. Es ist auch gar nicht sein Anspruch. Vielmehr möchte er – so zumindest der Lektüreeindruck – um jeden Preis nachweisen, dass sich die KPD antisemitischer Argumentationsmuster bediente.

    Um seiner Beweisführung nachzugehen, hat Kistenmacher sein Buch in drei Abschnitte unterteilt. Im ersten, umfangreichsten unternimmt er eine an Michel Foucault angelehnte Diskursanalyse. Dabei untersucht er die Berichterstattung in der «Rote Fahne» während der Jahre der Weimarer Republik auf mögliche antisemitische Formulierungen und Darstellungen. Der Forschung folgend unterscheidet er die nachrevolutionäre Epoche (1918-1923), die Phase der Stabilisierung (1924-1928) und die letzten Jahre der Weimarer Republik (1929-1933), die für Kistenmacher vor allem von der Auseinandersetzung mit der NSDAP geprägt waren. Einen wesentlichen Bruch markiert für ihn der Schlageter-Kurs vom Sommer 1923. Doch anders als die bisherige Forschung meint er, die Positionen, welche die KPD hier vertreten habe, seien keineswegs neu gewesen. Vielmehr habe die Partei an «Motive anknüpfen [können], die bereits zuvor vorhanden waren», zum einen eine positive Bezugnahme auf die Nation, zum anderen ein «personifizierter Antikapitalismus». Die Partei habe sich vorgestellt, «die kapitalistischen Machtverhältnisse dadurch überwinden zu können […], dass die Gesellschaft von den Kapitalisten, Nutznießern und <Parasiten> befreit würde» (S. 95). Dieser «strukturelle Antisemitismus» fände sich bis zum Ende der Weimarer Republik. Und mehr noch: Die «Rote Fahne» sei bei «der Übernahme einiger antisemitischer Vorstellungen […] selber nicht unproduktiv» geblieben. «Sie integrierte diese Stereotype in die eigene Gesellschaftskritik und bildete dabei eine spezifische Form der Judenfeindschaft heraus» (S. 322).

    An diesen Befund anschließend analysiert Kistenmacher im zweiten Teil seines Buches die Intellektuellenfeindschaft, die Mitte der 1920er Jahre innerhalb der KPD einsetzte. Völlig zu Recht verweist er hier auf die Widersprüchlichkeit in der Haltung der Parteiführung. Denn diese habe ignoriert, «dass die kommunistische Bewegung maßgeblich von Theorien, von Akademikerinnen und Akademikern geprägt war» (S. 218). Zudem habe die marxistische Linke selbst stets die gesellschaftliche Trennung zwischen geistiger und körperlicher Arbeit kritisiert. Dementsprechend stellt Kistenmacher fest, dass die Angriffe auf Intellektuelle vorrangig ein Mittel der Parteiführung gewesen seien, innerparteiliche Kontrahenten vom linken Flügel wie Ruth Fischer oder Karl Korsch zu stigmatisieren. Keineswegs könne man dies von dem «umfassenden Prozess der Stalinisierung» trennen. Doch zugleich weise «das Feindbild <Intellektuelle> zahlreiche Übereinstimmungen mit geläufigen antisemitischen Vorstellungen» auf: «<Intellektuelle> galten als unproduktiv, kleinbürgerlich und mit einer negativen Macht ausgestattet, andere Menschen gegen ihren Willen zu beeinflussen» (S. 246).

    Im dritten Teil seiner Arbeit untersucht Kistenmacher die Haltung der Kommunistischen Partei zum Zionismus. Die KPD lehnte die jüdische Nationalbewegung ab, handelte es sich doch aus ihrer Sicht um einen Verbündeten des englischen Imperialismus. Doch hätten sich, so Kistenmacher weiter, in ihre Kritik zunehmend auch antisemitische Argumentationsweisen eingeschlichen. So habe die „Rote Fahne“ beispielsweise ab Ende der 1920er Jahre nicht mehr zwischen «zionistisch» und «jüdisch» unterschieden. Nicht zuletzt weise die antizionistische Haltung der KPD viele Parallelen zu dem auf, was heute als «antizionistischer Antisemitismus» bezeichnet werde (S. 281). Hier zeige sich am deutlichsten, wie sehr die Analyse der «Roten Fahne» eine «Geschichte der Gegenwart» (Focault) sei: «Denn die Position, die die KPD in den 1920er und Anfang der 1930er entwickelte, nahm zentrale Elemente des antizionistischen Antisemitismus vorweg, der nach 1945 zu einem festen ideologischen Element des Marxismus-Leninismus wurde» (S. 319).

    «Arbeit und <jüdisches Kapital>» basiert auf der akribischen und verdienstvollen Durchsicht von fünfzehn Jahrgängen der «Roten Fahne». Wer die Prosa kommunistischer Zeitungen kennt, kann ungefähr einschätzen, was Kistenmacher hier auf sich genommen hat. Nicht von ungefähr merkte der Kominternfunktionär Ossip Pjatnizki einmal an, die KPD-Presse sei «sehr langweilig», niemand außerhalb der Partei wolle sie kaufen.[5] Tatsächlich erreichte die «Rote Fahne» in den Jahren der Weimarer Republik zu keinem Zeitpunkt auch nur annähernd so viele Leserinnen und Leser, wie die Partei Mitglieder hatte.

    Angesichts dessen stellt sich die Frage, warum Kistenmacher seine Auswertung auf das Parteiorgan beschränkte. Schließlich räumt er selbst ein, dass dessen Auflagenzahlen vergleichsweise niedrig blieben. Eine Antwort findet sich möglicherweise in der Methodik, die er verwendet. Es geht ihm gar nicht darum, herauszufinden, welche Außenwirkung der reale oder vermeintliche Antisemitismus der «Roten Fahne» hatte. Die eingangs zitierte Behauptung, er sei zur «offiziellen Politik» der KPD geworden, scheint Kistenmacher gar nicht überprüfen zu wollen. Vielmehr konzentriert er seine Untersuchung auf die «Ebene des geschriebenen Worts» (S. 12). Und selbst hier umfasst seine Analyse nicht den gesamten innerparteilichen Diskurs, sondern beschränkt sich eben größtenteils auf die Spalten der «Roten Fahne». Im Berliner Bundesarchiv befinden sich seit knapp zwei Jahrzehnten die umfangreichen Bestände des ehemaligen Zentralen Parteiarchivs der KPD. Ihre Auswertung hätte möglicherweise eine Reihe von Fragen beantworten können: Wurden die entsprechenden Berichte der Zeitung in den Parteigliederungen diskutiert? Gab es Zustimmung oder Kritik? Wie reagierte das Zentralkomitee darauf? Doch diese Quellen hat Kistenmacher für seine Diskursanalyse nicht eingesehen.

    Ein Beispiel soll die Problematik seines Vorgehens verdeutlichen. Der Autor berichtet über die «Ostjudendebatte», die im November 1922 im Preußischen Landtag stattfand. Initiiert wurde diese von den Deutschnationalen, die über die vermeintliche «Ostjuden-Gefahr» diskutieren wollten. Es ging um die neue deutsch-polnische Grenze, die gesichert werden sollte, um die Einwanderung vor allem von jüdischen Migranten aus Osteuropa zu verhindern. Diese Debatte ist insofern sehr aufschlussreich, als sie zeigt, wie sich die frühe KPD mit dem Antisemitismus völkischer Kreise auseinandergesetzt hat – in diesem Fall der Abgeordnete Werner Scholem, der für die Partei ans Rednerpult trat. Folgt man Kistenmacher, der sich auf einen kurzen Bericht aus der «Roten Fahne» bezieht, dann war Scholems Argumentation «verwirrend». Mit seinem Redebeitrag habe er versucht, «die Stimmung gegen die <Ostjuden>, die mit diffusen Vorstellungen über den globalen Kapitalismus, verborgene Wirtschaftsströme und die ökonomische Macht der Bewohnerinnen und Bewohner des Scheunenviertels verbunden war, gegen die herrschende Klasse zu richten» (S. 58 f.). Wirft man anders als Kistenmacher jedoch einen Blick in die gedruckt vorliegenden Protokolle des Preußischen Landtags, ergibt sich ein ganz anderes Bild. Werner Scholem war der einzige Redner, der den Antisemitismus der Deutschnationalen entschieden ablehnte und sich nicht auf entsprechende Argumentationsmuster einließ. Die Migranten bezeichnete er nicht als «Ostjuden», sondern als Proletarier. Zudem benannte er als einziger Redner den Zusammenhang zwischen Wirtschaftskrise und Fremdenfeindlichkeit. Vor allem zeigt sich in dieser Debatte noch ein weiterer Aspekt, den Kistenmacher nur am Rande benennt: Jüdische Kommunistinnen und Kommunisten selbst waren immer wieder, ebenso wie die KPD als Ganzes, Ziel der antisemitischen Polemiken von völkischer Seite.[6]

    Ein weiteres Problem in Kistenmachers Argumentation ist die Art und Weise, wie er den Antisemitismus-Begriff verwendet. Trotz der Tatsache, dass die Diskussion darüber emotional sehr aufgeladenen ist und von Wissenschaftler*innen große Genauigkeit abverlangt, liefert er in seiner Einleitung leider keine genaue Definition. Allerdings wird bei der Lektüre deutlich, dass er den Begriff sehr weit fasst – nämlich so weit, wie es nötig ist, um seine Hauptthese zu belegen. So verdeutlicht er immer wieder, dass es ihm keinesfalls nur um rassistische Aussagen und Stereotype geht, die sich gegen das Judentum oder einzelne Repräsentanten richten, sondern auch um Argumentationsweisen, die sich zwar nicht ausdrücklich auf Juden beziehen, aber dem Antisemitismus von ihrer Begrifflichkeit und Argumentationsstruktur her vermeintlich ähneln – gewissermaßen «latente Formen antisemitischer Aussagen, die die Kritische Theorie als <Krypto-Antisemitismus> bezeichnet» (S. 99). Zudem schreibt er, dass er bei der Analyse «strukturelle Affinitäten» zwischen marxistischem Antikapitalismus und einem antisemitischen Weltbild aufzeigen wolle (S. 21). Seine Ausgangsbasis bilden «die kleinsten Einheiten des Diskurses, der Gebrauch von Ausdrücken wie <Judas>, <jüdisch>, <Zionismus> usw.» (S. 12).

    Kistenmacher interessiert sich in diesem Zusammenhang nur am Rande dafür, welche ideologische Bedeutung bestimmten Begriffen innerhalb des KPD-Diskurses zukam. Trotzdem meint er, dass das, was die KPD unter «Jude» und «jüdisch» verstanden habe, «nicht eindeutig von rassistischen Zuschreibungen zu trennen» gewesen sei (S. 96). Doch selbst unbeschadet dessen: Die «Rote Fahne» müsse gar «keine eindeutig antisemitischen Aussagen bringen und keine voll entwickelte antisemitische Weltanschauung formulieren […], um auf den Diskurs des modernen Antisemitismus anzuspielen» (S. 50). Kistenmacher übernimmt also gewissermaßen selbst die Interpretationshoheit darüber, was antisemitisch sei. Gleichwohl muss er einräumen, dass es sich «nicht immer eindeutig» sagen lasse, «welche Aussagen zur Zeit der Weimarer Republik als judenfeindlich auffielen» (S. 322). Problematisch wird seine Herangehensweise vor allem, wenn es um den «strukturellen Antisemitismus» geht. Denn schon der positive Bezug der KPD auf den Begriff «Arbeit», die Verwendung der Bezeichnung «Finanzkapitalismus» oder auch eine personifizierte Kapitalismuskritik sind für Kistenmacher antisemitisch. Hier besteht nur noch ein schmaler Grat zwischen Analyse, Fehlinterpretation und bewusster Unterstellung.

    Folgt man dem Autor weiter in seiner Argumentation, kann man letztendlich jeder Partei und Organisation der Weimarer Republik bescheinigen, Anschauungen vertreten zu haben, die strukturell antisemitisch waren – allen voran der Sozialdemokratie, die beispielsweise 1926 gemeinsam mit den Kommunisten einen Volksentscheid zur entschädigungslosen Enteignung des deutschen Adels durchführte. Der Slogan «Keinen Pfennig den Fürsten» war ja geradezu ein Paradebeispiel für personalisierte Kapitalismuskritik. Tatsächlich räumt auch Kistenmacher ein, dass es schwer zu beurteilen sei, «inwieweit die KPD sich in ihren Aussagen über das <jüdische Kapital> oder ihrer Position zum Zionismus von anderen Parteien der Linken oder der Mitte unterschied» (S. 322). Angesichts dessen stellt sich aber die Frage, welche Aussagekraft die Analysekategorie «struktureller Antisemitismus» überhaupt besitzt.

    Zahlreiche Probleme von Kistenmachers Vorgehensweise werden in dem Kapitel über die Intellektuellenfeindschaft in der KPD deutlich. Gleich zu Beginn weist er darauf hin, dass er hier von seiner bisherigen Herangehensweise abgewichen sei, lediglich die «Rote Fahne» zu untersuchen. Denn im KPD-Organ hätten sich schlichtweg «kein Beitrag über <jüdische Intellektuelle>» gefunden (S. 213). Stattdessen geht er einer Bemerkung Hermann Webers nach, wonach in den innerparteilichen Auseinandersetzungen der Jahre nach 1924 eine «antisemitische Grundstimmung» nicht zu übersehen gewesen sei. Auf zahlreiche zeitgenössische Quellen gestützt kommt Kistenmacher dann zu dem überraschenden Schluss, Webers Aussage müsse «relativiert werden». Eine gegen jüdische KPD-Mitglieder gerichtete Stimmung lasse sich nicht nachweisen: «Nach den Aussagen von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen war sie entweder gar nicht vorhanden, oder die antisemitische Grundstimmung war selbst für Betroffene nicht leicht zu erkennen» (S. 223). Angesichts dessen bemüht er sich dann um eine andere Art der Beweisführung. Ziel des restlichen Kapitels ist also die Untersuchung dessen, wie das Feindbild «Intellektuelle» «antisemitische Vorstellungen, beabsichtigt oder nicht, übernimmt, integriert und reproduziert und wie gleichzeitig antisemitische Vorstellungen das Feindbild <Intellektuelle> bestärken, scheinbar begründen und plausibel erscheinen lassen» (S. 225). Leider weiß seine Argumentation keineswegs zu überzeugen. Er benennt Wesensmerkmale des Antisemitismus wie «jüdische Schläue» und versucht eine Wesensgleichheit zur Intellektuellenfeindlichkeit der KPD-Führung zu konstruieren. Wenn er gelegentlich überzeugende Beispiele bringt, stehen sie auf einer sehr dünnen Quellenbasis. Beispielsweise berichtet er davon, dass die Oppositionellen Fischer, Rosenberg und Scholem parteiintern «häufiger» als «Judenbengel» diffamiert worden seien (S. 243). Zeitgenössische Belege hierfür liefert er jedoch nicht, sondern lediglich zwei Briefe von KPD-Mitgliedern, die Jahre bzw. Jahrzehnte später nach den entsprechenden Ereignissen verfasst wurden. Auch wenn beide Quellen seriös sind, sagen sie doch recht wenig über die Quantität solcher Aussagen in der Gesamtpartei aus. Nicht von ungefähr fühlt sich Kistenmacher selbst am Ende des Kapitels genötigt, seine Thesen einzuschränken. Der Zusammenhang zwischen Antiintellektualismus und Antisemitismus sei lediglich «als Tendenz beschrieben (worden), nicht als eine vollständige Übereinstimmung» (S. 246). Er räumt daher ein: «Das Ergebnis dieses Kapitels fällt deutlich spekulativer aus als das der ersten drei Kapitel» (S. 245).

    Hier wird ein Muster deutlich, dass sich durch das ganze Buch zieht. Immer wieder relativiert der Autor seine eigenen Aussagen. Wirklich eindeutig formulierte, zitierfähige Thesen muss man – entgegen den anfänglichen Vermutungen – lange suchen. Dies ist jedoch keineswegs Ausdruck einer besonderen Ausgewogenheit des Buches. Vielmehr liefert Kistenmacher eine sehr spezielle Sichtweise auf die KPD, die mit einer differenzierten Analyse der Parteirealität nur wenig zu tun hat. Er erkennt zwar durchaus die Notwendigkeit, «die Aussagen als Ereignisse in ihrem jeweiligen historischen Kontext zu analysieren» (S. 50). Doch zugleich tut er sich schwer damit: «Es fällt nicht leicht, die Ergebnisse im Kontext der Gesellschaft der Weimarer Republik einzuordnen» (S. 322). Dies ist sehr bedauernswert. Denn zweifelsfrei bringt Kistenmacher in seinem Buch einige interessante Details zutage. Doch für über 300 Seiten Text bleibt der Erkenntnisgewinn eher gering. Die Geschichte der KPD muss jedenfalls nicht neu geschrieben werden.

    [1] Den Posten des Parteivorsitzenden gab es lange Zeit nicht. Die Genannten waren wahlweise Org.-Leiter oder Pol.-Leiter in der Zentrale, später im Zentralkomitee.

    [2] Programmerklärung zur nationalen und sozialen Befreiung des deutschen Volkes (1930), in: Hermann Weber (Hg.): Der deutsche Kommunismus. Dokumente, Köln u. Berlin, Kiepenheuer & Witsch, 1963, S. 58-65. Noch näher an der NS-Rhetorik ist: „Reichen wir einander brüderlich die Hände zur Versöhnung des deutschen Volkes“ – Aufruf des Zentralkomitees der KPD, 15.10.1936. In: Hermann Weber, Jakov Drabkin, Bernhard H. Bayerlein (Hg.): Deutschland, Russland, Komintern, Bd. 2: Nach der Archivrevolution. Neuerschlossene Quellen zur Geschichte der KPD und den deutsch-russischen Beziehungen. Dokumente (1918-1943), Teilband 2, Berlin, München u. Boston, De Gruyter, 2015, S. 1281-1289.

    [3] Werner T. Angress: Die Kampfzeit der KPD 1921–1923, Düsseldorf, Droste, 1973, S. 364-384; Ossip K. Flechtheim: Die KPD in der Weimarer Republik, Hamburg, Junius 1986, v. a. S. 140-142 u. 217-220; Otto Wenzel: 1923. Die gescheiterte Deutsche Oktoberrevolution, Münster, Lit, 2003, S.114-124; Mario Keßler: Die KPD und der Antisemitismus in der Weimarer Republik, in: Utopie kreativ (2005), 173, S. 223-232; Joachim Schröder: Internationalismus nach dem Krieg. Die Beziehungen zwischen deutschen und französischen Kommunisten 1918-1923, Essen, Klartext, 2008, S. 375-381; Marcel Bois: Kommunisten gegen Hitler und Stalin. Die linke Opposition der KPD in der Weimarer Republik. Eine Gesamtdarstellung, Essen, Klartext, 2014, S. 359-365.

    [4] Zuletzt zum Schlageter-Kurs: Ralf Hoffrogge: Der Sommer des Nationalbolschewismus? Die Stellung der KPD-Linken zu Ruhrkampf und ihre Kritik am „Schlageter-Kurs“ von 1923, in: Sozial.Geschichte Online 20 (2017), S. 99-146.

    [5] Kasper Braskén: Willi Münzenberg und die Internationale Arbeiterhilfe (IAH) 1921 bis 1933: eine neue Geschichte. In: Jahrbuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung 11 (2012), 3, S. 57-84, hier S. 79.

    [6] Siehe hierzu Ralf Hoffrogge: Werner Scholem. Eine politische Biografie (1895-1940), Konstanz u. München, UVK, 2014, S. 206-217.

    Olaf Kistenmacher: Arbeit und «jüdisches Kapital». Antisemitische Aussagen in der KPD-Tageszeitung Die Rote Fahne während der Weimarer Republik, Bremen 2016: Edition Lumière (356 S., 44,80 €).

    #Allemagne #histoire #anticommunisme #communisme #sionisme #antisemitisme #wtf

  • Kein Wunder - Was der Putsch im Niger mit dem Ukraine-Krieg zu tun hat
    https://www.rosalux.de/news/id/50860/kein-wunder?pk_campaign=NewsletterAfrika&pk_medium=05%2f2023

    Im Niger ist das Militär seit dem 26. Juli nach einem Putsch der Präsidentengarde wieder an der Macht. Präsident Bazoum Mohamed, seit April 2021 im Amt, hat zwar kein Rücktrittsgesuch eingereicht, ist aber weiterhin in seiner Residenz eingeschlossen, die genau dort liegt wo die Präsidentengarde ihren Sitz hat. Die Ankündigung der Machtübernahme durch das Militär hat viele im Niger und anderswo überrascht, obwohl es sich dabei um ein Ereignis handelt, das für jeden aufmerksamen Beobachter, der die Faszination für die Junta in der Region kennt, absolut vorhersehbar war.

    Moussa Tchangari ist Generalsekretär der Journalist*innenvereinigung Alternative Espaces Citoyens im Niger, mit der die Rosa-Luxemburg-Stiftung seit vielen Jahren zusammenarbeitet.

    In der Tat ist es wichtig zu wissen, dass Niger, wie alle seine Nachbarn, ein Land ist, in dem Militärputsche üblich sind, und der Putsch vom 26. Juli der fünfte in einer Reihe von Putschen ist, die das Land seit seiner Unabhängigkeit am 3. August 1960 erlebt hat. Das Besondere an diesem Putsch war, dass er in einem Umfeld stattfand, in dem nur wenige damit gerechnet hatten, da die üblichen Zutaten für ein solches Ereignis, insbesondere politische oder soziale Spannungen, nicht vorhanden zu sein schienen.

    Wie dem auch sei, die Macht liegt heute in den Händen einer Militärjunta, die nicht beabsichtigt, sie so schnell wieder abzugeben, und das trotz der von der Westafrikanischen Währungsunion (UEMOA) verhängten und von der ECOWAS (Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft) bestätigten Sanktionen sowie der Drohung einer ausländischen Intervention. Die jüngsten Entwicklungen machen deutlich, dass die Junta und ihre Unterstützer hoffen, aus der Empörung und den Ängsten vor einer möglichen Militärintervention durch die ECOWAS Kapital schlagen zu können.

    In Niamey haben seit der Ankündigung der von den Staatschefs der ECOWAS-Mitgliedsländer beschlossenen Sanktionen viele Menschen demonstriert; es besteht die große Gefahr, dass das Land einer schwierigen Zukunft entgegengeht. Der Chef der nigrischen Militärjunta, General Tiani Abdourahamane, hat dies in einer Ansprache an die Nation am Vorabend der Feierlichkeiten zum 63. Jahrestag der Unabhängigkeit des Landes deutlich gemacht. Obwohl er sich der Risiken bewusst ist, die er dem Land aufbürdet, zieht er es offensichtlich vor, darauf zu setzen, dass er sich an der Macht halten kann– wie seine Kollegen in Mali und Burkina Faso, die ihm ihre feste Unterstützung zugesagt haben.

    In den letzten Tagen hat sich die nigrische Militärjunta den Juntas von Mali und Burkina Faso angenähert, die der Ansicht sind, dass eine ausländische Militärintervention in Niger eine Kriegserklärung gegen ihre jeweiligen Länder darstellt. Diese Haltung deutet darauf hin, dass die Führer dieser beiden Länder (Mali und Burkina Faso) sich bewusst sind, dass eine gewaltsame Wiedereinsetzung der gestürzten nigrischen Behörden auch sie in Schwierigkeiten bringen würde. Es ist jedoch fraglich, ob sie die Mittel haben, ihrerseits gegen ein von der ECOWAS entsandtes und wahrscheinlich von anderen Ländern unterstütztes Militärkontingent in den Krieg zu ziehen.

    Die aktuellen Ereignisse in Niger wälzen bereits jetzt schon vieles in der Region um. Es ist klar, dass eine der aufkommenden Fragen sehr wohl die nach dem Verhältnis zum Westen ist. Die nigrische Militärjunta, die weiß, dass nur die Unterstützung der Bevölkerung ein Schutzschild für sie sein kann, hat keine andere Wahl, als sich in die gleiche Richtung wie die Militärs in Mali und Burkina Faso zu bewegen; und so ist auch ihre Entscheidung von gestern Abend zu verstehen, alle Verteidigungs- und Sicherheitsabkommen, die sie in den vergangenen Jahren mit Frankreich unterzeichnet hatte, zu widerrufen.

    In den nächsten Tagen wird die Junta, wenn sie sich denn halten kann, sicherlich einen Schlussstrich unter die guten Beziehungen zu allen westlichen Ländern ziehen, die sie nicht anerkennen; und selbst wenn ihr Vorgehen auch von Russland verurteilt werden wird, wird sie wahrscheinlich hier die Annäherung suchen, so wie es Mali und Burkina Faso ebenfalls getan haben. Das ist jedenfalls der Wunsch vieler, die in den letzten Tagen in Niamey und anderswo im Land demonstriert haben, und man kann das ganze Dilemma ermessen, in dem sich die Regierungen der westlichen Länder befinden, die diesen Staatsstreich nicht haben kommen sehen und die von der Unnachgiebigkeit der Junta verunsichert sind.

    Die aktuellen Ereignisse in Niger deuten darauf hin, dass einige Machthaber in der Sahelzone, sowohl militärische als auch zivile, zu glauben scheinen, dass sie von den Spannungen und Rivalitäten zwischen dem Westen und den aufstrebenden Mächten (Russland, China) profitieren können. Die Tatsachen zeigen, dass sie selbst es sind, die versuchen, die gesamte Region in ein Feld der Konfrontation zwischen diesen rivalisierenden Mächten zu verwandeln. Dabei übersehen sie, dass eine solche Perspektive die Situation nur verschlimmern und die verschiedenen bewaffneten Gruppen stärken würde. Aber gegen diese hat sich die militärische Option bisher immer als wirkungslos erwiesen – egal ob sie nun wie in Niger vom Westen oder wie in Mali von Russland unterstützt wurde.

    Dieser Artikel wurde zuerst bei medico international veröffentlicht.

  • Organizing YouTube - Rosa-Luxemburg-Stiftung
    https://www.rosalux.de/news/id/41394/organizing-youtube

    Im Sommer 2019 ging eine ungewöhnliche Meldung durch die Presse. Die Industriegewerkschaft IG Metall verkündete ihr vermutlich erstes Bündnis mit einer Facebook-Gruppe. Zusammen mit der YouTubers Union, einer 15.000-köpfigen Netzbewegung, gab die größte Gewerkschaft Europas eine Kampagne gegen die Arbeitsbedingungen auf YouTube bekannt. Unter großem Medienecho wurden Forderungen verkündet, Kampagnenvideos veröffentlicht und ein Countdown als Druckmittel geschaltet.

    Eine ungewöhnliche Kooperation

    Verwunderlich schien an der Mitteilung nicht nur, dass sich eine Gewerkschaft der Metall- und Elektroindustrie für die Belange von YouTuber*innen einsetzt. Auch die Frage der Arbeitsbedingungen schien ungewöhnlich: YouTube ist nicht als Arbeitsort, sondern als bunte Social-Media Plattform bekannt. Erstaunlich wirkte auch Jörg Sprave, 53-jährige Symbolfigur und Gründer der YouTubers Union. Spraves Kanal, der über zwei Millionen Abonnenten um sich versammelt, umweht nicht die Atmosphäre transnationaler Arbeitskonflikte. Die Videos, die Sprave vor einer Holzhütte im hessischen Odenwald aufnimmt, drehen sich um den Bau riesiger Steinschleudern und haben Comedy-Charakter.

    Auf einen zweiten Blick liegt die Kampagne jedoch näher. Die Google-Tochter YouTube hat sich im letzten Jahrzehnt zu einer riesigen Arbeitsplattform entwickelt - über 100.000 Menschen verdienen heute auf der Plattform mit Content-Produktion ihren Lebensunterhalt. Die Website hat sich in einen digitalen Marktplatz verwandelt, auf dem YouTuber*innen um die Aufmerksamkeit ihres Publikums buhlen. Wer viele Aufrufe generiert, bekommt dabei Werbe-Einnahmen von YouTube ausbezahlt. Die Hobby-Ästhetik der Plattform verdeckt dabei die verschärften Arbeitsbedingungen, unter denen dieser Wettbewerb stattfindet.

    Prekäre Arbeitsbedingungen auf YouTube

    Wer auf YouTube Erfolg haben möchte, muss sich heute den kaum durchschaubaren Regeln von YouTube‘s «Recommendation Engine» anpassen – einem algorithmischen Empfehlungssystem, dessen Parameter sich täglich ändern können. Die Wahl der Titel-Stichworte, die Anzahl neuer Videos pro Woche und selbst die Verwendung von Umgangssprache kann sich dabei auf den Erfolg eines Kanals auswirken. Wer dabei als «nicht werbefreundlich» eingestuft wird, kann in wenigen Wochen sein Einkommen verlieren.

    Während die eng getakteten Regeln auf YouTube verstärkt einem Fließband für Kreativarbeit gleichen, ist das Arbeitsverhältnis der «Creators» von Regellosigkeit geprägt. Als formal Selbstständige besitzen sie weder ein Recht, falsche Sanktionen anzufechten, noch haben sie Ansprüche auf soziale Absicherung. Die Abwehr von Willkür und Prekarität erfolgt nach den Regeln eines entsicherten, digitalen Kapitalismus: Fehlentscheidungen werden erst korrigiert, wenn genügend Nutzer*innen auf Twitter Alarm schlagen, interne Abläufe laufen ins Nichts. Wer einen Krankheitsfall erlebt, kann schnell aus dem Geschäft sein, der psychische Druck ist mitunter hoch. Nur wer sich diesen Bedingungen anpasst, kann auf YouTube profitieren.
    Einkommensausfall ohne Warnung

    Jörg Sprave, Symbolfigur und Gründer der YouTubers Union, war von dieser Entwicklung selbst betroffen. Nachdem sein Kanal im Frühjahr 2017 als «Waffen-Content» eingestuft wurde, sank sein Einkommen aus Videowerbung von 6000 auf 1500 Dollar im Monat. Genauso ging es anderen YouTuber*innen: wer vom Algorithmus als problematisch eingestuft wurde, konnte sogar seinen Kanal verlieren. Grobe Fehlentscheidungen sind dabei weit verbreitet. In diesem Jahr wurde bekannt, dass Wörter wie ‚gay‘ und ‚trans‘ im Videotitel zur Einschränkung der Werbequalifizierung führen können – eine Dynamik die zeigt, wie weit entfernt von der selbsterklärten Neutralität digitale Plattformen sind.

    Spätestens mit den schärferen Content-Kontrollen, die YouTube seit 2017 durchführt, wurde die gemeinsame Organisierung für YouTuber*innen zum Thema. Im Frühjahr 2018 rief Sprave daher die YouTubers Union als Facebook-Gruppe ins Leben, mehr als 15.000 Nutzer*innen traten bei. Nicht alle davon sind selbst Creators; bewusst wurden auch die Nutzer*innen der Plattform eingeladen, von deren Traffic YouTube’s Geschäftsmodell lebt.
    Gründung 2018 mit 15.000 Mitgliedern

    Obwohl die Facebook-Gruppe als Form neu ist, ähnelt die Praxis der Gruppe auch einer klassischen Organisierung: sie stimmt über gemeinsame Forderungen ab, organisiert Mitgliederbefragungen, sogar digitale Mitgliedsausweise werden zeitweise ausgegeben. Als Sprave ein Video über YouTube’s Empfehlungsalgorithmus veröffentlicht, reagiert das Unternehmen. Auf Einladung reist er zu Treffen mit YouTube nach Zürich und ins Silicon Valley, bringt die Anliegen der Gruppe vor. Mehr als Lippenbekenntnisse erntet er aber nicht. Die Schwächen der YouTubers Union werden dabei schnell klar: sie hat kein rechtliches Mandat und ist auf informelle Gespräche angewiesen. YouTube vermeidet strategisch, mit der Gruppe kollektiv zu verhandeln.

    Informelle Gespräche mit YouTube

    Als Gesprächspartner kommt schließlich die IG Metall ins Spiel. Die Gewerkschaft hat mit «Fair Crowdwork» bereits 2016 ein Portal für Plattform-Arbeit eröffnet und ist seit einigen Jahren auch für Selbstständige offen. Ihr Standing als mitgliederstarke Gewerkschaft, mit rechtlicher Expertise und finanziellen Ressourcen sind für Sprave gute Argumente eine Kooperation einzugehen.

    Gemeinsam starten die IG Metall und die YouTubers Union schließlich FairTube, eine öffentliche Kampagne für die Belange der YouTuber*innen. In erster Linie wird Transparenz gefordert: YouTube soll die Bedingungen offenlegen, zu denen produziert werden darf. Außerdem fordert FairTube eine unabhängige Schlichtungsstelle für Streitfälle und eine Chancen auf Mitbestimmung. Gedroht wird mit Klagen auf Scheinselbstständigkeit, auf Datenrechtsverstöße nach der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) und mit öffentlichen Shitstorms, sollte YouTube nicht einlenken. Ein 30-tägiger Countdown stellt das Unternehmen vor die Wahl – gemeinsame Gespräche oder ein Arbeitskampf auf die Plattform.
    Kampagne «FairTube» im Sommer 2019

    Von Anfang an löst die Kampagne viel Echo aus: Von der Tagesschau bis zur Washington Post wird berichtet, und die Gruppengröße verdoppelt sich nahezu. YouTube selbst sieht schließlich sich zu Stellungnahmen gezwungen: «We’re deeply invested in creators’ success, that’s why we share the majority of revenue with them» erklärt das Unternehmen schließlich mehrmals auf Nachfrage. Am letzten Countdown-Tag reagiert das Unternehmen auch offiziell auf die Kampagne: Eine Einladung zum Gespräch von Google Deutschland geht bei der IG Metall ein. Einige Tage vor dem Treffen verkündet Google aber, dass Mitglieder der YouTubers Union nicht erwünscht sind, der Termin platzt. Seitdem herrscht Kampfbereitschaft: Die IG Metall prüft rechtliche Schritte und die YouTubers Union bereitet «Shitstorms» vor, öffentliche Aktionen, die den Ruf des Unternehmens weiter drücken sollen.
    Arbeitskonflikte auf Plattformen nehmen zu

    Auch wenn der Konflikt auf YouTube durchaus ungewöhnlich ist, sind Arbeitskonflikte auf Plattformen keine Seltenheit mehr. Der Markt für Arbeit auf digitalen Plattformen ist in den letzten Jahren enorm gewachsen: Lieferdienste, Reinigungs- und Taxi-Services werden heute vermehrt über Plattformen vermittelt. Dabei wird jedoch selten Arbeit neu erfunden oder automatisiert, wie viele Unternehmen suggerieren. Für Dienstleister ist die Plattform ein Weg, Arbeit outzusourcen und dabei algorithmisch zu kontrollieren. Mit der Vergrößerung der Märkte auf Plattformen sind dabei auch die Konflikte gestiegen. Seit 2016 haben sich Kurierdienst-Fahrer*innen in Europa erstmals organisiert, und Arbeiter*innen bei Taxi-Diensten wie Uber konnten 2019 eine Gesetzesänderung in Kalifornien mit erkämpfen. Mit der YouTubers Union zeigt sich nun die Organisierung auf einer Plattform, die nicht über einen lokalen Kundenmarkt funktioniert.

    Feststellen lässt sich an diesen Konflikten, dass auch algorithmische Kontrolle die Möglichkeit zur Organisierung nicht ausschalten kann. Zweckentfremdung von Betriebs-Chats, Sabotage der Schichtsysteme und strategische Streiks haben sich in einigen Bereichen als Mittel bewährt. Die zentralen Hebel von Arbeiter*innen sind aber oft nicht der Entzug der eigenen Arbeitskraft, sondern öffentlicher Druck und das Einklagen rechtlicher Standards. Gerade für Startups hängt der Marktwert auch am Ruf in der Öffentlichkeit, schlechte Presse über Arbeitsbedingungen können dabei ein Druckmittel sein. Viele Arbeitspraktiken sind zudem illegal nach geltendem Recht, stellen etwa eine Scheinselbstständigkeit dar oder verstoßen gegen Datenschutz-Vorgaben.
    Die Regulierung des kommerziellen Internets

    Konflikte um Regulierung und öffentlicher Druck sind besonders für YouTube keine Neuigkeit. Konnte sich der Social-Media Gigant bis vor wenigen Jahren noch als Tool zur Demokratisierung der Kulturproduktion feiern lassen, haben die Konflikte um die Plattform spätestens seit dem US-Wahlkampf 2016 zugenommen. YouTube’s Empfehlungsalgorithmus, der Zuschauer*innen auf der Plattform halten soll, wurde als «Radikalisierungs-Pipeline» bekannt: Verschwörungstheorien, Alt-Right Kanäle und Fake News breiten sich strukturell auf der Plattform aus, auch weil sie zuverlässig für Traffic auf der Plattform sorgen.

    Dazu kam auch Ärger von Werbekonzernen: diese wollten nicht mehr mit den kontroversen Inhalten werben, die vermehrt auf YouTube empfohlen wurden. Kürzlich wurde auch von der US-Handelskommission FTC Regulierung angekündigt, die YouTube die Datensammlung von Kindern erschwert und das Geschäftsmodell der Plattform beschneidet. Es ist also nicht die schlechteste Zeit, einen Kampf um die Struktur des Unternehmens zu führen. Anliegen wie das der YouTubers Union werden dabei verschärft durch die Proteste von Arbeiter*innen in der Google-Zentrale und bei Subkontraktoren, die bis in den US-Wahlkampf hinein eine Rolle spielen.
    Neue Formen der Organisierung

    Mit der Skandalisierung der prekären Arbeitsbedingungen konnte die YouTubers Union bis jetzt durchaus Aufsehen auf der Plattform erregen. Das zeigt auch das Vorgehen von YouTube, das sich nun strategisch um mehr Transparenz und Feedback-Kultur bemüht. Wie erfolgreich die Bemühungen mittelfristig bleiben, ist abzuwarten. Auffällig an der Organisierung ist, dass in der YouTubers Union Arbeiter*innen und Konsument*innen gemeinsam agieren. Auf YouTube stehen beide Gruppen in einer engen Symbiose, dieses Verhältnis kann in der Organisierung als Ressource eingesetzt werden. Während sich eine Klassenidentität wie in den Fabriken des industriellen Kapitalismus sicher nicht beobachten lässt, eint viele Mitglieder der Union aber die Erkenntnis, dass ihre Interessen denen von YouTube gegenüber stehen. Diese Einstellung, die sich von der harmonischen Ideologie der neutralen Plattform abgrenzt, bricht ein wirkmächtiges Paradigma des Silicon Valley auf.
    Risiken und Schwachpunkte

    Es zeigen sich aber auch Risiken und Schwachpunkte. Viele große YouTuber*innen sind der Bewegung bislang fern geblieben. Das kann auch daran liegen, dass sich eine kuriose Mischung aus Mitgliedern in der Gruppe tummelt. Neben Kanälen über Gärtnerei oder Meditation finden sich auch viele Kanal-Betreiber*innen in der Grauzone des auf YouTube Erlaubten. Auch rechte Trolls finden sich in der Gruppe, obwohl die Moderation einschreitet. Weniger sichtbar sind Kanäle aus dem LGBTQ-Spektrum, die von den Veränderungen auf YouTube stark betroffen waren. Hier könnten Bündnisse möglich sein. Mit einer Sammelklage queerer YouTuber*innen hat die FairTube-Kampagne bereits ihre Solidarität bekundet.

    Mit der basisdemokratischen Organisierung mancher Lieferdienst- oder Uber-Fahrer*innen deckt sich die Dynamik der YouTubers Union nicht. Der Gruppengründer Sprave hat nicht nur eine wichtige Symbolfunktion, sondern als Moderator auch viel Einfluss in der Facebook-Gruppe. Darin spiegeln sich jedoch auch die Machtunterschiede auf YouTube selbst: große Creators haben enormen Einfluss und Reichweite, kleine Kanäle sind kaum sichtbar.

    Offen ist auch, ob sich die YouTubers Union langfristig als kollektive Bewegung etablieren kann, oder ob sie sich zur strategischen «Single Person Organizations» (Geert Lovink) ohne bleibenden Zusammenhalt entwickelt. Die Organisierung wirft auch die Frage auf, wie progressive Kämpfe um Medien-Plattformen im Lichte von rechten Kulturkämpfen geführt werden können.

    Regulierung als Gestaltungsfeld

    Das von vielen Seiten geführte Ringen um YouTube‘s Struktur zeigt, dass das Unternehmen mehr ist als eine Social-Media-Plattform mit privatisiertem Arbeitsmarkt. Als zentrale Sphäre öffentlicher Kommunikation stellt sie zunehmend eine Infrastruktur dar, über die auch mediale und politische Hegemoniefragen ausgehandelt werden. Vor diesem Hintergrund sollten die kommenden Regulierungsbemühungen in Europa, den USA und weiteren Ländern beobachtet werden. Hier können, wie das Beispiel der kalifornischen AB5-Regulierung zeigt, in den nächsten Jahren Standards gesetzt werden. Um diese sollte mitgekämpft werden – auch zum Thema Arbeit.

    Valentin Niebler ist Soziologe und forscht zu Konflikten in der Plattformökonomie. Er ist Mitglied des Zentrums für emanzipatorische Technikforschung (ZET).

    #Allemagne #Youtube #disruption #travail #syndicalisme

  • Gefängnisstrafe für griechische Neonazis
    https://diasp.eu/p/11764688

    Gefängnisstrafe für griechische Neonazis

    Schuldig! Die Führungsriege der griechischen Neonazi-Partei #GoldeneMorgenröte wurde heute, in einem fünf Jahre dauernden Gerichtsprozess, wegen der Führung einer kriminellen Vereinigung schuldig gesprochen.

    Sieben frühere Abgeordnete, darunter auch Parteichef und Holocaustleugner Nikos Michaloliakos, drohen bis zu zehnjährige Haftstrafen. Vor dem Gerichtsgebäude jubeln und applaudieren nach der Urteilsverkündung 8.000 Demonstrierende.

    Die Hintergründe des Gerichtsverfahrens beleuchtet für uns der griechische Anwalt Thanasis Kampagiannis.

    📌 https://www.rosalux.de/news/id/43052

    CC BY-NC-SA 4.0, DTRocks, via Wikimedia (...)

  • Ausgeliefert oder widerständig? - RLS
    https://www.rosalux.de/news/id/41456/ausgeliefert-oder-widerstaendig

    von Pascal Meiser - Wie sehen die Arbeitsbedingungen im Bereich der Paketdienste aus?

    Im gesamten Postsektor haben sich seit der Postprivatisierung die Arbeitsbedingungen und die Entlohnung massiv verschlechtert. Mit dem Boom des Online-Handels hat sich diese Entwicklung noch verschärft. Zwischen 2009 und 2017 ist der mittlere Bruttolohn in der Brief- und Paketbranche nominal um über 13 Prozent gesunken. Der mittlere Lohn in der Branche liegt so mittlerweile 30 Prozent unter dem mittleren Lohn in der Gesamtwirtschaft.

    Besonders dramatisch ist die Entwicklung in der Paketzustellung. Aber auch hier ist die Entwicklung keineswegs einheitlich. Während es bei DHL und UPS noch Tarifverträge gibt und DHL seine Pakete weitestgehend von eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zustellen lässt, lassen Hermes, DPD und GLS ihre Aufträge von Subunternehmen erledigen. Zum Teil haben sich dort richtige Subunternehmerketten gebildet, die im Extremfall auch vor offen kriminellen Praktiken nicht zurückschrecken. Am Ende solcher Subunternehmerketten arbeiten oft aus dem Ausland nach Deutschland entsandte Beschäftigte oder Scheinselbständige und dies zu teilweise skandalösen Bedingungen.

    Pascal Meiser ist Bundestagsabgeordneter der LINKEN und Mitglied im Ausschuss für Wirtschaft und Energie, sowie stellvertretendes Mitglied im Ausschuss für Arbeit und Soziales.

    Insgesamt ist der Alltag der Paketzustellerinnen und Paketzusteller von einer hohen Arbeitsbelastung gekennzeichnet. Oft müssen sie täglich zwischen 150 und 230 Pakete sortieren, einräumen, zustellen und am Ende des Tages die nicht zustellbaren Pakete zurück in die jeweiligen Paketshops bringen. In den Innenstädten sind sie zudem bei der Auslieferung der Pakete oft gezwungen, ihre Fahrzeuge auf der Fahrbahn stehen zu lassen, zum verständlichen Ärger anderer Verkehrsteilnehmerinnen und Verkehrsteilnehmer, den diese dann nicht selten an den Zustellerinnen und Zustellern auslassen. Der so entstehende Dauerstress drückt sich nicht zuletzt in einem auffällig hohen Krankheitsstand von durchschnittlich zwei Tagen im Monat aus.

    Amazon hat als Monopolist großen Einfluss auf die Bedingungen in der Paketbranche. Jetzt ist Amazon mit Amazon Logistics auch stark im Paketdienst eingestiegen. Welche Gefahr geht davon aus?

    In der Tat: Wer über die miesen Arbeitsbedingungen bei den Paketunternehmen redet, der darf nicht über die Rolle von Amazon und Co. schweigen. Denn sie sind es, die massiven Druck auf die Paketunternehmen ausüben, die Kosten für die Auslieferung von Paketen immer weiter zu drücken.

    Wenn Amazon und andere Online-Händler jetzt zudem eigene Zustelldienste aufbauen, in denen Lohndrückerei, Subunternehmerketten und Scheinselbständigkeit an der Tagesordnung sind, setzt dies die bestehenden Paketunternehmen zusätzlich unter Druck. Der Vorstand der Deutschen Post geht schon jetzt von erheblichen Gewinnverlusten aufgrund von Amazons Umstellung auf eigene Zustelldienste aus. Wer die Arbeitsbedingungen in der Paketbranche verbessern will, der muss also auch die Regulierung der großen Online-Händler angehen.

    Bei Amazon kämpfen die Beschäftigten seit mittlerweile mehr als sechs Jahren für einen Tarifvertrag. In den USA gibt es auch auf der politischen Ebene stärkere Gegenwehr gegen das Geschäftsgebaren von Amazon. Was muss die Politik hier in Deutschland tun? Wie kann sich die gewerkschaftliche und die politischen Auseinandersetzung ergänzen?

    Die Beschäftigten und ihre Gewerkschaften, die auch in Deutschland schon seit Jahren für gute Arbeitsbedingungen bei Amazon kämpfen, könnten eine stärkere Unterstützung aus der Politik gut gebrauchen. Eine Abschaffung der Befristungen ohne Sachgrund oder auch eine strikte Begrenzung der Leiharbeit wären hier wichtige erste Schritte, die den Beschäftigen das Kämpfen und Streiken für einen Tarifvertrag deutlich erleichtern würden.

    Aber auch darüber hinaus bleibt die umfassende Regulierung des Online-Handels eine der großen Herausforderungen der kommenden Jahre. Das gilt für die ordnungsgemäße Zahlung von Steuern, das gilt für die Produktqualität und den Verbraucherschutz, das gilt für einen umfassenden Datenschutz und das gilt letztlich auch für die Frage, ob wir es zulassen wollen, dass die digitalen Marktplätze der Zukunft von einigen wenigen Online-Konzernen beherrscht werden, die dann allen anderen die Spielregeln diktieren können. Das wird alles andere als ein Spaziergang, wenn man sich anschaut, wie groß die wirtschaftliche Macht und der politische Einfluss von Amazon und Co. schon heute ist. Aber es lohnt sich dafür zu kämpfen.

    Was haben die neuen Regulierungen von Arbeitsminister Heil gebracht? Was müsste konkret getan werden?

    Das sogenannte Paketboten-Schutz-Gesetz, das am 15. November 2019 in Kraft getreten ist, schreibt fest, das künftig die großen Paketdienstleister für die ordnungsgemäße Zahlung von Sozialversicherungsbeiträgen bei ihren Subunternehmen haften. Für die ordnungsgemäße Zahlung des Mindestlohns gilt diese Nachunternehmerhaftung ja bereits von Anfang an und auch die Neuregelung in der Paketbranche ist ein kleiner Schritt in die richtige Richtung. Aber sie lässt weiterhin eine Reihe von Schlupflöchern. So fehlt zum Beispiel eine Verpflichtung für die Paketunternehmen, die geleisteten Arbeitszeiten tagesaktuell dokumentieren und vor Ort zur Einsicht mitführen zu müssen. Ohne eine solche Verpflichtung lassen sich die bestehenden Pflichten des Arbeitgebers aber überhaupt nicht wirkungsvoll kontrollieren. Deshalb hatte zuletzt auch der Bundesrat eine strenge Dokumentationspflicht gefordert.

    Unabhängig davon ist aber auch klar, dass die Nachunternehmerhaftung für die Branche bestenfalls ein Tropfen auf den heißen Stein bleibt. Wir brauchen dringend effektive Instrumente zur Durchsetzung bestehender Lohnansprüche wie zum Beispiel ein Verbandsklagerecht für Gewerkschaften, um diejenigen Paketbotinnen und Paketboten, die ihre Rechte nicht aus eigener Kraft geltend machen können, besser unterstützen zu können. Wir müssen die ausufernde Scheinselbständigkeit in der Branche eindämmen, indem hier die Beweislast umgekehrt und somit bei entsprechenden Anhaltspunkten erst einmal davon ausgegangen wird, dass es sich um ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis handelt. Als LINKE wollen wir zudem, dass die Erlaubnis zur Zustellung von Paketen an das Vorliegen einer qualifizierten Lizenz gekoppelt wird, wie dies bei der Briefzustellung bereits der Fall ist. Diese Lizenz soll an die Einhaltung bestimmter Arbeits- und Sozialstandards gebunden werden und die Weitergabe von Aufträgen auf die Abarbeitung von Auftragsspitzen begrenzen.

    Was können Kund*innen machen? Was macht DIE LINKE?

    Als LINKE werden wir den Kampf der Beschäftigten in der Paketbranche und im Online-Handel weiter aktiv unterstützen. Mit entsprechenden Anträgen im Deutschen Bundestag, aber auch indem wir die Protestaktionen und Streiks der betroffenen Beschäftigten vor Ort solidarisch zu unterstützen, so wie wir es bei Amazon bereits seit Jahren tun.

    Im Kleinen kann sich aber auch jede Kundin, jeder Kunde solidarisch zeigen. Das fängt mit einem freundlichen Wort für die Paketbotinnen und Paketboten an, wenn die ein Paket abliefern, und dass man möglichen Unmut über eine unzuverlässige Zustellung nicht an denen auslässt, die am wenigsten dafür können. Und klar, wenn man die Wahl hat, ist es natürlich immer gut, ein Unternehmen zu beauftragen, das einen Tarifvertrag hat und möglichst wenig auf dubiose Subunternehmen setzt. Nach aktuellem Stand sieht es da bei DHL am besten aus.

    Wäre die Rekommunalisierung der Post- und Paketdienste eine richtige Forderung?

    Ob und wie die Zustellung von Briefen und Paketen wieder in öffentlicher Verantwortung organisiert werden kann, müssen wir aus meiner Sicht in jedem Fall dringend diskutieren. Es ergibt doch so keinen Sinn, wenn täglich ein halbes Dutzend Paketwagen die gleichen Straßen versorgen und verstopfen. Und das in Zeiten, in denen allerorten über den Klimawandel diskutiert wird! Aber auch Kundinnen und Kunden müssen sich wieder darauf verlassen können, dass das Postgeheimnis gewahrt wird und Sendungen zuverlässig ihr Ziel erreichen. Ein einheitlicher Postdienstleister in öffentlicher Hand mit hohen Qualitätsstandards und einer starken Mitbestimmung der Beschäftigten böte vermutlich die beste Chance, dass der Wahnsinn in der Branche ein Ende findet.

    Der Weg dahin ist angesichts der bestehenden Mehrheitsverhältnisse allerdings weit. Von daher sollten wir auch über alternative Ansätze diskutieren. Zum Beispiel über die Idee, die Zustellung auf der so genannten letzten Meile, also die abschließende Zustellung bis an die Haustür, ausschließlich in kommunaler Hand vornehmen zu lassen. Hier sind noch viele rechtliche und betriebswirtschaftliche Fragen zu klären, aber ich finde das durchaus einen spannenden Ansatz für eine nach vorne gerichtete linke Kommunalpolitik in den städtischen Zentren.

    Über die Kreditanstalt für Wiederaufbau hält der Bund noch 21% der Anteile an DHL. Ist es da nicht die Aufgabe der öffentlichen Hand die Standards in der Branche zu erhöhen?

    Ja, der Bund ist immer noch Minderheitseigentümer der Deutschen Post AG und somit auch der DHL. Doch diesen Einfluss nutzt die Bundesregierung allem Anschein nach nicht, um sich für die Arbeitsbedingungen der dortigen Beschäftigten einzusetzen. Als Anteilseigner scheint auch sie in erster Linie an den Einnahmen für den Staatshaushalt interessiert. Was allerdings noch schwerer wiegt, ist, dass insbesondere Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier nichts dafür tut, die Paketbranche insgesamt ordentlich zu regulieren. Und das ist eigentlich dringend notwendig! Denn letztlich kann sich auch die DHL nicht dem Konkurrenzdruck im Paketmarkt entziehen, wenn sich ihre Konkurrenten ungehindert mit Dumpinglohmodellen Kostenvorteile verschaffen. Doch statt diese Probleme anzugehen, will Herr Altmaier den Paketsektor jetzt tatsächlich zum Vorbild für den Briefmarkt machen und zudem am liebsten auch noch die verbliebenen Anteile an der Deutschen Post AG privatisieren. Das alles zeigt: mit der aktuellen Bundesregierung werden sich die tiefsitzenden strukturellen Probleme im Postbereich nicht lösen lassen, weder im Sinne der Zustellerinnen und Zusteller noch zur Zufriedenheit der großen Mehrheit der Kundinnen und Kunden.

    Pascal Meiser ist Bundestagsabgeordneter der LINKEN und Mitglied im Ausschuss für Wirtschaft und Energie, sowie stellvertretendes Mitglied im Ausschuss für Arbeit und Soziales.

    #Allemagne #travail #numérisation

  • Helpling – Vermittlung von Putzkräften online - Service oder Ausbeutung? - RLS
    https://www.rosalux.de/news/id/41393/helpling-vermittlung-von-putzkraeften-online

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    Mit diesen Worten wirbt die digitale Putzplattform Helpling im Internet um potentielle Kund*innen. Das Produkt ist: Reinigungskräfte über eine App bestellen. Dabei verdient das Unternehmen an einer Vermittlungsgebühr, die bei einmaliger Buchung beachtliche 32 Prozent und bei mehrmaliger Buchung immerhin noch 25 Prozent des Gesamtpreises des Reinigungsauftrags beträgt. Helpling lässt sich damit in die Reihe der Start-ups einordnen, die in den letzten Jahren überall aus dem Boden gesprossen sind und mit App-basierter Vermittlung von Dienstleistungen Geld verdienen. Neben Book a Tiger, die wie Helpling Putzkräfte vermitteln, sind weitere bekannte Beispiele dafür Uber, mit der Vermittlung von Fahrdienstleistungen, sowie Deliveroo und Foodora, mit der Vermittlung von Essenslieferungen. Die Unternehmen werben mit Schnelligkeit und Einfachheit, die Arbeiter*innen zahlen den Preis.

    Denn: Die Anbieter*innen der Dienstleistungen sind zumeist nicht beim Unternehmen angestellt, sondern agieren auf eigene Rechnung, als Solo-Selbstständige. Dabei ist umstritten, ob es sich bei diesem Verhältnis von selbstständigen Arbeitskraftanbieter*innen und digitaler Plattformen überhaupt um ein rechtlich legitimes handelt. Während die Plattformen ihre Auftraggeberschaft verneinen und sich in keinem Fall als Arbeitergeber*innen, sondern als Marktplatz verstanden wissen wollen, sprechen Kritiker*innen aufgrund der restriktiven Vorgaben durch die AGBs – zum Beispiel bei der Preisgestaltung – von großen Abhängigkeiten und Scheinselbstständigkeit. Die Anbieter*innen würden keineswegs als «frei» im Sinne der Selbstständigkeit agieren. Vor dem Hintergrund dieser Diskussion hat Helpling nach etwa zwei Jahren das Preissystem flexibilisiert – wohl nicht zuletzt, um dem Verdacht der Scheinselbstständigkeit entgegenzuwirken. Ob dies rechtlich Bestand hat, kann noch als unklar gelten.

    Der Text wurde zuerst veröffentlicht in der Broschüre «Sieht so aus, als würde niemand drei Euro mehr zahlen wollen». Die Broschüre wurde von der Rosa-Luxemburg-Stiftung gefördert und kann als PDF runtergeladen werden, weitere Informationen finden sich im begleitenden Blog «Putzen ist Arbeit».

    Ausgangspunkt unserer Online-Umfrage ist nun, dass die Arbeitsbedingungen bei Helpling nach wie vor schlecht sind und wir uns darüber ärgern! Den Kund*innen und Auftraggeber*innen der Reinigungsdienstleistung wird weitgehend entgegengekommen, während die selbstständigen Putzkräfte in vielerlei Hinsicht das Nachsehen haben: Jenseits eingeschränkter Möglichkeiten die Preise festzusetzen, die auf niedrige Nettoeinkommen hinauslaufen, und der hohen Vermittlungsgebühr, an der Helpling verdient, sind auch die Arbeitsbedingungen, wie unsere Umfrage zeigt, schlecht.

    Darüber hinaus werden die Arbeiter*innen durch bestimmte Anwendungsfunktionen der Helpling-App oder im Rahmen der Werbekampagnen mehr als Objekt, denn als fachkundige Arbeiter*innen oder Unternehmer*innen angepriesen. Beispielsweise können die Putzkräfte nach getanem Putzen von den Kund*innen – ähnlich wie im Online-Handel für Sachobjekte üblich – mit Sternchen bewertet werden. Nur die Kund*innen können die Putzkräfte bewerten; anders herum ist das technisch mit der Helpling-App nicht möglich. Diese Form der einseitigen Objektivierung finden wir entwürdigend!

    Auch muten uns die Werbekampagnen der Putzplattform erschreckend sexistisch, klassistisch und rassistisch an. So hat Helpling lange Zeit das Konterfei eines Dienstmädchens aus dem 19. Jahrhundert als Logo verwendet und damit die mit der Dienstmädchenarbeit verbundenen Arbeitsbedingungen und Abhängigkeiten affirmativ vermarktet. Das ist schlimm, bedenkt man die Verhältnisse unter denen Dienstmädchen im 19. Jahrhundert arbeiten mussten. Genauso schlimm muten die Video-Werbekampagnen «Mission To Clean» oder «Mut zum Chaos» an, die online angeschaut werden können.

    All das hat uns sehr geärgert! Wir selbst haben zum Teil für Helpling gearbeitet und beschäftigen uns mit der gesell-schaftlichen Abwertung und Unsichtbarkeit von Care-Arbeit (care heißt: sich kümmern, sich sorgen). Wer putzt, kocht, sorgt und kümmert sich um die Kinder und Beziehungsarbeit in einer Gesellschaft? Care-Arbeit wird immer wieder als einfache, nicht produktive Arbeit dargestellt und damit entwertet. Mit der Vorstellung, dass die Tätigkeit leicht sei und lediglich bestimmte charakterliche – als «weiblich» geltende – Merkmale wie Einfühlsamkeit und Sorgfalt voraussetzen würde, geht einher, dass Frauen* diese Aufgaben als erstes angetragen werden. Lange waren deswegen vor allem Frauen* für die Care-Aufgaben zuständig. Seitdem nun ver-meintlich höher qualifizierte Frauen* für den Facharbeitsmarkt als wichtige Arbeitsmarktressource entdeckt wurden, werden diese politisch in der Auslagerung ihrer Care-Aufgaben an einen Putzarbeitsmarkt unterstützt. Dieses Privileg wird allerdings nicht allen zuteil: Diskriminierende gesellschaftliche Strukturen führen dazu, dass oft migrantische Frauen* und Frauen* aus der Arbeiter*innenschicht diese Arbeit zu schlechten Konditionen übernehmen müssen. Egal wie viel diese selbst Lohnarbeiten– die eigene Care-Arbeit müssen sie ohne Unterstützung selbst erledigen.

    Was nicht passiert, ist dieser Arbeit endlich mehr Wertschätzung entgegen zu bringen und sie würdig zu bezahlen. Eine Angleichung an die Entlohnung ihrer Auftraggeber*innen erschiene uns dabei mehr als gerecht. Denn Care-Arbeit kann nicht hoch genug geschätzt werden. Sie ist nicht nur Voraussetzung für ein «Well-Being», sondern konstitutiv für sämtliche gesellschaftlichen sowie ökonomischen Verhältnisse überhaupt.[8] Diese Arbeit angemessen zu bezahlen, da-für mehr Anerkennung und Zeit zu schaffen, ist längst überfällig. Unserer Ansicht nach ist Helpling dafür allerdings der falsche Weg: Das Start-up ist kein Schritt nach vorn in eine emanzipatorische Zukunft, sondern einer zurück in die Abwertungsspirale der Care-Arbeit sowie in die Prekarität und Unsicherheit der Dienstmädchentätigkeit des 19. Jahrhunderts. Dass dies nicht so bleiben kann, versteht sich von selbst!

    Ziel unserer Umfrage war es, ein erstes Stimmungsbild unter den Arbeiter*innen bei Helpling zu gewinnen und erste Kontakte zu knüpfen. Das ist zunächst einmal gar nicht so einfach, denn die Putzkräfte bei Helpling trifft man nicht einfach so. Sie arbeiten digital vermittelt über die Plattform und vereinzelt im Verborgenen der privaten Haushalte. Anders als die Essenslieferant*innen von Deliveroo und Foodora, die sogenannten «Riders», die sich auf der Straße erkennen und organisieren können, sind Reinigungskräfte in den privaten Haushalten füreinander unsichtbar. Aus diesem Grund haben wir uns dafür entschieden eine digitale Umfrage zu starten, die wir im Oktober 2018 vor allem per Mail an verschiedene Organisationen, Institutionen und Privatpersonen verschickt haben, die mit Putztätigkeiten, Care-Arbeit oder der Organisierung von Arbeiter*innen zu tun haben. Auch haben wir unseren Fragebogen «Mehr Geld fürs Putzen» über Facebook präsentiert. Die Umfrage konnte über unseren Blog «Putzen ist Arbeit» in drei Sprachen abgerufen werden. Alle, die bis Januar 2019 an der Online-Umfrage teilgenommen haben, werden in der vorliegenden Zusammenstellung der Ergebnisse berücksichtigt. Dabei stützen wir unsere Auswertung auf 14 Teilnehmer*innen des Fragebogens, die unserer Meinung nach sicher bei Helpling arbeiten. Die Anzahl der Teilnehmer*innen ist zwar nicht repräsentativ, zeigt aber Spuren auf, die es lohnt zu verfolgen. Unsere Diagramme sind also unter großem Vorbehalt zu betrachten, bringen aber möglicherweise eine Tendenz zum Ausdruck. Unterstützt werden die Äußerungen zumeist durch umfangreiche Kommentierungen in den Kommentarspalten, die weitere spannende Einblicke liefern.

    Die Ergebnisse zeigen kaum überraschend: Helpling is not helping! Vor allem die hohe Vermittlungsgebühr, der niedrige Lohn, die einseitige Serviceorientierung des Unternehmens an den Kund*innen sowie die hohen Risiken und Unsicherheiten, die mit der anonymen Arbeitsvermittlung und der Tätigkeit im privaten Haushalt einhergehen, werden von unseren Befragten angefochten. Gefordert wird: Mehr Lohn, Soziale Absicherung, mehr Sicherheit und eine Plattform, die sich hinter ihre Arbeiter*innen stellt!

    #Allemagne #travail #numérisation

  • Auch am Tag nach der Wahl weiß noch niemand, wer Schweden in den ko...
    https://diasp.eu/p/7716911

    Auch am Tag nach der Wahl weiß noch niemand, wer Schweden in den kommenden vier Jahren regieren wird. Die beiden traditionellen Koalitionen haben ein annähernd gleiches Ergebnis erzielt. Die Schwedendemokraten erzielten ein schwächeres Ergebnis als erwartet – wie auch die Linkspartei.

    Petter Nilsson und Rikard Warlenius blicken auf die Parlamentswahlen in #Schweden. https://www.rosalux.de/news/id/39271

  • Die smarte Stadt neu denken - RLS
    https://www.rosalux.de/news/id/38134

    Evgeny Morozov, Francesca Bria

    Wollte man heute Raymond Williams‘ Klassiker «Keywords» neuauflegen – ein Buch, in dem der Autor die Schlüsselbegriffe beschreibt, die den kulturellen Rahmen unserer Gegenwart prägen –, dann müsste dort das Wort «smart» mit an vorderster Stelle stehen. «Smart» ist zu einem wesentlichen Attribut unseres digitalen Zeitalters geworden – ein Wort, mit dem etliche, aber bislang vor allem uneingelöste Versprechen verbunden sind. Es gibt kaum etwas, von Zahnbürsten über Gebäude bis hin zum Wachstum, das heute noch ohne den Zusatz «smart» daherkommt. Damit soll eine ambitionierte, rasch um sich greifende, allerdings immer noch schwer zu fassende Konstellation von Bedeutungen bezeichnet werden. «Smart» wird häufig als ein sexy und innovationsfreundlich klingendes Synonym für «flexibel», «vernünftig», «selbstregulierend», «intelligent», «autonom», «findig», «schlank» oder gar «umweltfreundlich» verwandt – alles positiv besetzte und schillernde Begriffe, mit denen wir Emanzipation und Nachhaltigkeit assoziieren und die uns versichern, dass keinerlei Müll zurückbleiben wird. Und wer könnte dagegen schon ernsthaft etwas einzuwenden haben?

    Die «Smart City» ist ganz offensichtlich unter allen Smartness-Konzepten dasjenige, das im vergangenen Jahrzehnt am stärksten die öffentliche Meinung und Fantasie okkupiert und beflügelt hat. Es ist zudem eines der politisch wichtigsten und folgenreichsten, da es weltweit das Denken und Handeln von Stadtplaner*innen, Architekt*innen, Betreibern von Infrastrukturen, Immobilienentwicklern, für das Verkehrswesen Zuständigen, Bürgermeister*innen, aber auch von ganzen Industrien durchdringt und beeinflusst. Wie die meisten smarten Dinge und Phänomene lässt sich die Smart City nicht auf eine einzige Bedeutung reduzieren, was mit Sicherheit dazu beigetragen hat, dass dieses Modewort rasend schnell von bestimmten Berufsgruppen und Eliten aufgegriffen wurde und rege Verbreitung fand. Was für die einen vor allem mit einer sinnvollen und ökologischen Nutzung von städtischen Ressourcen zu tun hat, steht für die anderen für die Anwendung von intelligenten Instrumenten in Echtzeit – etwa smarte Ampelanlagen wie in Rotterdam, die bei regnerischem Wetter Fahrradfahrer*innen gegenüber Autofahrer*innen bevorzugen –, die störungsfreie urbane Erfahrungen verheißen und die Städte noch attraktiver machen sollen für diejenigen Personengruppen, die Stadt-Gurus wie Richard Florida die «kreative Klasse» nennen. Smart Cities ziehen smarte Bürger*innen an und smarte Bürger*innen ziehen smartes Geld an. Damit scheint im Prinzip alles Wesentliche gesagt.

    Download: https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/sonst_publikationen/Die_smarte_Stadt_neu_denken.pdf

    #smart-cities #gauche #résistance #technologie