„Mit dem Untergang der DDR wurde alles infrage gestellt“

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  • Ostdeutsche Identität: „Mit dem Untergang der DDR wurde alles infrage gestellt“
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    Pour en finir avec le mythe des „Allemands de l’Est“. Un ingénieur formé à Berlin-DDR raconte sa carrière.

    30.4.2023 von Klaus Ewert - Das Buch „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ von Dirk Oschmann, einem Literaturprofessor aus Leipzig, ist sofort nach seinem Erscheinen zum Bestseller geworden. Und eröffnet eine neue Debatte über ostdeutsche Identität. Gibt es sie überhaupt? Was macht sie aus? Verbergen Menschen, dass sie aus dem Osten kommen? Sind sie stolz drauf?

    Die Berliner Zeitung lässt Menschen mit Ost-Biografie zu Wort kommen. Wollen auch Sie von Ihrer Erfahrung berichten? Wir freuen uns über Zuschriften an briefe@berliner-zeitung.de. Diesmal berichtet Klaus Ewert, Ingenieur im Ruhestand.

    Geboren wurde ich in den 1950er-Jahren im Prenzlauer Berg, nur wenige Querstraßen von der Sektorengrenze zu West-Berlin, ich bin ein echtes Berliner Kind. Meine Großeltern und Tanten wohnten nur wenige Querstraßen entfernt im Osten und in West-Berlin. Die Grenzen waren noch offen, doch die im Westen lebten in einer anderen Welt.

    Als ich nur wenige Meter von der Grenze entfernt eingeschult wurde, waren die Straßen noch offen, doch nur ein Jahr später stand dort eine Mauer und meine Mutter konnte ihren Eltern und Geschwister im Wedding nur von fern zuwinken. Nach den ersten Passierscheinabkommen war der Grenzübergang in der Bornholmer Straße der Ort des Wiedersehens und des tränenreichen Abschieds. Ich wurde ein Kind der geteilten Stadt, in der die Mauer und Westradio und später Westfernsehen zum Alltag und zur gelebten Normalität wurden.

    Als Arbeiterkind sollte ich Abitur machen

    In der Schule waren der Pionierappell zum Schuljahresanfang und FDJ-Versammlung ertragene Routinen, trotzdem trug man die Haare so lang wie möglich, Lehrer und Schüler arrangierten sich. Ich war ein guter Schüler und konnte in die gerade eingeführte Vorbereitungsklasse zur Erweiterten Oberschule (EOS) gehen. Nur fünf Schüler meiner Klasse wurden dafür ausgewählt, das Angebot richtete sich nach der erwarteten späteren Nachfrage an Akademikern. Man musste zu den Besten gehören und ich hatte zusätzlich den Bonus, aus einem Arbeiterhaushalt zu kommen, deren Kinder wurden gefördert. Es gab schon zu viele studierende Kinder aus der sogenannten Intelligenz und wir wollten ein Arbeiter-und-Bauern-Staat sein.

    Mein spätere Frau hatte es schwerer, da ihre Eltern selbstständige Handwerker waren. Sie wurde, trotz ihrer besseren Leitungen, nicht für die EOS zugelassen. Doch das war keine endgültige berufliche Sackgasse. Sie lernte den Beruf des Finanzkaufmanns und machte ihr Abitur an der Abendschule, dieser Weg stand allen offen. So konnte sie sich später ihren Wunsch, Berufschullehrer zu werden, erfüllen. Sie ging ihren Weg trotz Hindernissen und ich meinen, obwohl mir der Weg geebnet wurde.

    Statt Abitur zu machen, wollte ich lieber zunächst einen sicheren soliden Beruf lernen, das Studium war in meinem Arbeiterelternhaus keine Tradition. Als ich die Abiturlaufbahn verlassen wollte, schlug das Kreise bis zum Bezirksschulrat und man versuchte, mich als eins der wenigen Arbeiterkinder zu halten. Umsonst. Ich lernte Elektromonteur und die Berliner S-Bahn von oben und unten kennen.
    Der Qualifizierungswunsch eines Werktätigen

    Während der nachfolgenden Armeezeit war ich bei den Baupionieren, nicht zu verwechseln mit den „Spatensoldaten“, die den Dienst an der Waffe verweigerten. Die Baupioniere arbeiteten wie normale Bauarbeiter und bauten unterirdische Bunker zum Schutz der sozialistischen Heimat. Hier war die Planerfüllung wichtiger als der Paradeschritt. Man erkundigte sich nur nach meinen familiären Westkontakten, die jetzt unerwünscht waren, und trotz der geheimen Bauten war meine Berliner Grenzerfahrung kein Hindernisgrund für diesen „Ehrendienst“.

    Danach bewarb ich mich an einer Ingenieurschule und hatte mit meiner Berufsausbildung dafür die besten Voraussetzungen. Mein Betrieb war nicht glücklich über meinen Entschluss, doch trotz „Fachkräftemangel“ konnten sie nicht Nein sagen, der Qualifizierungswunsch eines Werktätigen ging vor. Nach dem Studium arbeitete ich als Entwicklungsingenieur für elektrische Antriebe in einem Großbetrieb, der das gesamte Land mit elektrischen Antrieben versorgte. Die Hinterlandmauer des „antifaschistischen Schutzwalls“ ging direkt durch das Haus meines neuen Arbeitsplatzes. Ich hatte einen unverbauten Blick in den Westen mit dessen Alltag, die Nachbarschaft zur Berliner Mauer begleitete mich weiterhin.

    Ich war zahlendes Mitglied der Gewerkschaft (FDGB), der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft (DSF) und als Ingenieur auch der Kammer der Technik (KdT), ansonsten ließ man die normalen Beitragszahler in Ruhe ihre Arbeit machen. Mitglied der SED musste man nicht sein, außer, man wollte in der Karriereleiter aufsteigen und leitender Angestellter werden; ich war mit meiner einfachen Position zufrieden. Parallel zu meiner Arbeit machte ich noch ein Fernstudium an der TU Dresden, auch hierzu musste mein neuer Arbeitgeber seine Zustimmung geben, mit der staatlich verordneten Förderung zur Qualifizierung konnte er nicht Nein sagen.

    Nach mehreren Berufsabschlüssen hatte ich auf Umwegen mein Diplom in der Tasche und jetzt konnte alles seinen sozialistischen Gang gehen, doch das Ende dieses Weges war bereits abzusehen.
    Der Großbetrieb zerfiel in Profit-Center

    Mit dem unvorhergesehenen Fall der Mauer konnte ich zum ersten Mal meinen Arbeitsort von der Westseite sehen. Mein Großbetrieb mit Tausenden Angestellten begann in immer kleinere Profit-Center zu zerfallen. Blütenträume von einem großen westlichen Konzernnamen am Werkstor lösten sich schnell in Luft auf, genauso wie unsere staatlichen Leiter. Konzerne in den alten Bundesländern, die auf dem gleichen Geschäftsfeld wie mein Betrieb tätig waren, boten sich als attraktivere neue Arbeitgeber an. Ganze Vertriebsabteilungen wechselten mitsamt den Kundendaten und auch zu unseren alten staatlichen Leitern hatte man in der Marktwirtschaft keine Berührungsängste, hatten sie doch bereits ihre Führungsqualitäten bewiesen.

    Anders sah es im neuen öffentlichen Dienst aus. Zwar hatte meine Frau das Glück, dass die neue gesamtdeutsche Finanzwirtschaft dringend zusätzliche Arbeitskräfte brauchte, doch sie wurde zunächst nur in eine West-Berliner Berufsschule abgeordnet, ihre alte Ost-Berliner Schule war überflüssig geworden und wurde abgewickelt. Sie musste als Leiharbeitskraft ein nachträgliches Studium absolvieren und mehrere „Stasiüberprüfungen“ durchlaufen, ehe sie wieder eine Festanstellung bekam.

    Es waren die wilden Nachwendezeiten, in denen keiner sicher sein konnte, seine Arbeit zu behalten. Westliche Marketingexperten bekamen in meinem Betrieb die Aufgabe, den Altbestand der Ingenieure auf die neue Marktwirtschaft vorzubereiten, auch wenn sie von Industrieautomatisation keine Ahnung hatten. Es waren Vorbereitungslehrgänge auf die bevorstehende Arbeitslosigkeit. Doch ich hatte Glück und konnte mich in meinem Betrieb neu bewerben, der im „Ostgeschäft“, dank Hermesbürgschaften, weiter tätig sein konnte, Ingenieure wurden für diese Aufträge gebraucht. Mein alter Arbeitsort wurde aufgegeben, das Grenzland ist inzwischen neu bebaut.

    Es sind keine Narben der Teilung zurückgeblieben. Außer dem jetzt in einer Häuserflucht eingebauten Haus, in dem ich jahrelang tätig war, erinnert nichts mehr an meine ersten Berufsjahre. Nach einem gescheiterten „Management-Buy-out“ (MBO-Konzept) bemächtigten sich über die Treuhand neue private Investoren aus den alten Bundesländern meines Betriebes und wirtschafteten ihn im Laufe weniger Jahre von mehreren Tausend auf einige Hundert Beschäftige herunter. Es waren Glücksritter, die ihr Glück im Osten Deutschlands machten. Ihr Ende in meinem Betrieb erlebte ich nicht mehr, da meiner gesamten Entwicklungsabteilung vorher gekündigt wurde.
    Kündigung kurz vor der Rente

    Ein damals noch unabhängiger Schienenfahrzeughersteller ergriff die Chance und holte diese kleine Mannschaft an Bord für eigene Produktentwicklungen. Es war nur ein kurzes Zeitfenster, denn bald darauf wurde auch er in einen internationalen Konzern eingegliedert. Die unbegrenzten Freiheiten in der technischen Entwicklung wurden mit der Größe des Konzerns immer kleiner. Aus dem volkseigenen Betrieb war eine AG mit vielen GmbHs geworden, die Direktoren hießen jetzt Geschäftsführer oder Präsidenten, das Kollektiv war ein Team geworden, die Arbeitsberatung hieß Meeting, die Titel meiner Position wechselten laufend und es war en vogue englisch zu sprechen.

    Nach wenigen Jahren wechselte ich aus eigenem Antrieb nochmals meinen Arbeitgeber und arbeitete wieder mit meinen früheren Mitarbeitern zusammen, die in einer kleinen mittelständischen Firma überlebt hatten. In meinem Berufsfeld sind Anbieter und Kunden überschaubar, man sieht sich hier immer zweimal. Ich hatte jetzt wieder mehr Freiheiten in meiner Tätigkeit und hoffte auf eine Arbeit bis zur Rente. Doch dann wurde auch diese Firma durch einen Konzern aufgekauft und ich erhielt meine Kündigung kurz vor meiner Rente.

    Die Arbeitslosigkeit ging zwar nicht an mir vorbei – doch ich hatte alles in allem Glück gehabt. Ich war in einer geteilten Stadt an der Frontline des Kalten Krieges groß geworden, in der sich die Menschen in Ost und West mit der Teilung arrangiert hatten, durchlief ein einheitliches DDR-Schulsystem von der Grundschule bis zum Studium, arbeitete in einem sozialistischen Großbetrieb und machte das Beste aus den Mängeln der Planwirtschaft. Mit dem Untergang der DDR wurde alles infrage gestellt, die Jahrzehnte lang erworbenen Wertvorstellungen waren veraltet, die D-Mark bestimmte jetzt den Wert einer Sache, und wer sich mit dem untergegangenen Staat zu sehr angedient hatte, bekam ein Kainsmal.

    Nach dem Beitritt zur Bundesrepublik fühlte ich mich so sehr als DDR-Bürger, wie ich es während meiner Zeit in diesem verschwundenen Staat nie empfunden hatte. Wir alle waren ausgewandert, ohne das Land verlassen zu haben. Ich erlebte den Untergang der ostdeutschen Industrie, genoss eine kurze Blütezeit unbeschränkter Ingenieurtätigkeit in der Marktwirtschaft und lernte die Bürokratie in einem privatwirtschaftlichen Konzern kennen. Es war ein Leben unter zwei Gesellschaftssystemen mit ihren Licht- und Schattenseiten; das Leben schrieb den Lehrplan für diese Schule. Das haben ehemalige DDR-Bürger unseren bundesdeutschen Mitbürgern und später Geborenen voraus und deshalb sehen sie diese neue Zeit auch mit anderen Augen

    #DDR #travail #carrière