Der Blues in der Deutschen Demokratischen Republik

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  • Erst gefördert, dann gefürchtet: Der Blues in der Deutschen Demokratischen Republik
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    4.4.2023 von Victoriah Szirmai - Die Bluesrezeption in der DDR kann als nahezu klassische Geschichte eines Widerspruchs in sich gelesen werden – oder als jene eines Zauberlehrlings, der sich gegen seinen Meister kehrt. Ähnlich, wie man sich mit Ausrufung der sozialistischen Republik als das bessere Deutschland wähnte, dessen antifaschistische Bürger geschlossen gegen die – sich natürlich ausschließlich im korrupten Westen wiederfindenden – Nazis kämpften, machte sich das DDR-Regime das Ringen um die Bürgerrechte der Afro-Amerikaner zu eigen: als Kampf gegen ein imperialistisches System, den es zu unterstützen galt.

    So galten auch die zur Leidensmusik der international unterdrückten Klasse umgedeuteten Blues-, Gospel- und Soulklänge als Soundtrack und Ausdruck antiimperialistischer Bestrebungen. Kein Wunder, dass sich entsprechende Schallplatten beim Staatslabel Amiga großer Beliebtheit erfreuten – spätestens, seit der Jazzexperte Karlheinz Drechsel 1964 das American Folk Blues Festival in die DDR holte, wovon die Plattenfirma Mitschnitte veröffentlichte. Kurz: Der Blues – wie überhaupt die Musik der Afro-Amerikaner – galt in der DDR zunächst als politisch korrekt.

    Doch wie das mit Umdeutungen so ist: Sie folgen einer ganz eigenen Dynamik, die sich nicht selten schlussendlich gegen die Umdeuter wendet. Schließlich hatten die jugendlichen Blues-Hörer, im DDR-Jugendjargon auch als „Kunden“ bekannt, nicht den antiimperialistischen Kampf im Sinne, sondern den – mal mehr, mal weniger verdeckten – Protest gegen die Unterdrückung im eigenen Land. Anstatt sich mit den ehemaligen Sklaven im Geiste gegen die weiße Oberschicht zu verbünden, identifizierte sich die DDR-Jugend ob der Klänge mit amerikanischen Werten wie Freiheit und Individualität. Und so wurden die Bluesklänge dann auch nicht als rein musikalisches Ereignis wahrgenommen, sondern als (kultur-)politisches Statement in Zeiten, in denen sich die DDR aufgrund ideologischer Unterschiede zur westlichen Welt kulturell isolierte.

    Zu bürgerlich für Gothic und zu musikalisch für Punk

    Das galt zwar auch für den Jazz, doch eignete sich der Blues wegen seines klassischen Underdog-Themas mehr als andere Genres dazu, die eigenen Gefühle des Unterdrücktseins in einem Land, das seine Bürger einmauern musste, damit sie nicht davonliefen, zu kanalisieren – auch, weil ihm dank seiner Wurzeln in den African-American-Spirituals immer auch die (christlich konnotierte) Hoffnung auf ein gutes Ende eignete. Nicht zuletzt sprach der selbst dem miserabelsten Schülerbandblues noch innewohnende Hauch von Mississippi-Delta und damit weiter Welt viele Hörer an. Und schließlich versammelten sich im Blues auch noch all jene, die zu bürgerlich für Gothic und zu musikalisch für Punk waren.

    Die sich in den frühen 70er-Jahren ausprägende Blueser-Szene war also höchst heterogen. Einig waren sich die Blueser in ihrer Eigenschaft als Post-Hippies indessen in einer konsequent antimilitaristischen Haltung, die in der Ablehnung der Wehrpflicht kumulierte – was Überwachung und Verfolgung durch die Organe der Staatssicherheit nach sich zog, galt die Nationale Volksarmee doch als Heiliger Gral der Republik.

    Viele männliche Blueser verweigerten konsequent den Dienst an der Waffe und leisteten stattdessen ihren Wehrdienst als sogenannte Bausoldaten (im Jargon: Spatis) ab. Das machte sie zur Zielscheibe von Benachteiligungen und Repressionen auch durch die Gesellschaft, beäugte das kleinbürgerlich geprägte DDR-Milieu doch jegliches Abweichlertum misstrauisch bis ablehnend. Das – szeneintern identitätsstiftende – Äußere der mit Kutten und West-Jeans angetanen langhaarigen Vollbartträger wiederum gab allen Anlass, nicht nur als Kleinbürgerschreck, sondern auch als strafrechtlich verfolgbares „asoziale Element“ gebrandmarkt zu werden. Gerade der Shell-Parka, der nicht nur als Jacke, sondern gleichzeitig als Schlafsack diente, befeuerte das Bild des sich eines unsozialistischen Lebenswandels befleißigenden Tramps.

    Tatsächlich trampten viele Blues-Aficionados am Wochenende heimischen Formationen wie Freygang, Monokel oder Engerling hinterher, wenn diese in den wenigen verbliebenen, privat bewirtschafteten Dorfsälen irgendwo in der südlichen DDR ein paar Stunden gesellschaftlicher und moralischer Freiheit versprachen. Übernachtet wurde in Heuschobern, aber auch schon mal im Bahnhof auf Bänken.

    Auftritte von amerikanischen Künstlern hatten Raritätswert

    Ein besonderes Highlight waren die seltenen Auftritte internationaler Musiker und Musikerinnen, die meist unter abenteuerlichen Bedingungen arrangiert wurden. Insbesondere Konzerte von amerikanischen Künstlern hatten Raritätswert. Über Umwege, darunter klandestine Kommunikationskanäle zwischen Ost- und West-Berliner Bluesfans, gelangte der trotz seines Genies zeitlebens verkannte New Orleanser Pianist James Carrol Booker III im Winter 1976 an einen Auftritt in Ost-Berlin, wo er gegen eine Gage von fünfhundert Ostmark im 200 Menschen fassenden Haus der jungen Talente spielte. Die raren Karten kursierten größtenteils im Blues-Netzwerk der DDR – immerhin handelte es sich um das erste Konzert eines echten amerikanischen Bluesers nach einer Durststrecke von zehn Jahren, als das letzte American Folk Blues Festival über die Bühnen des Landes gegangen war.

    Das Publikum aber begeisterte nicht nur die Tatsache eines Booker-Konzerts an sich, sondern auch dessen virtuoses Klavierspiel und charismatische Auftreten. Beides lässt sich jetzt nachhören, denn der Mitschnitt des Auftritts in Ost-Berlin vom 22. Dezember 1976 (sowie jener eines Konzerts im Studio 8 bei Radio Lausanne am 27. Januar 1977 und eines weiteren in der Leipziger Moritzbastei vom 29. Oktober 1977) liegt nun in einer 5-CD-Deluxe-Edition samt umfänglichem Begleitbuch vor. Damit wird dem bislang nur vier Alben umfassenden Werk Bookers (der 1983 nur 43-jährig an den Folgen seines Drogenmissbrauchs einsam in einem Krankenhausrollstuhl verstarb, während er, ein letztes Mal übersehen, auf Behandlung wartete) eine neue Facette hinzugefügt.

    Die im Haus der jungen Talente versammelten Blues-Fans erwartete im dunklen 1976er-Winter ein ungewöhnliches Setting, bei welchem der Flügel nicht wie üblich auf der Bühne stand, sondern in der Mitte des Raums, während die Zuschauer um ihn herum gruppiert wurden. Obgleich damit die gewohnte Frontalsituation von Konzerten durchbrochen wird, bleibt man im Applaus zunächst seltsam verhalten – wohl geschuldet der immer und überall jede Regung beobachtenden Stasi.

    Das erste Wort Bookers, das zu hören ist, ist „Danke schön“, gefolgt von einem „How are you?“ – und dann legt er auch schon mit seinem erst kurz davor geschriebenen „Classified“ los, das ihn als passablen Honky-Tonk-Sänger zeigt. Das Stück „Slowly But Surely“, so teilt er seinem ob dieser klaren Worte sichtlich verblüfften Publikum mit, habe er über „international progress“ geschrieben, denn er fühle, „the world is getting back together“. Da hierauf kein Begeisterungssturm losbricht, vergewissert er sich: „Can you understand me?“, und als das bejaht wird: „I think I’m a light up this curtain tonight.“ Es ist recht klar, dass er nicht (nur) vom Vorhang im Haus der jungen Talente spricht, sondern vom eisernen, quasi in Brand gesetzt von wilden, hummelflugartigen Pianokaskaden und der freiheitsliebenden Energie des Blues.
    Ein Hauch Weimarer Cabaret beim Auftritt von James Booker in Ost-Berlin

    Nach einer dritten Eigenkomposition folgen Interpretationen, darunter die Bobby-Scott-Komposition „A Taste of Honey“, das in den tiefen Registern den Beethoven-Einfluss Bookers mit magenumdrehender Wucht deutlich macht. Mit Earl Kings „Let’s Make A Better World“ hat er nicht nur sich endgültig warmgespielt und -gesungen, sondern auch sein der Überwachung wohl allmählich überdrüssiges Publikum, das jubelt; ob nun der Barry-Sisters-Burner „Bei mir bist du schön“ mit gerolltem R einen Hauch Weimarer Cabaret nach Berlin zurückbringt oder „Goodnight Irene“ dank jeder Menge vokalem WahWah (entlehnt jenem Growl-Effekt, den Duke Ellingtons Trompeter zelebrierten) und umschlagenden Jodlern eher zum Weckruf denn zum Lullaby gerät.

    Besonders aber beeindruckt der Gesang des Civil-Rights-bewegten „United Our Thing Will Stand“, der dem darauf folgenden – emotionalen wie vokaltechnischen – Konzerthöhepunkt „People Get Ready“ von Curtis Mayfield in kaum etwas nachsteht und nahtlos überleitet in ein Beatles-Medley, dessen sagenhafter „Eleanor Rigby“-Auftakt sofort für sich einnimmt. Booker sucht immer wieder Kontakt zu seinem mehrere Zugaben einfordernden Publikum („A whole lotta shakin goin on tonight, ain’t it?“), welches er auf einer Reprise von „Let’s Make A Better World“ sogar zum Mitsingen animieren kann – denkwürdig für eine Zuhörerschaft, die es zunächst nicht wagt, aus sich herauszugehen.

    Was für ein Unterschied zu Bookers Publikum in Lausanne! Hier gibt’s eine völlig andere Form des Applauses, die klingt wie auf einem heutigen Konzert. Radiobedingt spielt Booker kürzer und mit geänderter Dramaturgie; aber auch die Stücke selbst haben – nur einen Monat nach dem Berlin-Auftritt – eine komplette Metamorphose durchlaufen. So etwa wird aus „Bei mir bist du schön“ ein Instrumental, während der T-Bone-Walker-Klassiker „Stormy Monday“ eine Tempoverdopplung erfährt. Verabschiedet werden die Lausanner mit „Merci beaucoup“, hier macht sich Booker einen augenzwinkernden Spaß daraus, in den Muttersprachen seiner Zuhörer zu wildern. Wenn er über sein Live-Album mit dem Titel „The Piano Prince Of New Orleans“ spricht, fügt er schelmisch hinzu: „... or shall I say: Nouvelle Orleans?“ Die frankophonen Schweizer danken es mit Gelächter und Applaus.

    Ein knappes Jahr später ist Booker zurück in der DDR, genauer: in Leipzig. Das sächsische Publikum gibt sich weitaus gelöster als das zuvor in Berlin – gleich nach der ersten Nummer hagelt es tosenden Applaus und zustimmende Pfiffe. Auch lacht man hier mehr als in Berlin und Lausanne zusammen – nicht zuletzt wegen Bookers Geheimdienst-Anspielungen, während sich die Stasi-Offiziere im Publikum wohl mühen, möglichst unauffällig im Heer der Blueser zu verschwinden. Der Approach des Pianisten in Leipzig ist broadway- und popinspiriert, darunter ein perlendes „My Way“. Obgleich alles andere als musikalischer Minimalist, gelingt es Booker, den emotionalen Gehalt der Songs, der oftmals unter dem Überarrangement der Originale verborgen ist, offenzulegen.

    Der Blues von James Booker, den wir zwischen Dezember 1976 und Oktober 1977 hören, hat Tempo, Witz und jede Menge Soul. Anstatt genretypisch den beladenen Mann zu geben, der über die Schlechtigkeit der Welt klagt, fordert er auf, Missstände aktiv anzugehen, und ist alles in allem optimistisch, dass die Welt auf einem guten Wege sei – was aus heutiger Perspektive fast schon neidisch macht. Die DDR-Fans jedenfalls, geübt darin, das Blues-Idiom auf ihre eigene Situation zu beziehen, hatten seine Botschaft verstanden und vielleicht auch einen Funken Hoffnung aus ihr geschöpft. In ihrer grundsätzlichen Gewaltlosigkeit, die sich mit der Vision einer besseren Welt paarte, kann den Bluesern durchaus eine Rolle als Wegbereiter der Friedlichen Revolution zugestanden werden.

    James Booker: Behind The Iron Curtain. Richard Weize Archives, 5 CDs + 60-seitiges Hardcover-Buch

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