• Bingo, Bier und Jukebox: Wie Berliner Kneipen der Krise trotzen
    https://www.berliner-zeitung.de/panorama/bingo-bier-und-jukebox-eckkneipe-kupferkanne-wie-berliner-kneipen-d

    Die Sprechfunk Zentrale der Innung quäkte „Schulli Steinmetz-Alvensleben“. Das klingt mir immer noch im Ohr, obwohl mit Sprechfunkvermittlung schon seit Jahren Schluß ist. Bei „Erster Meldung“ fuhr man da nur hin wenn man eben nicht fahren musste, sondern zufällig schon vor der Tür stand. Gerade einen Kandidaten abgeliefert. Halb besoffen rein, sturzbesoffen raus. Das ging wie die Drehtür. Immer reingehen und Gast auf Transportfähigkeiz prüfen. Ab zweieinhalb bis drei Promille ist die Bullerei zuständig für die „hilflose Person“. Alles darunter ist gebongt. Wir sind ja tolerant.

    Die Kupferkanne war eine der Absturzkneipen , unendlich ergiebige Quellen für Suffkes, Patienten und Mörder Fahrgäste (siehe https://txsl.de/uli-hannemann-taxiglossar.html ). Alle zehn Minuten schreit ein Strammer Max nach seinem Gummi . Der erste Dialog mit dem Fahrgast im Auto geht dann so : „Haste wat dajejen wennick rooche? Nö, is jut, man jönnt sich ja sonst nüscht.“ Mit dem kann man sich zumindest über das Fahrziel verständigen. Es geht nie weit. Der Weg von der Kiezkneipe nach Hause um die Ecke ist zu Fuß einfach nicht mehr machbar. Dafür gibts meistens ordentlich Schmalz.

    Lageplan Kupferkanne Steinmetz- Ecke Alvensleben
    https://www.openstreetmap.org/node/4967649020

    Alles Vergangenheit. Fahren die Gäste heute noch Taxi? Keine Ahnung, muss ich den Wirt bei Gelegenheit fragen. Falls ich sowieso in der Gegend feiern sein sollte und mich als Gast in den Laden reintraue. Der klassische Alkoholpegel führte zu erhöhtem Auf-die-Fresse-Risiko. Daran hat sich nichts geändert, am Alkohol-Auf-die-Fresse-Verhältnis.

    An den holzvertäfelten Wänden hängen Poster des Fußball-Zweitligisten Hertha BSC, dazu alte Mannschaftsfotos und Pokale. Der Geruch von Rauch liegt eigentlich immer leicht in der Luft. Die Kupferkanne in Berlin-Schöneberg ist eine Sportkneipe durch und durch. Junge Menschen würde man hier auf den ersten Blick eher nicht vermuten.

    Doch das Lokal ist seit einigen Jahren eine Art Hotspot für die jüngere Generation. Der Berliner Rapper Ski Aggu mit Skibrille drehte hier kürzlich ein Musikvideo. Entdecken Jüngere in Zeiten des Kneipensterbens die Schankwirtschaften wieder neu?

    Necip Cakir und seine Frau Rose-Gül Cakir betreiben die Kupferkanne in einer eher ruhigen Ecke Berlins seit knapp 40 Jahren. Mittlerweile seien rund 90 Prozent der Gäste Studierende, sagt Cakir, leidenschaftlicher Hertha-Fan. „Die Leute haben es probiert mit Cocktailbars, mit Schickimicki-Restaurants oder Shishabars. Das hat nicht so richtig funktioniert“, vermutet der 64-Jährige. „Die uralte Kiezkneipenkultur kommt wahrscheinlich wieder zurück.“

    Es sei toll, wenn sich Jüngere gemütlich in Kneipen setzen, ein Bierchen trinken und ins Gespräch kommen. Auf ihren Wunsch hin wird sogar seit einiger Zeit wieder Bingo gespielt. Rose-Gül Cakir meint: „Die kommen zur Gemütlichkeit wieder zurück.“ Rapper Ski Aggu sagte im vergangenen Jahr am Rande einer Preisverleihung: „Das ist kein Schickimicki, man geht einfach hin. Einfach noch so ’ne ehrliche Kneipe.“

    Urige Schankwirtschaften: Eher ein lokaler Trend

    Aus Sicht des Wirtschaftsgeografen Martin Franz handelt es sich aber um keinen flächendeckenden Trend, dass urige Schankwirtschaften generell wieder stärker vom jungen Publikum erobert werden. Franz forscht an der Universität Osnabrück unter anderem zur Zukunft der Kneipen. Es sei vielmehr ein „lokaler Trend, der an bestimmte Städte und bestimmte Szenen gebunden ist.“ Es könne mehrere Gründe haben, dass ein junges Publikum traditionelle Kneipen auswählt – zum Beispiel, weil Fußball gezeigt wird, die Musik angepasst wird oder wegen der Persönlichkeit eines Wirts, mit dem man ein Schwätzchen halten kann.

    „Diese Kneipen haben sich an veränderte Rahmenbedingungen angepasst“, sagt Franz. Dazu hätten sie meist eine gute Lage, etwa nahe einer Uni. Ein grundsätzliches Problem in der traditionellen Gastronomie sei, dass sie relativ innovationsfeindlich gewesen sei. „Diejenigen, die eine Kneipe hatten, wollten meist auch nichts anderes als eine Kneipe zu betreiben und haben sich oft über die Jahre hinweg nicht angepasst.“


    Necip Cakir in seiner Kult-Kneipe: An den holzvertäfelten Wänden hängen viele Poster von Hertha BSC.Jörg Carstensen/dpa

    Starker Rückgang an Kneipen in Deutschland

    Grundsätzlich habe sich das Konsum- und Freizeitverhalten der Menschen verändert, so der Forscher. In Deutschland sei ein starker Rückgang an Kneipen zu erkennen. Das zeigen auch Zahlen des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbands (Dehoga). Wurden 2014 noch 31.650 Schankwirtschaften verzeichnet, waren es 2021 lediglich 19.201.

    Cakir und Rose-Gül hätten vor mehr als zehn Jahren mit wirtschaftlichen Problemen in der Kneipe gekämpft. Mit einer Gruppe jüngerer Menschen hätten die beiden überlegt, was man verändern könne. So kamen sie unter anderem auf die Idee, den Raum für Geburtstagsfeiern anzubieten, wie Cakir erzählt. Nach und nach habe sich die Kupferkanne bei jungen Menschen um die 20 herumgesprochen.

    Auch bei Annabel Lehmitz in der Hamburger Ratsherrn Klause ist das Hauptpublikum zwischen Mitte bis Ende 20. Die 33-jährige Gastronomin hat die urige Kneipe während der Corona-Pandemie im Jahr 2021 von ihrem Vater übernommen. „Es ist schon so, dass man merkt, dass die Kneipe wiederkommt, auch bei den jungen Leuten“, sagt Lehmitz.

    In der Eckkneipe Zum Knobelbecher im Belgischen Viertel in Köln ist das Publikum einer Mitarbeiterin zufolge sehr gemischt. „Alt und Jung kommen zusammen, das schafft ein Gemeinschaftsgefühl. Man weiß nie, wen man abends kennenlernt“, sagt Johanna Keuser. Im Keller könnten Gäste kegeln, oben laufe viel kölsche Musik und Schlager. Dazu zeigt der Knobelbecher im Veedel wie die Kupferkanne in der Hauptstadt auch Fußball – allerdings nicht Hertha, sondern den 1. FC Köln.

    Eine noch größere Rolle als Treffpunkt für junge Leute kommt Kneipen der Dehoga zufolge in den Kleinstädten oder auf dem Land zu. „In der Corona-Zeit wurden sie schmerzhaft vermisst, umso mehr genießen es die Menschen heute, auszugehen und entspannt zusammenzukommen“, hieß es. Kneipen seien weiter die öffentlichen Wohnzimmer der Gesellschaft.

    #Berlin #Schöneberg #Alvenslebenstraße #Steinmetzstraße #Kneipe #Drogen #Alkoholismus

  • Die Debatte zum Alkohol-Verbot in Berlin - Billig will ich!
    https://jungle.world/artikel/2015/09/billig-will-ich

    cf. How Alcohol Conquered Russia https://seenthis.net/messages/796741

    26.02.2015 Politiker wollen den Verkauf von Alkohol in der Nacht untersagen. Das ist ein Affront vor allem gegen die Armen.

    Von Ivo Bozic

    In Berlin will der Bezirk Mitte das jährliche Straßenfest in der Weddinger Müllerstraße verbieten, vor allem der Ordnungsstadtrat Carsten Spallek (CDU) macht sich dafür stark. Grund: Das Fest sei nicht »im öffentlichen Interesse«. Was das sein soll, weiß man in der Bezirksvertretung offenbar sehr genau. Die Berliner Morgenpost schreibt: »An der Müllerstraße gebe es statt Kultur und Kunsthandwerk vor allem exzessiven Alkoholkonsum: Bierselige Besucher hätten die Straßen mit leeren Getränkedosen verdreckt und gegen die Geschäftshäuser uriniert, sagen Beobachter.« Und Herr Spallek klagt: »Da gibt es ganz viele, die saufen sich die Birne weg.« Um Gottes Willen! Ja, wer würde so was vor der eigenen Haustür haben wollen? Das kann man verstehen. Stellt sich nur die Frage, wo der Unterschied zum Karneval oder zum Oktoberfest sein soll – mal davon abgesehen, dass es im Wedding nie zu ausgewachsenen Maßkrugschlägereien kommt wie jedes Jahr in München. Die Antwort findet sich im nächsten Satz des Artikels. Da heißt es: »Stände mit billigen Waren und Imbissbuden beherrschten die Müllerstraße, warfen die Bezirksverordneten den Organisatoren vor.« Und genau das ist das Problem: zu billig! Nicht, dass das Bier, die Brezeln oder Bratwürste beim Oktoberfest, bei der Berliner »Biermeile« oder bei anderen Volks- und Sauffesten besser wären – aber teurer ist es dort allemal. Diese störrischen Weddinger aber, die wollen sich einfach nur billig betrinken und einen Döner oder eine Currywurst für wenig Geld verspeisen. Und das nennen die dann Straßenfest! Skandal, das muss natürlich verboten werden! Das »öffentliche Interesse« definiert immer noch das Bezirksamt.

    Das Ganze wäre nur eine lokalpolitische Bagatelle aus der Berliner Provinz, wenn es nicht im Zusammenhang mit der nicht nur in Berlin geführten Debatte gesehen werden müsste, den Alkoholverkauf an Tankstellen, Spätverkaufsstellen und Kiosken zwischen 22 Uhr und fünf Uhr komplett zu untersagen, wie es in Baden-Württemberg schon seit 2010 der Fall ist. Auch bei dieser Debatte geht es nur darum, das Konsumieren preiswerten Alkohols zu untersagen, während der mindestens immer doppelt so teure Konsum in Lokalen, Kneipen und Restaurants selbstverständlich weitergehen soll. Für wen das nicht erschwinglich und wer dazu auch noch wohnungslos ist, könnte dann künftig nirgendwo mehr nach 22 Uhr etwas trinken. Gerade diesen Menschen gilt die Kampagne.

    Auch die wieder neu befeuerte Debatte über die zu senkende Promillegrenze bei Radfahrern hat denselben Hintergrund. Wer sich nach dem Kneipenbesuch den Heimweg mit dem Taxi nicht leisten kann, der ist, sofern keine öffentliche Verkehrsanbindung besteht, und das ist ab ein Uhr nachts in den meisten Gegenden Deutschlands der Fall, oft auf das Fahrrad angewiesen. In keiner Statistik erscheinen betrunkene Radfahrer als relevantes Problem, dass sie dennoch immer wieder ins Visier genommen werden, folgt demselben Sozialchauvinismus wie die Debatte um das Billigstraßenfest im Wedding. Zeit für Widerstand. Alkohol für alle, sonst gibt’s Krawalle!

    #Alkoholismus #Berlin #Ladenschlußzeitengesetz