Miles, Tier und Co.: Das dreckige Geschäft mit Car- und Roller-Sharing in Berlin
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Akkordarbeit und voller Körpereinsatz: Im Reinigungszentrum von Miles in Berlin werden Autos rund um die Uhr geputzt. Emmanuele Contini
28.5.2024 von Sophie-Marie Schulz - Überall in Berlin stehen die kleinen Flitzer: immer einsatzbereit, immer sauber. Aber wer reinigt sie, wer lädt die Akkus auf? Ein Streifzug durch die Nacht.
In Berlin teilt sich die Leute nicht nur Wohnungen oder Partner, auch Autos und E-Roller werden gemeinschaftlich genutzt. Ganz selbstverständlich sind in Berlin an jeder Straßenecke verschiedenste Fahrzeuge verschiedenster Größen und Formen zu finden, mietbar für ein paar Minuten oder auch für Stunden. Bei solchen auf Zeit erworbenen Fortbewegungsmittel werden bestimmte Dinge immer erwartet: Die Autos sollen blitzsauber sein und am E-Scooter sollen die Batterie bis zum Anschlag aufgeladen sein.
Doch nur die wenigsten machen sich Gedanken darüber, wer wohl die unsichtbaren Helfer im Geschäft mit dem Car- und Roller-Sharing sind, wann und wie sie arbeiten. Zwei Mitarbeiter der beiden in Berlin gegründeten Unternehmen Tier- und Miles-Mobility haben von ihren Erfahrungen erzählt. Während das eine Unternehmen durch gute Arbeitsbedingungen überzeugt, kämpft Tier scheinbar nicht ohne Grund ums Überleben.
E-Scooter oder Mietwagen?
Wenn man abends oder nachts durch die Straßen von Berlin läuft, dann werden die unsichtbaren Mitarbeiter von Tier plötzlich sichtbar. Dann sieht man einen Sprinter voller E-Roller-Batterien. Junge Männer schleppen die sperrigen Roller in ein Fahrzeug und fahren davon.
Der Wirbel um die neuartigen Fortbewegungsmittel war groß und der Druck unter den Mitbewerbern ebenfalls. Tier, Lime & Co. überboten sich mit Spottpreisen. Aber wie kann ein Unternehmen profitabel bleiben, wenn es dauerhaft Fahrten für 0,1 Cent anbietet? Dann bleibt oftmals nur eine Option: Die Mitarbeiter müssen indirekt dafür zahlen.
Einerseits stieg die Zahl der Unfälle, auch die Kritik an den E-Rollern wurde immer lauter und dutzende Kleinfahrzeuge wurden aus der Spree gezogen, andererseits fingen Mitarbeiter an, über die dortigen Arbeitsbedingungen zu reden. Bis dahin hatte sich kaum jemand gefragt, wie und wann die Akkus der Rolle aufgeladen werden. Die Antwort ist simpel – abends, vor allem nachts. Schnell machte vor Jahren der Begriff des „Juicers“ die Runde.
Es ist die Rede vom schnellen Geld: Die nächtlichen freischaffenden Ladehelfer tauschen die Akkus und können pro geladenem Roller bis zu 5 Euro verdienen. Doch schnell heißt es auch wieder, dass diese Rechnung so nicht stimmt. Fahrtkosten, Strom, Mehrwertsteuer und die Autoversicherung müssen vom Juicer selbst gezahlt werden, sodass in der Regel weniger als 2,50 Euro übrigbleiben. Aber stimmt das wirklich?
Wer mit wachem Blick durch Berlin läuft, der hat die Chance, eine Antwort auf diese Fragen zu bekommen. Wir hatten Glück. Als wir Martin Steiner* in Mitte über den Weg laufen, ist es kurz nach 20 Uhr. Der Kofferraum seines Autos steht offen, denn Steiner muss sich beeilen. Als wir ihn ansprechen und fragen, ob er ein Juicer ist, schüttelt er mit dem Kopf: „Mit denen haben wir nichts zu tun.“
Steiner arbeiten nicht für die Firma Lime, sondern für den aktuellen Marktführer Tier. Das 2018 von Lawrence Leuschner und zwei Freunden gegründete Berliner Unternehmen arbeitet mit anderen Begriffen. Derzeit ist das Unternehmen nach eigenen Angaben in mehr als 260 Städten und 22 Ländern in Europa und dem Mittleren Osten aktiv.
Die elektronischen Roller werden nicht nur auf Fußwegen abgestellt, sondern landen auch in Flüssen und Seen. Marcus Brandt/dpaWenn Steiner über seine Kollegen redet, dann spricht er von den sogenannten Tierpflegern, die kleinere oder größere Arbeiten an den Rollern vornehmen. Mal wird nur der Akku getauscht, mal wird nur eine Schraube oder andere Dinge ersetzt oder repariert. Er kennt sich gut aus. Drei Jahre war er direkt bei Tier angestellt, mittlerweile arbeitet er für ein Sub-Unternehmen, das im Auftrag von Tier die Akkus auswechselt.
„Das Geschäft mit den E-Rollern ist ein dreckiges Geschäft“, sagt Steiner und blickt auf seine verschmutzten Hände. Damit ist aber nicht nur der Austausch der Akkus gemeint, denn diese Arbeit ist schnell getan.
Ständig werden neue Investoren gesucht
„Es hat sich in den letzten Jahren vieles verändert. Zum Glück müssen wir nur noch den Akku tauschen und nicht mehr den ganzen Roller einladen“, sagt er. Eine App leitet die Tierpfleger zu einem ladebedürftigen Roller, dort entfernen sie die Batterie und setzen eine neue ein. „Nach wenigen Sekunden ist alles vorbei“, sagt er.
Dreckig sei das Geschäft aber bis heute, denn Steiner hat den Arbeitgeber nicht ohne Grund gewechselt. Früher, als er noch bei Tier direkt angestellt war, arbeitete er zehn Stunden am Stück. Entweder war er auf der Straße unterwegs oder im Lager. Doch nach und nach hat der Druck zugenommen, erzählt der Tierpfleger. „Das Unternehmen musste profitabel bleiben, hat unglaublich viele Mitarbeiter gekündigt und war ständig auf der Suche nach neuen Investoren“, sagt er.
Tatsächlich wurde Tier zu Bestzeiten mit 1,7 Milliarden Euro Marktwert bewertet. Nach dem rasanten Aufstieg folgte eine Krise auf die andere, sodass das Unternehmen Ende vergangenen Jahres mehr als 400 Stellen streichen musste und mit dem Wettbewerber Dott fusionierte. Aktuell wird das Unternehmen nur noch mit 150 Millionen Euro bewertet. Ein enormer Verlust.
„Man versucht, immer effizient zu arbeiten, aber die Chefetage hat einfach irgendwann den Überblick verloren“, sagt Steiner. Irgendwann fängt das Unternehmen an, Sub-Unternehmen zu beauftragen. In Verträgen wird genau festgelegt, wie viele Akkus pro Monat oder Jahr von dem Drittanbieter aufgeladen werden müssen. Tier ist an diesem Punkt raus. Das beauftragte Unternehmen muss sich um die Mitarbeiter kümmern, Autos mieten, Versicherungen und Steuern bezahlen. Ein guter Deal?
„Das kann und wird von den falschen Leuten sehr schnell ausgenutzt“
„Ich verdiene mittlerweile deutlich besser“, erzählt der ehemalige Tier-Mitarbeiter. Seine Arbeitsstunden haben sich reduziert, sein Gehalt aber nicht. Er sagt aber auch, dass nicht alle Sub-Unternehmen so gut bezahlen und faire Arbeitsbedingungen gewährleisten, wie sein Arbeitgeber. „Tier gibt die Verantwortung komplett ab, indem ein anderer den Auftrag erhält. Das kann und wird von den falschen Leuten sehr schnell ausgenutzt“, sagt er. Wer kein Deutsch spricht und sich nicht gut auskennt, der wird die vorgefundenen Arbeitsbedingungen für normal halten. Steiner sieht sich aktuell nach Alternativen und einem neuen Job um. Der Carsharing-Markt wäre eine Option, erzählt er.
Das eigene Fahrzeug durch ein gemietetes zu ersetzen, ist keine neue Idee. Weltmarktführer Hertz gibt es in den USA seit 1918, Deutschlands Marktführer Sixt wurde sogar schon 1912 gegründet. Doch viele finden solche Anbieter zu teuer, die Anmietung nimmt auch viel Zeit in Anspruch: Die Buchung erfolgt über eine Website, der Schlüssel muss persönlich abgeholt und auf gleichem Wege zurückgegeben werden. Wieso so kompliziert, wenn es auch einfach geht?
Tagsüber in der Uni und abends im Cleaning-Hub: Anna arbeitet seit über einem Jahr für Miles und studiert BWL. Emmanuele ContiniDie Gründer des Unternehmens Miles, Alexander Eitner und Florian Haus, haben genau diese Lücke geschlossen. Sie setzten voll und ganz auf das sogenannte Freefloating-Modell: Sie verzichten auf feste Stationen, die Nutzer können die Autos ganz einfach über eine App mieten. Heute ist das Unternehmen Marktführer in Deutschland, hat mehr als 900.000 aktive Kunden und ist aktuell in elf deutschen und drei belgischen Städten vertreten.
Aber auch hier steckt eine ganze Menge Logistik dahinter, die schnell übersehen wird. In diesem Fall sogar noch deutlich größer und umfangreicher als bei einem E-Roller. Bei dem kann lediglich die Batterie getauscht werden und es gibt keinen Innenraum. Da fällt bei einem Auto deutlich mehr Arbeit an. Im Reinigungszentrum von Miles in Neukölln arbeitet Werkstudentin Anna seit mehr als einem Jahr.
Eine vollständige Innenreinigung dauert knapp 15 Minuten
Von außen sieht das Gelände aus wie eine gewöhnliche Autowerkstatt. Aber sofort fällt auf, dass ausschließlich Fahrzeuge mit der Aufschrift Miles dicht nebeneinander stehen. Eine Gruppe von jungen Leuten steht am Eingang zum Cleaning-Bereich. Die letzte Zigarette wird geraucht, es ist 15 Uhr – Schichtwechsel. Anna ist gerade angekommen und macht sie für die Spätschicht bereit. Sie kommt aus Russland, studiert BWL und verdient sich bei Miles etwas dazu.
„Wir sind hier alle eine große Familie“, sagt sie und läuft in den Innenbereich der Reinigungsabteilung. Auch hier steht ein Auto am anderen. „Hier werden die Autos hereingefahren und geparkt“, erklärt Anna. Anschließend schnappt sie sich ihren Staubsauger, einen Putzlappen und Reinigungsmaterial. Nur knapp 15 Minuten braucht sie für ein Auto. „Gerade haben wir wieder sehr viele Autos mit Tierhaaren, dann kann die Reinigung auch mal länger dauern“, sagt sie.
Staubsauger, Putztuch und Allzweckreiniger: Nur knapp 15 Minuten braucht Anna für ein Fahrzeug. Emmanuele ContiniEigentlich ist die Mitnahme von Tieren nicht gestattet. Da aber die Übergabe des Mietautos nicht persönlich erfolgt und die Nutzer das Fahrzeug einfach irgendwo in Berlin parken können, wird daran kein Gedanke verschwendet. „Ich habe ja zum Glück keine Tierhaarallergie“, sagt Anna und lacht. Routiniert greift sie nach einem Reinigungsgerät für Fußmatten und zeigt, wie man diese am besten und schnellsten wieder sauber bekommt.
„Und wenn ich hier mit allem fertig bin, dann wird das Auto in die Waschanlage gefahren“, sagt sie und zeigt in die nächste Halle, die direkt gegenüber ist. Auch dort wird rund um die Uhr gearbeitet. Denn im Gegensatz zum E-Roller-Business, das überwiegend in der Nacht stattfindet, arbeiten die Miles-Mitarbeiter in drei Schichten. Den ganzen Tag werden Autos abgeholt, gereinigt, getankt und wieder zurückgebracht.
Der Arbeitsaufwand ist deutlich höher und es ist eine ausgefeilte Logistik nötig. Im Gegensatz zu Tier arbeitet Miles aber nicht mit Sub-Unternehmen zusammen und hat sich von Anfang an vollständig auf das Carsharing-Modell fokussiert. Das soll auch so bleiben, erzählt Nora Goette, Leiterin der Öffentlichkeitsarbeit und Kommunikation von Miles in Berlin.
Ähnlich wie der E-Roller-Markt ist auch das Geschäft mit Mietfahrzeugen hart umkämpft. Die Kundschaft klagt über Preissteigerungen. Trotzdem wollen die Unternehmen profitabel bleiben und sicherstellen, dass der Service nicht an Niveau verliert, ungünstig wäre auch wenn steigende Benzin- und Produktpreise auf Kosten der Mietarbeiter gehen.
Arbeit, die nicht auf den ersten Blick zu sehen ist
Denn neben Anna und ihrem Reinigungsteam sind da noch die Mitarbeiter im Call-Center, die Fahrer und viele mehr. Sie alle arbeiten im Verborgenen, müssen aber von den 0,87 Cent pro Kilometer bezahlt werden. Das vergessen viele ganz schnell, wenn sie in eines der Autos springen und es wenig später auch schon wieder verlassen.
Anna und Martin macht es nichts aus, dass ihre Arbeit nicht auf den ersten Blick zu sehen ist. Beide machen ihren Job gern. „Trotzdem wäre es manchmal schön, wenn die Autos nicht ganz so schmutzig abgestellt werden“, sagt Anna. Mittlerweile ist es 16 Uhr. Anna wird noch bis kurz vor Mitternacht viele Autos saugen und die Seitenspiegel vom Staub der Blütenpollen befreien.
*Name geändert.
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