Indien ǀ Die drinnen und die draußen — der Freitag

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  • Indien Unter Corona eskaliert in Mumbai der Kampf um die Öffentlichkeit: Wer kann, schließt sich in Gated Communities ein. Wer übrig bleibt, gilt als dreckig und gefährlich
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    03.04.2020 von Tobias Kuttler- Leere Straßen und Plätze von Lima bis Johannesburg, von Mailand bis Mumbai. Es sind es drastische Bilder, die uns aus vielen Teilen der Welt erreichen. Alle Menschen bleiben zuhause, scheint es. Erst auf den zweiten Blick offenbart die Corona-Krise die sozialen Unterschiede hinter den Bildern: Während die Wohnverhältnisse der städtischen Eliten und Mittelschichten einen Rückzug in die eigenen vier Wände ermöglichen, treffen die Ausgangssperren die städtischen Armen und Marginalisierten völlig unvorbereitet. Kaum irgendwo wird diese Krise des öffentlichen Raums deutlicher als in den Großstädten den globalen Südens.

    In Indien gilt nun vorerst eine Ausgangssperre für 21 Tage. Der Eisenbahnverkehr wurde landesweit eingestellt und auch der städtische öffentliche Nahverkehr ist weitestgehend zum Erliegen gekommen. Die städtischen Armen befinden sich in einer Notsituation, noch bevor die Corona-bedingte Krankheitswelle richtig begonnen hat.

    Für all diejenigen, die auch schon bisher hauptsächlich digital gearbeitet haben und virtuell vernetzt sind, bedeutet der Umzug an den häuslichen Schreibtisch lediglich die Fortführung einer routinierten Praxis. Sie haben ihren heimischen Arbeitsplatz schon lange krisenfest gemacht – für die Belastungen durch den hochflexiblen Arbeitsalltag. Für die vielen Selbständigen der Gig-Economy ist diese Art der Arbeit schon lange Realität und Teil ihrer Selbstausbeutung. Gleichzeitig zeigt die schnelle Umsetzung dieses Rückzugs, wie zurückgezogen und ungestört die Wohnsituation der globalen Eliten und Mittelschichten inzwischen ist.

    Räumlicher Ausdruck dieser Zurückgezogenheit ist das Wohnen in abgetrennten, zugangsbeschränkten Wohngebieten, den Gated Communities. Diese Wohnform erfreut sich global großer Beliebtheit: Anfang des Jahrtausends lebten allein in den USA etwa 32 Millionen Menschen in solchen Siedlungen, Tendenz weiter steigend. Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist die bewachte und kontrollierte Wohnsiedlung ein Charakteristikum nicht nur der US-amerikanischen Metropolen.

    Vor Corona geschützt in der Gated Community

    In Mumbai, der wohlhabendsten Stadt Indiens und gleichzeitig eine der am dichtesten besiedelten Städte der Welt, lebt etwa die Hälfte der Stadtbevölkerung in Slums. Auch hier ist es für die höheren Einkommensschichten erstrebenswert, in von der Außenwelt weitest gehend abgeschotteten Wohnanlagen zu leben. Viele dieser Siedlungen sind in Form von privat initiierten Wohnkooperativen organisiert, wovon es in Mumbai über 100.000 geben soll. Diese Gebiete sind ausgestattet mit exklusiver, privater Versorgungsinfrastruktur, welche eine Strom- und Wasserversorgung rund um die Uhr garantiert – ein Privileg in Indien, das die Bewohner*innen weitgehend unabhängig macht von der volatilen öffentlichen Versorgung, der Wasserknappheit im Sommer und den regelmäßigen Stromausfällen. Die Mobilität ist durch den Besitz eines eigenen Autos gesichert. Auch aufgrund des Verkehrskollapses haben gutverdienende Selbständige ihren Arbeitsplatz längst in die eigene (geräumige) Wohnung verlegt. Sie verlassen die eigene Wohnung nur noch selten, immer häufiger auch mit einem Fahrdienst wie Uber, um die Fahrtzeit zum Arbeiten oder Schlafen nutzen zu können.

    Die Eingangstore dieser Siedlungen sind in der Regel durchlässig, die Kontrollen der Sicherheitsdienste nicht konsequent. Doch in der Corona-Krise haben die Bewohner*innen die Mauern, Tore und Schranken dieser Wohngebiete zur Demarkationslinie im Kampf gegen das Virus erklärt. Ganze Wohnanlagen schotten sich ab, die Einlasskontrollen sind nun streng. Angestellte, die in den Mittelschichtshaushalten die alltäglichen Arbeiten verrichten – in der Regel Frauen –, werden nun entlassen oder in den Zwangsurlaub geschickt. Mitarbeiter von Lieferdiensten werden davon abgehalten, Familien mit Corona-Verdachtsfällen zu beliefern. Zuletzt wurden Fälle von Ärzt*innen und Pfleger*innen bekannt, die von ihren Vermietern und Nachbarn nicht mehr in ihre Wohnungen gelassen werden. Eine Bewohnerin schreibt in einem Facebook-Post: „Ich wohne in einer Mittelschichts-Wohnkooperative in Mumbai. Der Begriff „kooperativ“ ist natürlich ein Witz, denn hier kooperiert niemand. Die jetzige Krise offenbart die schlimmste Seite der Mittelschichten in diesem Land“.

    Moderne Schlafgänger ohne Raum

    Außerhalb dieser Mauern spielt sich das wahre Drama dieser Tage ab. In den chawls, den einfachen Mietwohnungen in dicht besiedelten Wohnvierteln, und informellen Siedlungen wohnen die Hausangestellten, Taxifahrer und Gemüseverkäufer*innen. Große Familien teilen sich meist ein Zimmer mit Küchenzeile. Die Enge und fehlende Privatsphäre ist eine Herausforderung. Oftmals gibt es in diesen Vierteln Gemeinschaftstoiletten, wenn diese aber fehlen oder nicht benutzbar sind, müssen sich die Bewohner*innen im Freien waschen und erleichtern. Dann steigt insbesondere für Frauen die Gefahr, Opfer von Krankheiten und Gewalt zu werden. Für einen Großteil der Menschen in Mumbai ist somit der Alltag schon ohne Corona der permanente, normalisierte Ausnahmezustand.

    Die jeden Tag aufs Neue mühsam erarbeitete Normalität gerät nun ins Wanken. Die Räumlichkeiten in den dicht besiedelten Vierteln sind nicht darauf ausgerichtet, dass sich eine gesamte Familie über viele Tage hinweg in Ihnen gemeinsam aufhalten kann. Viele Arbeiter*innen wollen daher zurzeit lieber zur Arbeit gehen, als unter diesen Umständen zu Hause sein zu müssen.

    Für viele Arbeitsmigrant*innen, die nach Mumbai und andere Großstädte gekommen sind, stellt sich die Situation jetzt besonders schwierig dar. Für sie ist mit Eintreten der Ausgangsperre das komplette Wohnarrangement zusammengebrochen. Gerade in den Großstädten sind vor allem junge Männer „moderne Schlafgänger“: Zehn oder mehr Personen teilen sich ein Zimmer, in denen sie abwechselnd schlafen. So kann ein Großteil des Verdiensts nach Hause in die Dörfer transferiert werden. Diese rotierenden Systeme sind unter Industrie- und Schichtarbeiter im Großraum Chennai ebenso zu finden wie in Mumbai unter jungen Fahrern von Fahrdiensten wie Uber. Während der eine tagsüber das Auto fährt, schläft der Zimmerkollege und nachts umgekehrt. Da die Taxi- und Fahrdienste nun ihren Betrieb eigestellt haben, funktioniert das Schlafsystem nicht mehr.

    Umkämpfte Öffentlichkeit

    Viele Fahrer und andere Arbeitsmigrant*innen verlassen die Städte nun in Richtung ihrer Heimatdörfer: Mit dem Zug, solange die Züge noch fuhren; seit dem der Zugbetrieb landesweit eingestellt ist, haben sich viele zu Fuß auf die weite Reise gemacht. In Indien sind Zehntausende Arbeitsmigrant*innen an den Bahnhöfen und Busbahnhöfen der Städte gestrandet. Die Solidarität mit Menschen, die nun auf den Straßen zurückbleiben, ist groß. Viele Staaten stellen – mit Verspätung – finanzielle Mittel und Unterkünfte für die Notversorgung bereit. Doch die Videoaufnahmen von Polizisten, die Arbeitsmigranten auf ihrem Weg in die Dörfer demütigen und misshandeln, zeigen gleichzeitig, welche Verachtung ihnen in der Gesellschaft weiterhin entgegenschlägt.

    Der öffentliche Raum ist in den Städten ständig umkämpft: nicht nur der Zugang und die Nutzungen, sondern auch die Bedeutung und die Interpretation desselben. Gerade unter Menschen, die sich stark zurückziehen, ist die Furcht vor dem öffentlichen Raum am stärksten. Wenn der öffentliche Raum als unsicher, unrein oder unwegsam wahrgenommen wird, so wirken auch Personen oder Gruppen, die sich dort aufhalten, als Gefahr – wenn nicht als persönliche, dann doch zumindest als eine Gefahr für die öffentliche Ordnung. Die vielerorts vertretene „Null-Toleranz“-Politik gegenüber „Störungen“ im öffentlichen Raum, wie sie vor allem in den USA anzutreffen ist, fällt dabei nicht zufällig mit weitverbreiteten neoliberalen Stadtentwicklungspolitiken zusammen.

    Seitdem große Städte Ende der 1980er Jahre noch stärker Dreh- und Angelpunkte des globalen Kapitals geworden sind, stehen sie im weltweiten Wettbewerb um Investitionen und die gutgebildete Mittelschicht in Konkurrenz zueinander. Attraktive Innenstädte und „Lebensqualität“ sollen das Image der Stadt bestimmen, für Verlierer ist in solchen Städten – im wahrsten Sinne des Wortes – kein Platz. In Bezug auf die USA nannte der Geograph und Stadtforscher Neil Smith die derart neuausgerichtete Stadt die „revanchistische Stadt“.
    Neoliberale Städte in der Krise

    Auch in Mumbai hat sich – angelehnt an westliche Vorbilder und unter dem Druck der internationalen Geldgeber – seit den 1990er Jahren eine neoliberale Stadtpolitik durchgesetzt. Die schon zuvor grassierende Vertreibung und Entrechtung der urbanen Armen und Marginalisierten wurde unter neuen Vorzeichen ungemindert fortgeführt. Diejenigen, die wichtige Grundfunktionen in der Stadt aufrecht erhalten, z.B. Straßenhändler*innen, Rikscha-Fahrer und Müllsammler*innen sind regelmäßige Ziele dieser Politik.

    Die Mittelschichten sind sich mit den staatlichen Einrichtungen, welche in vielen Städten die „Säuberung“ der öffentlichen Räume vorantreiben, weitestgehend einig. Denn je mehr Personen in isolierten Wohnvierteln leben, desto mehr ist der öffentliche Raum als Ort derjenigen stigmatisiert, die es nicht geschafft haben, auf der sozialen und ökonomischen Leiter nach oben zu klettern.

    Der derart negativ behaftete Raum spielt eine wichtige Rolle in der Corona-Krise. Dort, wo gerade strenge Ausgangssperren durchgesetzt werden, sind alle, die sich im öffentlichen Raum aufhalten, Sonderfälle: Entweder „systemrelevant“, besonders privilegiert, oder besonders marginalisiert. Marginalisiert sind diejenigen, die kein Zuhause haben, sich auf Grund körperlicher Beeinträchtigungen nicht auf den Weg nach Hause machen können und keine Notunterkunft finden.

    In den Großstädten des globalen Südens ruft jeder neue Tag unvorhergesehene Krisen hervor. Jahrzehnte neoliberaler Stadtpolitik haben Städte zu Orten gemacht, an denen überwiegend die Bedürfnisse der Eliten und höheren Mittelschichten zählen. Gerät das fragile (Un-)Gleichgewicht des neoliberalen Konsenses nun durch Corona ins Wanken? Und öffnet sich jetzt möglicherweise ein Fenster für eine erstarkte Recht-auf-Stadt Bewegung? Diese Fragen erscheinen angesichts der noch bevorstehenden gesundheitlichen Katastrophe in den Städten des globalen Südens beinahe zynisch. Die Folgen für die städtischen Armen und Ausgegrenzten werden verheerend sein. Eine Rückkehr zu den Zuständen vor Corona wird es nicht geben.

    Tobias Kuttler forscht an der TU Berlin zu Mobilität und sozialer Benachteiligung in Europa. Zudem forscht und arbeitet er seit 10 Jahren in Indien, derzeit promoviert er an der TU München über den Wandel des Taxisektors und die Situation der Uber-Fahrer in Mumbai

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