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/2021-04

  • Corona in Frankreich: Lockern bei 340 | ZEIT ONLINE
    https://www.zeit.de/politik/ausland/2021-04/corona-politik-frankreich-inzidenzwert-schuloeffnung-jean-castex

    Frankreichs Corona-Politik folgt anderen Regeln: Die Inzidenzwerte sind doppelt so hoch wie in Deutschland, doch das Nachbarland will Schulen und Lokale wieder öffnen.

    Von Annika Joeres, Nizza

    23. April 2021, 6:03 Uhr 600 Kommentare

    Wer dem französischen Premierminister Jean Castex zuhört, könnte annehmen, er lebe in einer anderen Pandemie als Angela Merkel. Bei seiner Pressekonferenz am Abend erwähnte Castex den in Deutschland so ausschlaggebenden Inzidenzwert von Frankreich nur am Rande. Viel wichtiger war ihm die Ankündigung, am Montag die Schulen wieder öffnen zu wollen, wenige Tage später sollen auch die inländischen Reisebegrenzungen fallen und Mitte Mai schließlich Restaurants und Bars wieder Kundinnen und Kunden auf ihren Terrassen empfangen können. 

    Mehr als ein Jahr seit Beginn der Pandemie sprechen die wirtschaftlich und kulturell so eng verbundenen Länder Frankreich und Deutschland bei Corona selten mit einer Stimme. Ja, ihre Regierungen und Virologinnen verteidigen oft mit derselben Inbrunst gegenteilige Aktionen. Während in Deutschland gerade die bundesweite Notbremse beschlossen wurde, die Ausgangssperren und Schulschließungen einzig und allein vom Inzidenzwert abhängig macht – also der Zahl der positiv auf Corona getesteten Menschen pro 100.000 Einwohnern – interessiert sich Frankreich kaum für diesen Wert.

    Bei der Pressekonferenz von Premierminister Castex und zwei Ministern fiel das Wort nur einmal – es ist in Frankreich kein Faktor, an dem politische Entscheidungen hängen. Nur wenige Franzosen dürften daher wissen, dass ihr Inzidenzwert landesweit bei 340 liegt – und damit doppelt so hoch wie der deutsche. Dennoch hat sich die französische Regierung nun entschieden, die aktuelle Entwicklung als positiv einzustufen. „Wir haben den Höhepunkt der dritten Welle überschritten“, sagte Castex. Aktuell würden rund 6.000 Menschen mit Corona auf der Intensivstation behandelt, das sei ein hohes Plateau, aber „wahrscheinlich werden die Zahlen bald sinken“, sagt der Premier. Deshalb sei es gerechtfertigt, nun zu öffnen.

    Auch Epidemiologen geben Entwarnung

    Diese Analyse ist im Ländervergleich umso erstaunlicher, da Frankreich eigentlich nur halb so viele Intensivbetten wie Deutschlands hat – und in Deutschland schon bei geringerer Belegung stets vor einer Überlastung gewarnt wird. Auch die Virologinnen und Epidemiologen des wissenschaftlichen Corona-Beirates der Pariser Regierung fordern inzwischen nicht mehr einen verlängerten oder strengeren Lockdown, obwohl sie es im Januar bei deutlich niedrigeren Zahlen noch taten. Sie geben auch Entwarnung für die brasilianische und indische Mutation.

    Bruno Lina, Virologe am Universitätsklinikum von Lyon und Mitglied des Beirates, sieht keine größere Gefahr in der indischen Covid-Mutation, die in Frankreich nur "Variante" genannt wird. „Sie ist nur geringfügig ansteckender, aber wesentlich weniger als die britische Variante“, erklärt Lina. Insgesamt äußerte er sich optimistisch. „Wir werden uns nicht des Virus’ entledigen können, aber es wird weniger schädlich sein“, prophezeite Macrons Berater in einem Fernsehinterview.