Un mois avant la capitulation des armées nazies à Berlin-Karlshorst l’armée de l’air des États Unis détruit la ville historique de Halberstadt. Le raid fait entre 2000 et 3000 morts, un nombre inconnu de blessés et détruit 80 pour cent des bâtiments dans une tempête de feu. Les pilotes des avions font la chasse indiduelle aux rescapés fuyant les flammes.
La reconstruction de la ville dure encore aujourd’hui.
27.3.2023 von Bernadette Conrad - Schon der Weg vom Bahnhof in die Stadt ist Literatur – wenn auch zunächst auf ganz andere Weise als erwartet. Ich war nach Halberstadt gekommen, um hier das Gleimhaus zu besuchen, eines der ältesten Literaturmuseen Deutschlands, das wie kein anderes sowohl der Epoche als auch dem Geist der deutschen Aufklärung verpflichtet ist. Nun aber laufe ich erst einmal, das historische Bahnhofsgebäude im Rücken, eine lange Straße stadteinwärts, zu beiden Seiten von trister Nachkriegsarchitektur gesäumt.
Und schon schleicht sich, ganz ungeplant, Alexander Kluge in den Sinn. Als 13-Jähriger hatte er den Tag erlebt, an dem Halberstadt zum Trümmerfeld wurde. 215 B17-Fernbomber warfen an einem Sonntag im Frühling, am 8. April 1945, 504 Tonnen Sprengbomben über der Stadt ab und zerstörten über 80 Prozent des historischen Zentrums. Knapp 2000 Menschen starben. In Windeseile musste nach dem schon in Reichweite liegenden Kriegsende neuer Wohnraum hochgezogen werden – wie genau hier.
Viel später würde Alexander Kluge, dessen Elternhaus ebenfalls den Bomben zum Opfer fiel, das Ungeheuerliche dieses einen Tages in „Der Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945“ in viele Szenen und Sequenzen zerlegen und mit ihnen das Nichterzählbare umkreisen. Da war das Kino Capitol: „Die Holztäfelung der Logen, des Balkons, das Parkett sind in Elfenbein gehalten, rote Samtsitze.“ Theaterleiterin Frau Schrader muss die Matineevorstellung unterbrechen, als sie plötzlich durch die Decke „ein Stück Rauchhimmel“ sah. Die Hochzeitsgäste bei der Hochzeit im Roß „quasselten sich durch die Tür, den Flur entlang, die beige gestrichene Kellertreppe hinunter …“ und waren zwölf Minuten später verschüttet und tot.
Frederick L. Anderson, 8. US-Luftflotte, „der den Angriff an leitender Stelle ,mitgetragen‘ hatte“, sagte später im Gespräch mit einem Reporter: Der Angriff durfte nicht „verkleckert“ werden. „Wir sehen: Hauptverbindungsstraßen, Ausfallstraßen. Wo es dann auch richtig brennt.“
Vor dem 8. April 1945 war Halberstadt eine blühende Stadt
Rechts und links kommen nun einzelne Stadtvillen in den Blick, Häuser aus der Zeit vor dem 8. April 45. Die Kirchtürme weisen den Weg, gleich mehrere, hoch, spitz zulaufend, hintereinandergeschaltet. Acht der einst dreizehn Kirchen gibt es noch. Da ist die Martinikirche mit einem hohen und einem nur halbhohen Turm, der irgendwie nicht mitgewachsen zu sein scheint.
Vor dem 8. April 1945 war Halberstadt eine blühende Stadt mit reichem Bürgertum, mit Metallindustrie und Maschinenbau und einem Zentrum aus prächtigem großbürgerlichen Fachwerk. Der historischen Altstadt nähert man sich heute gleichsam von hinten, zunächst von der Rückseite des mächtigen Doms her.
Im direkt daneben liegenden Gleimhaus – altes Fachwerk zur Linken, ein moderner Anbau zur Rechten, mit einer asymmetrischen Glaskonstruktion elegant verbunden – sind das Davor und Danach des 8. April 45 sichtbar geblieben. Ute Pott, Direktorin des Gleimhauses, erzählt, was damals geschah: Mitarbeiter Ludwig Frischmeyer gelang es, die letzte noch funktionierende Feuerpatsche zu organisieren und so das sich nähernde Feuer an der Wand zu stoppen. Eine Tat, die das Wohnhaus des Literaten und bedeutenden „Netzwerkers“ der Aufklärung, Johann Wilhelm Ludwig Gleim (1719–1803), rettete.
Auch ins Gleimhaus also hat sich dieser 8. April eingeschrieben, hineingefressen. Er ist zum Bild für Zerstörung und Rettung zugleich geworden, der Wirkungsort jenes Mannes, durch den „Halberstadt zu einem signifikanten Ort der deutschen Literaturgeschichte wurde“, wie Ute Pott beschreibt.
Dorthin, in diese Zeit, reise ich nun, 270 Jahre später, zurück, nachdem ich das glasüberdachte Foyer hinter mir gelassen habe und auf altem Fliesenboden stehe, knarrende Treppenstufen hochlaufe und mich im verwinkelten Haus zu orientieren versuche.
1747 war der 28-jährige Ludwig Gleim nach Halberstadt gekommen, um hier eine Stelle als Domsekretär anzutreten und sich also um die Verwaltung des Domkapitels zu kümmern. Sein Berliner Leben, vor allem seine dortigen Freunde, hatte er zurückgelassen. Und als besonders freundschaftsbegabter Mensch wählte Gleim in dieser Zeit vor den Autos und Telefonen, von Handys ganz zu schweigen, einen künstlerischen Weg, um seine Lieben um sich zu haben – er ließ sie malen.
In diesem „Freundschaftstempel“ stehe ich nun, jahrhundertealte Dielen unter den Füßen, inmitten der dicht an dicht platzierten Ölgemälde, von denen ein Ewald von Kleist einen munteren Blick wirft, Aufklärer Nicolai forsch schaut und Philosoph Sulzer sympathisch und etwas strubbelig inmitten der wohlfrisierten Perücken heraussticht.
Das Gleimhaus in Halberstadt: „Langweilig, langweilig“, urteilte Sarah Kirsch
„Na ja, besser als nix“, wird 200 Jahre später die Halberstädter Schülerin Sarah Bernstein – später Kirsch – finden, die in den 1940er-Jahren das Gleimhaus mindestens zweimal mit der Schule besuchen musste, ihn „aber langweilig, langweilig“ fand, diesen „Freundschaftstempel, und immer nur Portraits von Puderperücken“, wie sie später in ihrem Büchlein „Kuckuckslichtnelken“ schreibt.
Dabei sind unter den Puderperücken auch nicht wenige Frauen, da sind Anna Louisa Karsch neben Sophie von La Roche oder die Herzogin Anna Amalia. Kurz: Man steht hier auch in der größten Porträtgemäldegalerie von Dichterinnen des 18. Jahrhunderts.
Vor allem aber, sagt Ute Pott, könne man in diesem Raum den idealistischen Humanisten Gleim besonders gut erkennen, der Menschen des Geistes um sich sammelte und miteinander verband; der Texte sammelte, wie diejenigen der „Karschin“ etwa, die vor allem dank seiner Sorgfalt heute als erste deutsche Berufsschriftstellerin entdeckt werden kann.
Überhaupt: „Sein Netzwerk der Kommunikation umfasste den gesamten nord- und mitteldeutschen Raum.“ Und so setzt das Gleimhaus diese zuversichtliche Epoche des „sapere aude“ ins Licht, die Zuversicht, dass mit dem „Mut, sich des eigenen Verstandes zu bedienen“, statt das Schicksal als von Gott und König gegeben hinzunehmen, die Welt eine bessere werden würde.
Aber ahnte Gleim bei all seiner tatkräftigen Zuversicht doch, dass die Menschheit ihren zerstörerischen Impuls und dessen markantesten Ausdruck, den Krieg, nicht überwinden würde? Gegen Ende seines Lebens zog er in direkter Ansprache an das zu Ende gehende 18. Jahrhundert ein äußerst nachdenkliches und skeptisches Fazit: „Mit Kriegen fingst du an, mit Kriegen endest du / Mit Säbel- und mit Federkriegen / Jahrhundert! Allen Kriegeszügen / Sah Gott vom höchsten Himmel zu! / War, Kriege sehen, sein Vergnügen?“ Nein, antwortet der Aufklärer auf die selbst gestellte Frage. Verantwortlich ist niemand als der Mensch: „Nein! Aber eure Seelen sind / von Gott dem Schöpfer frei erschaffen. / Das Reich der Tugenden, das Reich / Der Wissenschaften lag vor euch, / Und ihr erwähltet Waffen!“
Das Orgelprojekt von John Cage in Halberstadt – durch Spenden finanziert
Ein paar Schritte aus dem Gleimhaus heraus, gelange ich auf den überraschend weitläufigen Domplatz, von markanten Bauten des 18. und 19. Jahrhunderts umstanden. In einem der Gebäude, das nach Auszug der Stadtbücherei leer stand, hat sich der Wahl-Halberstädter und emeritierte Hochschullehrer Rainer Neugebauer zusammen mit seiner Frau den Kindheitstraum einer riesigen Bibliothek erfüllt.
Den geistigen Ort Halberstadt gestaltet er aber seit über 20 Jahren noch auf andere Weise mit: Er kuratiert das ausschließlich aus Spenden finanzierte Orgelprojekt von John Cage, „Organ2 ASLSP“, zu dem wir nun laufen. Treppen führen vom Domberg hinunter und in die immer noch von einigem schönen Fachwerk geschmückten Straßen der Altstadt bis zum Burchardi-Kloster am Rand der Innenstadt, das die Stadt vor über 20 Jahren der Cage-Stiftung für einen Euro überließ.
Dann betrete ich die schlichte romanische Kirche, rohe Mauern, unebener Boden, in der sich nichts befindet als jene sechs Orgelpfeifen, deren Zusammenklang seit Anfang Februar 2022 und noch bis zum Klangwechsel im Februar 2024 einen einzigen Ton hält: Denn aufgeführt wird ja hier das Stück mit Cages Regieanweisung „as slow as possible“, die in der Halberstädter Umsetzung bedeutet: 639 Jahre. Mit diesem Zeitraum wird, seit Beginn des Kunstprojekts 2001, genau jene Zahl an Jahren in die Zukunft projiziert, die rückwärts auf das Jahr 1361 weist, als eine der ersten Großorgeln der Welt im Halberstädter Dom fertiggestellt wurde.
Der Orgelklang als Symbol dessen, was die Zeiten überdauert? Und was wäre das? Hoffnung? „Es ist ein verrücktes Projekt, im wahrsten Sinne des Wortes“, sagt Neugebauer. Zwar mache sich das Projekt den Umstand zunutze, dass die Orgel als Instrument darauf ausgelegt ist, endlose Töne zu produzieren. „Aber Cage hatte keinerlei Symbolik im Sinn. Die Dinge bedeuten für ihn nichts als sich selbst, sie sind ihr eigenes Zentrum“, erläutert er und zitiert den amerikanischen Komponisten: „Sound, just sound. Nothing but sound.“
Und so erlebt im Schutz der alten Kirchenmauern, in der totalen Reduktion, jede und jeder etwas anderes, Eigenes, in der Konfrontation mit dieser besonderen, nicht stillen Stille; mit der Radikalität der Idee. Ich selbst erlebe zehn Minuten, in denen das Leben aus nichts besteht als aus einem Klang, fernem Hundegebell, dem leisen Rauschen der Windmaschine und Füßen auf kalten Steinen. Er habe „neu hören gelernt“, sagt Rainer Neugebauer, der dann noch einmal John Cage zitiert: „Warum haben Menschen Angst vor dem Neuen? Ich habe Angst vor dem Alten.“
Und wohin könnte ein Projekt, das die Zeitlichkeit selbst bedenkt, besser passen als nach Halberstadt? Diesen Ort, der immer durch den 8. April 1945 in ein Davor und ein Danach geteilt sein wird; literarisch dauerhaft markiert durch Alexander Kluge.
Halberstadts Davor, das war zum Beispiel auch, wie Sarah Kirsch festgehalten hat, jene „herrliche räudige Gegend“ der damaligen Unterstadt, diese „Armeleutegegend mit Quartieren für kinderreiche Familien“, in der ihr Großvater das Fachwerkhaus vermietete: „Auf einer Seite von einem Flüsschen begrenzt, umgaben Vorder- und Hinterhaus, Stallgebäude, Werkstätten, Waschhaus, eine Batterie Plumpsklos den großen, teilweise gepflasterten Hof, der durch ein zweiflügliges Tor verrammelt werden konnte … Es wohnten dort Nazis, Kommunisten, anfangs noch Juden, Lokomotivführer, notorische Lügner, Seefahrer, Diebe, es gab alles, und ich durfte mit deren Kindern auf der Straße spielen, zu meinem größten Vergnügen. Es handelte sich einfach um ein riesengroßes geheimnisvolles Haus, und später gelangten noch Umsiedler und Flüchtlinge hinzu. Es war großartig! Ein soziales Durcheinander, ein Abklatsch der Welt.“
Nicht zuletzt hatte hier, in der Halberstädter Unterstadt, eine der bedeutendsten neoorthodoxen jüdischen Gemeinden ihren Sitz. Als Mitte der 1990er-Jahre der in New York lebende Nachkomme Raphael Nussbaum der Stadt den ehemaligen Familienbesitz zur Nutzung anbot, begann ein vor allem vom Halberstädter Werner Hartmann vorangetriebener Prozess, der seither nicht stillsteht. 2001 eröffnete das Jüdische Museum, inzwischen an zwei Orten: Sowohl „die Klaus“, das jüdische Lehrhaus, als auch das Mikwenhaus für das traditionelle Bad sind zugänglich, in feinstem Fachwerk des 16. Jahrhunderts. „Kaputte Häuser haben mich nie geschreckt“, sagt Jutta Dick, die die Aufbauarbeit von 1995 bis 2022 leitete, rückblickend in schönem Understatement.
Worin liegt sie, die besondere Magie von Halberstadt?, frage ich mich nach übervollen Tagen auf dem Rückweg zum Bahnhof. Nicht zuletzt wohl, wie John Cages Orgelklang, in etwas Unsichtbarem: jenen Halberstädtern und Neu-Halberstädtern, die seit Langem diesen auf besonders radikale Weise von Zerstörung gezeichneten Ort als geistigen Raum kultivieren und weiterentwickeln, vielleicht ja im Geiste und in der Nachfolge des kreativen Menschenfreundes Wilhelm Gleim. Oder wie sagt es Alexander Kluge: Kunst ist die Antwort.