Stasi-Akten zur Berliner S-Bahn: Wie im Bahnhof Friedrichstraße eine Entführung scheitert
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4.8.2024 von Peter Neumann - Mit vorgehaltener Waffe kapert ein Mann eine S-Bahn, weil er nach West-Berlin will. Nicht der einzige spannende Vorfall, der sich in den Stasi-Akten findet.
Eine Stadt, ein Verkehrsmittel, zwei politische Systeme. Während der Teilung Deutschlands bewegt sich die Berliner S-Bahn in einem Umfeld, das weltweit einzigartig ist. Bis zum Mauerbau 1961 hält sie die geteilte Stadt zusammen, auch nach der Schließung der innerstädtischen Grenze gibt es Verbindungen und Gemeinsamkeiten.
Das DDR-Ministerium für Staatssicherheit hat die Vorfälle protokolliert, die sich dort im Kalten Krieg ereigneten. Das Jubiläum 100 Jahre Berliner S-Bahn, das in diesem Sommer gefeiert wird, ist ein guter Anlass, mal wieder in die Stasi-Akten zu schauen.
Ein Mann kapert eine S-Bahn, weil er nach West-Berlin fliehen will. DDR-Spezialisten für Terrorabwehr schwärmen aus, und es wird scharf geschossen. Ein Krimi? Nein, das ist tatsächlich so passiert, in Berlin, Hauptstadt der DDR. Am 27. Mai 1983 im Bahnhof Friedrichstraße drei Wagenlängen entfernt vom Bahnsteig C, auf dem sich an diesem Freitagabend viele Fahrgäste aufhalten. Die versuchte Entführung, die vor der Grenze scheiterte, ist wohl der spektakulärste Vorfall. Doch er wurde kaum bekannt.
Vom Fernsehturm ist es zu sehen: Die Stadtbahn führt in den Westen. Wirklich?
Der Mann, der das Unmögliche versucht, heißt Wolfgang K.. Er stammt aus Stollberg im Erzgebirge, damals ist er 24 Jahre alt. In Berlin, Hauptstadt der DDR, ist er Beifahrer bei der Müllabfuhr. K. will weg aus der DDR. An diesem Tag im Mai beschließt er nach „entsprechendem Alkoholgenuss“, wie die Stasi notiert, seinen Plan umzusetzen. In der Suhler Jagdhütte, einem Geschäft am Alexanderplatz, kauft K. für sein Luftdruckgewehr Kaliber 4,5 rund 400 Schuss Diabolo-Munition. Im Alextreff trinkt er weiter, dann fährt der Sachse im Fernsehturm nach oben ins Tele-Café, um aus luftiger Höhe die Stadtbahn zu erkunden. Von dort oben ist es klar zu sehen: Das Viadukt führt in den Westen.
Der Bahnhof Friedrichstraße von Westen aus gesehen. Das undatierte Bild entstand offenbar, bevor dort der DDR-Grenzbereich weiter umgebaut wurde. Ganz links befindet sich das Gleis der S-Bahn-Strecke, auf der 1984 die Geiselnahme stattfand.
Der Bahnhof Friedrichstraße von Westen aus gesehen. Das undatierte Bild entstand offenbar, bevor dort der DDR-Grenzbereich weiter umgebaut wurde. Ganz links befindet sich das Gleis der S-Bahn-Strecke, auf der 1984 die Geiselnahme stattfand.Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR
Im S-Bahnhof Marx-Engels-Platz, der heute Hackescher Markt heißt, steigt Wolfgang K. in die S-Bahn aus Mahlsdorf. Kurz bevor der Zug in den Bahnhof Friedrichstraße einfährt, zieht er seine Waffe. Im Führerstand bedroht K. die Lokführerin Simona A. aus Lichtenberg und fordert: nach West-Berlin weiterfahren, sonst würde er schießen! Die 21-Jährige hebt beide Hände, so dass das Personal im Stellwerk merkt, dass etwas nicht stimmt. Inzwischen hat sie den Fuß vom Fahrschalter genommen, sodass die S-Bahn schließlich hält. Auf 30 Metern steht sie jenseits des Bahnsteigs im Grenzgebiet. Eine Sichtblende verhindert, dass die Fahrgäste auf dem Bahnsteig sehen, was nun geschieht.
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K. fordert die S-Bahnerin auf, wieder loszufahren. Als Simona A. sagt, dass das nicht möglich sei, dreht er verzweifelt verschiedene Schalter. Doch die Zwangsbremsung hat gewirkt, der Zug der Baureihe 276 bleibt stehen. Inzwischen hat der Diensthabende der Grenztruppen die Passkontrolleinheit, Teil der Stasi, alarmiert. Vier Spezialisten für Terrorabwehr schwärmen aus. Einer von ihnen sichert den Ort des Geschehens.
Flucht aus der DDR: Per Anhalter in den Westen
Die S-Bahn Berlin wird 100 – aber etwas macht viele S-Bahner traurig
Die drei anderen Mitarbeiter der PKE, die zur Stasi gehört, laufen auf den Wagendächern der S-Bahn zur Spitze des Zuges. Leutnant Siegfried K. robbt sich nach vorn, zerschlägt die Frontscheibe und schießt auf dem Dach liegend in den Führerstand. Hauptmann Uwe Z. und Leutnant Stephan B. dringen in die Fahrerkabine ein und nehmen Wolfgang K. fest. Die Geiselnahme und versuchte Entführung ist zu Ende. Es ist 18.50 Uhr.
Übrigens: Die S-Bahn hätte gar nicht geradeaus in den Westen weiter fahren können. Die S-Bahngleise aus dem Osten führen seit dem Mauerbau nicht mehr zum Lehrter Stadtbahnhof, die direkte Verbindung wurde bei der Grenzschließung 1961 unterbrochen. Rund 150 Meter hinter dem Bahnsteig C steht ein Prellbock, dort ist Schluss. Erst ab dem 2. Juli 1990 können die S-Bahnen wieder nach West-Berlin durchfahren.
S-Bahnerin wird als „Verdiente Eisenbahnerin der DDR“ geehrt
Was aus Wolfgang K. wurde, ist nicht bekannt. Die Einsatzkräfte gaben bei ihrer Aktion drei Schüsse ab, Simona A. musste sich wegen einer Augenverletzung in der Charité behandeln lassen. S-Bahner erzählen, dass ihr zunächst arbeitsrechtliche Konsequenzen angedroht wurden. Doch dann erhielt die junge Frau einen der 31 Ehrentitel „Verdiente Eisenbahnerin der DDR“, die 1983 vergeben wurden. Einem Bericht zufolge erhielt sie eine hohe Belohnung. „Einige bezeichneten dies als ‚Schweigegeld‘“, hieß es.
Offenbar war es gelungen, den spektakulären Vorfall unter der Decke zu halten. „Seinerzeit waren viele überrascht, dass dieses Ereignis in den Westmedien keine Beachtung fand“, so ein S-Bahner. Nur Anwohner konnten es beobachten.
Tatort Ulbrichtkurve: Die Dokumentation zeigt, wo der „Grenzdurchbruch“ am 3. März 1982 stattfand. Rechts Häuser der Schwedter Straße, im Hintergrund die Bösebrücke zwischen Wedding und Prenzlauer Berg.
Tatort Ulbrichtkurve: Die Dokumentation zeigt, wo der „Grenzdurchbruch“ am 3. März 1982 stattfand. Rechts Häuser der Schwedter Straße, im Hintergrund die Bösebrücke zwischen Wedding und Prenzlauer Berg.Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR
In den Akten des MfS finden sich weitere Vorfälle und Sachverhalte zur Berliner S-Bahn, die bis heute nicht oder kaum bekannt wurden. Eine Auswahl:
Mit der Leiter über die Mauer: Schauplatz ist die „Ulbrichtkurve“ im Nordosten von Berlin, die knapp vier Monate nach dem Mauerbau 1961 eröffnet wurde. Auf der nach dem Staatsoberhaupt der DDR benannten Verbindung zwischen Schönhauser Allee und Pankow kann die S-Bahn den Westen umfahren. Am damals geschlossenen S-Bahnhof Bornholmer Straße kommen die Gleise allerdings nahe an die Grenze heran. Züge dürfen nicht halten, es gilt Mindesttempo 40. Nicht alle, die dort über die Mauer wollen, schaffen es. Am 3. März 1982 gelingt jedoch 50 Meter südlich der Bösebrücke eine Flucht. „Um 00.58 Uhr erfolgte die Notbremsung der S-Bahn (Fahrtrichtung Schönhauser Allee-Pankow)“, dokumentiert die Stasi. „Danach überwanden zwei Personen die Staatsgrenze mittels einer Leiter Richtung Westberlin.“
Ein Mann will in den Osten fliehen: Nur selten kommt es zu Fluchtbewegungen in die andere Richtung, von West nach Ost. Am 7. April 1971 gibt es so einen Fall, im geschlossenen S-Bahnhof Potsdamer Platz, in dem Grenzsoldaten Wache schieben. Sie machen in dem „Geisterbahnhof“, der für Fahrgäste geschlossen ist, an jenem Mittwoch einen ungewöhnlichen Fang. Gegen 17.50 Uhr nehmen sie einen Mann fest, der aus der S-Bahn gesprungen ist, und bringen ihn zur Polizei. Dort erzählt der 24-jährige West-Berliner, nach eigenen Angaben früher Student der Volkswirtschaftlehre an der Technischen Universität und nun hauptberuflich Drogendealer, eine wirre Geschichte.
Er sei im Westen mit einem Mann zusammengestoßen. „Dieser dicke Herr habe das typische Aussehen eines Kapitalisten gehabt“, wird in der Stasi-Akte notiert. „In diesem Moment sei ihm so richtig bewusst geworden, dass er mit dieser Gesellschaft nichts mehr zu tun haben möchte.“ So schlägt er den Dicken zu Boden, reißt einen Mercedes-Stern von einem Auto ab und steigt in die S-Bahn. „Äußerlich hinterließ er einen ungepflegten Eindruck“, notiert Unterleutnant N. „Es wurde eingeschätzt, dass diese Person für unsere Diensteinheit operativ nicht nutzbar ist.“ Was mit dem Mann aus dem Trierer Ortsteil Ehrang passiert, steht nicht in der Akte. Offenbar wird er abgeschoben.
Als der Westen durch den Osten fuhr: Auf der Chausseestraße in Mitte ist 1985 rechts der geschlossene Eingang zum U-Bahnhof Stadion der Weltjugend zu sehen. Zu DDR-Zeiten halten dort keine Züge. Heute heißt die Station an der U6 Schwartzkopffstraße, und auf dem Stadiongelände logiert der Bundesnachrichtendienst.
Als der Westen durch den Osten fuhr: Auf der Chausseestraße in Mitte ist 1985 rechts der geschlossene Eingang zum U-Bahnhof Stadion der Weltjugend zu sehen. Zu DDR-Zeiten halten dort keine Züge. Heute heißt die Station an der U6 Schwartzkopffstraße, und auf dem Stadiongelände logiert der Bundesnachrichtendienst.Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR; MfS-HA-PS-Fo-0149
Provokationen im Tunnel: „Werter Genosse Fischer!“ So beginnt ein Brief, den der DDR-Verkehrsminister 1978 ans Außenministerium richtet. Es geht es um „provokatorische Handlungen Westberliner Fahrgäste“ auf den heutigen U-Bahn-Linien U6 und U8 sowie im Nord-Süd-Tunnel der S-Bahn. Die drei Tunnel dienen dem Verkehr von West-Berlin nach West-Berlin, doch sie führen unter dem Osten Berlins hindurch. Einen Verkehrshalt gibt es nur im Bahnhof Friedrichstraße. Alle anderen Stationen sind „Geisterbahnhöfe“, die für die Fahrgäste geschlossen sind. Dort leisten Grenzsoldaten Dienst.
Es geht um den Zeitraum vom 1. Januar bis zum 26. April 1978. Während dieser Zeit wurden im S-Bahn-Tunnel 17 Mal Gegenstände aus Zügen geworfen, etwa mit einer Bierflasche, geht aus der Aufstellung hervor. Neun Mal wurden DDR-Sicherheitskräfte bedroht, zum Teil mit Waffen. In sechs Fällen wurden bei der Transitfahrt pyrotechnische Erzeugnisse herausgeworfen. In 118 Fällen landeten „Hetzschriften“, Flugblätter, Zeitungen und Broschüren auf DDR-Gebiet. „Versuchte Kontaktaufnahmen zu Sicherungskräften“ wurden in dieser Zeit 89 Mal festgestellt.
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In den S-Bahn-Tunnel eingedrungen: Mehrmals stellen DDR-Grenzer und Transportpolizisten Menschen, die vom unterirdischen Bahnsteig des Bahnhofs Friedrichstraße illegal in den Tunnel eindringen. Am 13. Februar 1984 trifft eine Trapo-Streife 200 Meter vom Bahnhof entfernt auf einen 19 Jahre alten Reinickendorfer und einen 33-Jährigen Mann aus Charlottenburg. Die Sicherungsanlage eines Notausstiegs, an dem sich die beiden West-Berliner zu schaffen machten, hat sie alarmiert. Weil die Männer eine „aggressive Haltung“ einnehmen, wie es heißt, gibt die Streife drei Warnschüsse mit der PM63 ab. Dann schießt sie gezielt. Einer der Männer wird durch zwei Schüsse in den Bauch, der andere durch einen Schuss in den rechten Fuß verletzt.
Immer wieder entgleisen S-Bahnen im Nord-Süd-Tunnel unter dem Osten von Berlin. Dieses Bild des MfS zeigen einen Zug am 2. März 1987. Aufgenommen wurde es hinter der Ausfahrt des Bahnhofs Friedrichstraße.
Immer wieder entgleisen S-Bahnen im Nord-Süd-Tunnel unter dem Osten von Berlin. Dieses Bild des MfS zeigen einen Zug am 2. März 1987. Aufgenommen wurde es hinter der Ausfahrt des Bahnhofs Friedrichstraße.Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR
Der Plan für den Ernstfall: „Geheime Verschlusssache!“ Das steht auf dem Plan der Nationalen Volksarmee, den der Stabschef der 1. Grenzbrigade auf den 8. Februar 1987 datiert. Das achtseitige Dokument erklärt, was auf den U- und S-Bahnverbindungen, die den Osten unterqueren, und anderswo bei erhöhter Gefechtsbereitschaft zu tun ist.
So soll das Grenzregiment 33 auf der Nord-Süd-S-Bahn tätig werden, wenn es so weit ist. In Höhe der Liesenbrücke und im Tunnel südlich vom Potsdamer Platz wird das „Entfernen von einer Schienenlänge“ und das Anbringen von Hemmschuhen gefordert. Außerdem sollen mobile „Thomas-Müntzer-Sperren“ errichtet werden. Andere Trassen sollen ebenfalls in dieser Weise unterbrochen werden. Dazu gehört die S-Bahn zwischen Friedrichstraße und Lehrter Stadtbahnhof. Alles, was dafür erforderlich ist, sollte im Stadtbahnviadukt gelagert werden. Das DDR-Grenzregiment 31 wiederum wird angewiesen, die S-Bahn-Verbindung zwischen Gesundbrunnen und Schönholz und das „Alliiertengleis“, auf dem Züge für das französische Militär rollten, zu kappen.
Damit nicht genug: „Zur völligen Blockierung des S-Bahnverkehrs in Westberlin“ soll der Stadtkommandant gebeten werden, die Abschaltung des Fahrstroms im Umspannwerk Esplanade unweit vom S-Bahnhof Bornholmer Straße zu erwirken.
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